Berlin in Sicht. Die Stadt liegt in der Abendsonne. Ich sehe den Fernsehturm, um den Walter so gekämpft hat. Ich freue mich noch immer, dass ich ihn dabei unterstützte. Er hatte dabei einen schweren Stand. Aber schließlich doch die Mehrheit.
So sah es unter der »Diktatur« aus, in der Demokratie, die sozialistisch war.
Der Turm steht immer noch auf Berliner Boden. Wie ich hörte, soll noch die »Eigentumsfrage« von Grund und Boden geklärt werden. Na, daran haben wir wohl damals nicht gedacht. Ich weiß auch nicht, wem er gehört. Früher gehörte er dem Volk.
Diese Sätze schreibt Erich Honecker am 29. Juli 1992. An dem Tag, an dem er im Gefängnis Berlin Moabit in Untersuchungshaft genommen wurde. Heute gehört Fernsehturm auf dem Berliner Alexanderplatz übrigens der Deutschen Funkturm GmbH, die wiederum eine Tochtergesellschaft der Deutschen Telekom ist.
Erich Honecker, von dem immer wieder behauptet wird, der letzte Diktator auf deutschem Boden gewesen zu sein – tatsächlich war er der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und damit praktisch der Vorsitzende der DDR. Wie mächtig er in dieser Funktion tatsächlich gewesen ist, vermag ich nicht einzuschätzen – nicht nur, weil ich als Wessi ohnehin nicht erlebt habe, wie die DDR tatsächlich funktioniert hat. Ich weiß auch nicht, wie mächtig unsere Bundeskanzlerin tatsächlich ist. Hat sie tatsächlich diese Machtfülle, die ihr derzeit zugeschrieben wird? Oder wird jetzt nur medial eine Art Über-Merkel aufgebaut, damit man ihr die Schuld geben kann, wenn sich demnächst heraus stellt, dass weder der Euro, noch der deutsche Wohlstand für die Massen gerettet werden kann? Wir werden sehen. Aber sicher ist, dass man lieber das Ansehen auch einer CDU-Kanzlerin zerstört, als zuzulassen, dass der Kapitalismus in Frage gestellt wird. Schließlich hat sich der Westen die Zerstörung der DDR auch einiges kosten lassen. Und so komme ich wieder zu Erich Honecker, der heute 100 Jahre alt geworden wäre.
Der Fernsehturm am Alexanderplatz (mit Abendsonne und Regenbogen)
Als West-Jugendliche habe ich Honecker in erster Linie als Witzfigur erlebt. Honnie – das war dieser kleine steife Typ mit der komischen Brille im Anzug, bei dem man sich wiehernd auf die Schenkel klopfte, sobald er den Mund auftat und etwas wie “Dtsche DMokratsche ReBlik” rauskam. Der Typ, der laut Udo Lindenberg heimlich mal die Lederjacke anzog und auf dem Klo Westradio hörte. Immerhin: Er ließ den kleinen Udo dann doch im Palast der Republik singen. Das fand ich dann noch cooler als Udo Lindenberg selbst. Insofern konnte Erich Honecker kein totaler Unmensch sein. Aber für Erich Honecker interessierte ich mich ebensowenig wie für meine eigenen Staatschefs, ob die nun Helmut Schmidt oder Helmut Kohl oder sonst wie hießen – über Birne konnte man immerhin auch wunderbar Witze machen. Denn komisch geredet hat der auch. Und jene geistig-moralische Wende eingeleitet, die nicht nur Deutschland demnächst so richtig ruinieren wird.
Interessant wurde das mit Erich Honecker, weil er plötzlich nicht mehr ein Staatschef wie so viele andere auch gewesen sein sollte, sondern ein Verbrecher. Ein Diktator. Der Chef eines Unrechtsstaates. Da frag ich mich doch, was an der DDR denn schlimmer gewesen sein soll als, an sagen wir mal: Saudi Arabien? Die DDR war keine absolutistische Monarchie, in der Frauen und Ungläubige nichts zu sagen haben. Aber wird man Abdullah al Saud irgendwann den Prozess machen, weil er nach westlichen Maßstäben kein adäquater Demokrat war? Wohl kaum. Denn der Kapitalismus funktioniert in Saudi Arabien. Und das ist besser als jedes verdammte Menschenrecht.
Der Kommunist Erich Honecker war einer derer, die einen Teil des heiligen deutschen Territoriums, Verzeihung: blutigen Bodens, vor dem Zugriff des Kapitals bewahren wollten. Deshalb war er ein Feind. Deshalb sperrte man ihn in den Knast, in den ihn schon die Nazis gesperrt hatten. Das muss man sich mal überlegen: Einer, den die Nazis in den dreißiger Jahren zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, weil er Kommunist war, wird von der westdeutschen Justiz in den neunziger Jahren wieder eingesperrt, weil er noch immer Kommunist ist. Da kann man schon den Eindruck bekommen, dass sich nicht allzu viel geändert hat. Auch ohne die Morde der NSU.
Neugierig geworden las ich die letzten Aufzeichnungen, die Erich Honecker für seine Frau Margot im Gefängnis schrieb. Ja, sie haben mein Bild von Erich Honecker nachhaltig verändert. Mag sein, dass er in gewisser Weise unbelehrbar war. Und ich finde durchaus, dass er als Staatschef der DDR vieles offenbar nicht richtig gut gemacht hat (was ich aber sämtlichen westdeutschen Staatschefs auch unterstelle). Wenn eine relevante Mehrheit der Leute im Lande nicht kapiert, was das Gute an ihrem Staat ist, dann ist irgendetwas furchtbar falsch gelaufen. Offenbar haben die DDR-Oberen ihren Leuten nicht klar machen können, warum sie das alles tun. Das ist traurig. Und die Tatsache, dass an der Grenze Menschen erschossen wurden, die einfach mal nachsehen wollten, wie das wo anders so ist, ist ein Armutszeugnis für die amtierenden Realsozialisten. Keine Frage. Nun ist es aber nicht so, dass der Kapitalismus keine Opfer fordern würde. Wie viele Menschen werden allein in diesem Jahr verhungern, weil sie nicht genug Geld haben, um sich zu ernähren?! Wie viele Menschen sterben an Krankheiten, die eigentlich heilbar sind, nur weil sie sich selbst die einfachste Behandlung nicht leisten können? Wie viele müssen einfach deshalb sterben, weil das herrschende System keine Verwendung für sie hat, weil sie “überflüssig” sind?!
Und noch immer kommen ständig Menschen an Grenzen ums Leben – ob das nun Mexikaner sind, die versuchen, in die USA zu gelangen oder Afrikaner, die im Mittelmehr ertrinken oder verdursten – aber kein amerikanischer Präsident und auch kein europäischer Staatschef müssen fürchten, für die von ihnen verschuldeten Toten jemals zur Verantwortung gezogen zu werden.
Aber Erich Honecker schon. Ihm warf die Schwurgerichtsanklage vom 12. Mai 1992 vor, als Vorsitzender des Staatsrats und des Nationalen Verteidigungsrates der ehemaligen DDR gemeinsam mit mehreren Mitangeklagten, in der Zeit 1961 bis 1989 am Totschlag von insgesamt 68 Menschen (ich wüsste gern, wie diese Zahl zustande gekommen ist, denn an der Grenze sind angeblich doch noch viel mehr Menschen umgekommen) beteiligt gewesen zu sein, indem er als Verantwortlicher doch angeordnet habe, die Grenzanlagen um West-Berlin und die Sperranlagen hin zur Bundesrepublik auszubauen, damit die Leute nicht mehr abhauen können. Wie gesagt, ich persönlich finde das schlimm – wie ich auch unerträglich finde, dass noch immer Menschen sterben, die versuchen, Grenzzäune zu überwinden. Der Westen hat damals ja auch keineswegs deeskaliert, in dem er einfach mal akzeptiert hätte, dass es ein paar Staaten gibt, die es halt anders versuchen als über freien Markt und die Benutzung ihrer Insassen durch das Kapital. Da war die Angst dann doch zu groß, dass den Leuten das am Ende noch gefällt.
Ich selbst bin auch immer wieder versucht, die Paranoia der SED-Leute lächerlich zu finden – aber sie war berechtigt. Man muss sich nur mal anhören, was republikanische Präsidentschaftsbewerber (und US-Präsindenten überhaupt, und zwar nicht nur die republikanischen) so ablassen. Oder sich die ganzen gut geförderten SED-Opfer-Gedenk-Veranstaltungen ansehen. So im Nachhinein könnte man glatt annehmen, die SED hätte mehr Opfer gefordert als DDR überhaupt Einwohner hatte. Jedenfalls sehr viel mehr Opfer als die (deutschen!!!) Nazis. Klar soweit: Die Nazis haben die Kapitalisten ihr Ding machen lassen. Das gibt natürlich Bonus.
Und so stellt Erich Honecker in seinen Aufzeichnungen fest: “Nicht ein Nazirichter wurde damit rechtskräftig in der Bundesrepublik verurteilt. Nicht einer. Und diese Justiz wird nun über mich und meinesgleichen zu Gericht sitzen.” (S. 15).
Und diese Justiz erfüllt in den kommenden Monaten sämtliche Erwartungen. Während Honeckers Anwälte um die Wahrung der fundamentalen Menschenrechte ihres bereits schwerkranken Mandanten kämpfen, richtet die Siegerjustiz über die DDR. Honecker: “Der Prozess soll zwei Jahre dauern. Solange ich lebe, werde ich mich offensiv vereidigen. Dies bin ich in erster Linie den Bürgern der DDR schuldig.” (S. 31) und später “Die blöde Krankheit beschäftigt mich doch mehr, als ich mir anmerken lassen will. Es ist ein Warten auf den Tod, der nach den Erklärungen, die man mir gab, mit großem Schmerz kommen soll. Ja, an was soll man da noch denken? An einen guten Abgang für die Nachwelt? Der ist natürlich nötig, da zu viele schon über Jahre bestrebt sind, mich zu verleumden und schlechtzumachen und meine Arbeit herabzuwürdigen. Deshalb ist es wichtig, wenn es zum Prozess kommt, dass ich dort meine Position klarmache. Das wird vermutlich meine letzte Arbeit sein (…) Man zielt auf mich, meint aber die DDR.” (S. 117f.)
Interessant auch ein Detail am Rande: “Im Radio melden sie, dass Gorbatschow nach Berlin kommt, um Ehrenbürger der Stadt zu werden. Welch doppelbödige Moral ist hier am Werke? Der ehemalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wird von denselben Leuten ans Herz gedrückt, die einen anderen Generalsekretär einsperren. Ich hoffe, dass die Bürger der Hauptstadt der DDR ihm für seinen Verrat angemessen danken. Für die Zerschlagung der Betriebe, die Beseitigung der Arbeitsplätze, für die Massenarbeitslosigkeit, für die Einsetzung der Wessis in alle Ämter der neuen Bundesländer, für den Ruin der ostdeutschen Wirtschaft, die Abwicklung der Akademiker usw.” (Aufzeichnung vom 11. August, S. 36). Aber auch klar: Gorbi war ja der gute Kommunist, derjenige, der die Sowjetunion ruiniert und den Kapitalisten quasi auf dem Silbertablett überreicht hat. Und für die Deutschen als Filetstück die DDR.