Ein wilder Strom

Von European-Cultural-News

Der belgische Choreograf Wim Vandekeybus erntete mit seinem „Revival: In Spite of Wishing and Wanting“, das er ursprünglich 1999 schuf, beim ImpulsTanz Festival Begeisterungsstürme. Wie Anne Terese De Keersmaeker ist auch er mit zwei Stücken dieses Jahr beim Festival vertreten, zwischen welchen ein Produktionszeitraum von einigen Jahrzehnten liegt. In „Speak low if you speak love“ aus dem Jahr 2015 erkundet er mit seiner Gruppe Ultima Vez die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen menschlichen Begehrens in seiner neuen Produktion.

Vandekeybus bezieht sich dabei auf vielfältige literarische Vorlagen. „Der Titel des Stückes stammt von Shakespeare, wurde später vom Komponisten Kurt Weill aufgegriffen und von Jazzlegenden wie Billie Holiday und Ella Fitzgerald gesungen“, schrieb er selbst in einem Text. In dieser Arbeit zeigt er keine romantische Liebesverklärung, sondern die körperliche, auf den Eros beruhende Anziehung zwischen den Menschen – auch in brachialen Formen. Von Verführungsszenen, die Lolita-Charakter haben, bis hin zu ekstatischen mit Orgiencharakter reicht sein Spektrum. Die vielen Formen von Liebe, die hier vorgetanzt werden, sind oft hart an der Kippe zur Gewalt angesiedelt. Dementsprechend agiert das Ensemble. Es wird gesprungen, gelaufen, weggestoßen und aufgefangen, es wird gebrüllt und gekämpft, dass einem der Atem stockt. Aber auch der Schmerz und die Wut, die zurückgewiesene Liebe auslösen, wird nachvollziehbar.

Jamil Attar, Livia Balazova, Chloé Beillevaire, David Ledger, Tomislav English, Nuhacet Guerra Segura, Sandra Geco Mercky und Maria Kolegova müssen an dieser Stelle explizit namentlich genannt werden, denn die Leistung, die sie bei dieser Vorstellung abliefern, ist grandios. Vandekeybus verlangt von ihnen eine physische Präsenz, die ans Äußerste geht.

Aber es ist nicht alleine die Choreografie, die vor Einfällen nur so strotzt, die den Abend so außergewöhnlich und großartig macht. Wesentlichen Anteil daran hat die Live-Musik von Mauro Pawlowski und seinen Musikern, sowie Tutu Puoane, einer in klassischer Musik ausgebildeten Sängerin aus Südafrika. Sie ist es, die immer wieder versucht, in das zum Teil unbändige Treiben etwas Ruhe und Ordnung zu bringen. Aber es gibt nur ein Objekt, das zumindest zeitweise größere Attraktion hat als die Suche nach Partnerinnen und Partnern. Ein Sack voller Münzen, am Boden verstreut, fesselt die Aufmerksamkeit zumindest kurzzeitig.

Die Band, die größtenteils hinter beinahe durchsichtigen, bunten Vorhängen zu sehen ist, bietet einen Soundtrack, der auf dem gestalterischen Höhepunkt mit Heavy-Metal-Klängen den Saal beschallt.

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Eines der Merkmale von Vandekeybus ist sein Humor, mit dem er auch die toughesten Szenen im Nu durchbricht. So lässt er an einer Stelle den gesamten Percussionbau von Tänzern nach vor auf die Bühne und später wieder ins Off ziehen. Eine weiße Hose, die immer und immer wieder die Blöße einer Tänzerin freilegt, wird zum Slapstik-Accessoire und wenn ihm das Treiben doch zu bunt wird, verbarrikadiert er einen der Tänzer kurzerhand in einen Sarg. Dem Ruf einer Sirene folgt einer der Tänzer auf einem nur mit einem Stoff am Boden improvisierten Schiff, auf dem auch eine lebendige Galionsfigur nicht fehlen darf. Eine köstliche Idee, an der das Publikum hörbar Spaß hat. Vandekeybus belässt es nicht bei hetero Paarungen. Die erotische Anziehung kennt kein rosarotes oder blaues Mascherl und ist bei ihm auch ein Gruppenphänomen. Das zeigt sich auch in der Kostümwahl, durch die das gesamte Ensemble in einer Szene in roten, sommerlichen Frauenkleidern auftritt.

Immer wieder fischt der ein oder die andere aus der Truppe mit einem weißen Seil ganz in Anglermanier im Publikum nach möglichen Partnern. So sehr der Hinweis mit dem Holzhammer kommt, auch er macht Spaß.

„Speak low if you speak love“ ist eine höchst zeitgeistige Umsetzung eines der ältesten Themen der Menschheit und damit auch des Theaters. Vandekeybus verknüpft antike Mythen und spätere literarische Verweise mit Emotionen, die keinen Zeitbezug haben, immerwährend das Spiel zwischen den Geschlechtern bestimmen. Die brillante Choreografie, die sich wie ein großer, wilder Strom durch den Abend zieht, hat das Zeug zu einem wahren Klassiker. Mehr kann man von einer Tanzproduktion nicht erwarten. Fabelhaft, großartig, umwerfend, sehenswert.