Der letzte Fall von Eva Saalfeld (Simone Thomalla) und Andreas Keppler (Martin Wuttke) ist ein irrer Fall am Rande des Wahnsinns. Mit viel Liebe zum Detail geschrieben, mit voller Inbrunst gespielt. Alle Beteiligten hatten Bock auf das, was sie machen: Sowohl vor als auch hinter der Kamera, vom Nebendarsteller bis zum Verantwortlichen für die musikalische Untermalung. Da stimmt beinahe alles. Ich hätte das nie zu wagen gesagt, aber: Keppler und Saalfeld fehlen mir nun doch ein bisschen. In all der Zeit wäre so viel möglich gewesen – wenn man sie nur gelassen hätte.
Gleich die erste Szene macht deutlich, das in den folgenden anderthalb Stunden keine kriminalistische Magerkost geboten wird. Der behaarte Keppler sitzt fast komplett nackt in seiner Küche, der Kühlschrank ist ausgelaufen, die Bude steht unter Wasser. „Der Kühlschrank ist von meiner Mutter – das ist ihre Rache aus dem Grab,“ erzählt er uns. Ja, Keppler redet mit uns, wie in House of Cards oder wie im Ausnahme-Tatort „Im Schmerz geboren“. Es ist Sonntag, lässt er uns wissen. Und Keppler sinniert über den Sinn des Lebens: „Was ist der Sinn des Lebens? Soll das alles ein Scherz sein oder eine Tragödie?“ Keppler, im folgenden Verlauf von (überflussigen) Tagträumen geplagt, scheint seine Berufsauswahl in Frage zu stellen. Dann aber Szenen-Schnitt.
Aus dem Off ertönt das großartige Toxi-Lied von Laila Negra. „Ich möchte so gern nach Hause gehen, ai ai ai“, heißt es dort in einer unnachahmlichen Art un Weise. Eine Kamerafahrt über eine Leipziger Wohnsiedlung. Ein Mann, augenscheinlich ziemlich nervös, sitzt auf dem Klo, zündet sich eine Zigarette an, vernichtet sie anschließend im Klo. Der Brillenträger geht hinunter, begrüßt im Wohnzimmer eine anwesende Freundes-Meute, küsst seine Frau. Wenig später sind die Gäste weg, das sonntägliche Fest ist vorüber, der Mann flüstert seiner Frau ins Ohr: „Ich hab sie geholt, sie ist hier.“ Gemeint ist die 8-jährige Magdalena Harries, Tochter von stark religiösen Eltern. Gekidnappt haben Wolfgang, der Brillenträger, und Monika, seine Frau, das kleine Mädchen. In einer alten,verruchten Gasse. Kepler, Saalfeld und Team finden bloß Spuren, die darauf hindeuten: Der Täter ist ein Nieser. Gesucht fortan: Der Nieser von Leipzig...
Magdalena möchte so gerne nach Hause gehen. Eine Entführungsstory also, bislang liest sich das alles wenig spektakulär. Wie Drehbuchautor Sascha Arango und Regisseurin Claudia Garde das Ganze aber verpacken, ist jedoch vorzüglich und sucht seinesgleichen. Sie zeichnen die Kindheit der Entführten klipp und klar: Sonntags, wenn alle Welt – selbst mit acht Jahren – mit dem Smartphone herumspielt und sich erholt von der Woche, geht das Mädchen zur Schule und gießt dort ein Beet. Ihre Mutter bezeichnet die Tochter als Geschenk Gottes, arbeitet ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission, und dazu auch im Kraftwerk; der Vater ist taub, völlig verstört und arbeitet in der Wäscherei eines Krankenhauses. Beide sind Mitglieder eines Gebetskreises, leider geht man auf den Hintergrund nicht näher ein. Aber es ist durchaus nachvollziehbar, aus welchen Verhältnissen Magdalena stammt. Ihre Mutter, die für ihr Leben gerne Rosinenbrot backt, sorgt sich ums Kind. Und Keppler, der gefühllose, kommt letztlich bloß zum Schluss: „Stell dir vor, du musst als Kind zwischen solchen Betbrüdern aufwachsen.“
Ebenso nachvollziehbar ist das Päärchen auf der Gegenseite: Wolfgang ist Lehrer an einer Gesamtschule, neben seiner heimlichen Zigarette auf dem Klo - deswegen das dauernd benutzte Nasenspray - macht er in der Garage Klimmzüge, wechselt brav am Hauseingang die Straßenschuhe mit Hausschlappen. Angedeutet wird, dass der Nieser und seine Frau – die Besitzerin von großen Lippen – früher mal fast ein Kind bekommen hätten, aber es nie geklappt hat. Daher musste Magdalena daran glauben. Mit Masken vorm Gesicht begegnen sie dem Kind, haben für sie heimlich im allerletzten Kellerloch ein kleines Ikea-Wohlfühlparadies aufgebaut, zu Essen gibt’s Banane und Schokopudding. Also ein fast perfektes Familienglück.
Man merkt, wie Arango Bock hatte, sich zwei komplett irre, durch und durch überzeichnete Familienverhältnisse auszudenken – und wie die Darsteller widerrum Lust auf ihre Figuren hatten. Jens Albinus und Susanne Wolff brillieren als Entführer-Paar, Alexander Scheer und Picco von Groote auf der Gegenseite. Dazu die Kamera, der Ton, die Musik: Da passt alles. Und selbst Thomalla und Wuttke können mal überzeugen.
Das liegt auch daran, dass sie und ihre Figuren sich endlich mal ausleben dürfen. Keppler steigt mit Saalfelds Nachbarin – die Nebenan-Uschi – ins Bett, weil seine Wohnung ja unbewohnbar ist. Die Wände in Leipzig sind so dünn, Saalfeld hört alles mit. Sie ist rasend eifersüchtig. Fortan ist Krieg angesagt – ein köstlicher Krieg. Das gipfelt in einem unvergleichlichen, total unterhaltsamen Kantinen-Wortgefecht der beiden. Sie beschimpfen sich als Versager und als schwarzes Loch. „Mit uns ist es vorbei, Aus und Ende.“ „Mit uns kann nichts mehr zuende gehen, es ist ja nichts mehr da!“
Endlich spielt man das Potenzial des Rollen-Geflechts aus. Und irgendwie kann man das auch als kleinen Seitenhieb auf die Kritik am Leipziger Tatort-Schauplatz verstehen. Es war echt nicht mehr viel da. Zuletzt. Doch mit diesem Abgesang ist alles auf dem Kopf gestellt. Es hätte so viel da sein können. Wenn die Bücher, wenn die Inszenierung, wenn der Wille da gewesen wäre. Dann hätte es weniger Scherze oder Tragödien gegeben - und mehr große Abende wie diesen.BEWERTUNG: 09/10Titel: Tatort: Niedere InstinkteErstausstrahlung: 26.04.2015Genre: KrimiRegisseur: Claudia GardeDarsteller: u.a. Simone Thomalla, Martin Wuttke, Maxim Mehmet, Jens Albinus, Susanne Wolff, Alexander Scheer, Picco von Groote
Gleich die erste Szene macht deutlich, das in den folgenden anderthalb Stunden keine kriminalistische Magerkost geboten wird. Der behaarte Keppler sitzt fast komplett nackt in seiner Küche, der Kühlschrank ist ausgelaufen, die Bude steht unter Wasser. „Der Kühlschrank ist von meiner Mutter – das ist ihre Rache aus dem Grab,“ erzählt er uns. Ja, Keppler redet mit uns, wie in House of Cards oder wie im Ausnahme-Tatort „Im Schmerz geboren“. Es ist Sonntag, lässt er uns wissen. Und Keppler sinniert über den Sinn des Lebens: „Was ist der Sinn des Lebens? Soll das alles ein Scherz sein oder eine Tragödie?“ Keppler, im folgenden Verlauf von (überflussigen) Tagträumen geplagt, scheint seine Berufsauswahl in Frage zu stellen. Dann aber Szenen-Schnitt.
Aus dem Off ertönt das großartige Toxi-Lied von Laila Negra. „Ich möchte so gern nach Hause gehen, ai ai ai“, heißt es dort in einer unnachahmlichen Art un Weise. Eine Kamerafahrt über eine Leipziger Wohnsiedlung. Ein Mann, augenscheinlich ziemlich nervös, sitzt auf dem Klo, zündet sich eine Zigarette an, vernichtet sie anschließend im Klo. Der Brillenträger geht hinunter, begrüßt im Wohnzimmer eine anwesende Freundes-Meute, küsst seine Frau. Wenig später sind die Gäste weg, das sonntägliche Fest ist vorüber, der Mann flüstert seiner Frau ins Ohr: „Ich hab sie geholt, sie ist hier.“ Gemeint ist die 8-jährige Magdalena Harries, Tochter von stark religiösen Eltern. Gekidnappt haben Wolfgang, der Brillenträger, und Monika, seine Frau, das kleine Mädchen. In einer alten,verruchten Gasse. Kepler, Saalfeld und Team finden bloß Spuren, die darauf hindeuten: Der Täter ist ein Nieser. Gesucht fortan: Der Nieser von Leipzig...
"Ich hab sie geholt, sie ist hier!" Der Nieser (Albinus, r.) und seine Frau (Wolff, l.) ©MDR/Saxonia Media/Junghans
Magdalena möchte so gerne nach Hause gehen. Eine Entführungsstory also, bislang liest sich das alles wenig spektakulär. Wie Drehbuchautor Sascha Arango und Regisseurin Claudia Garde das Ganze aber verpacken, ist jedoch vorzüglich und sucht seinesgleichen. Sie zeichnen die Kindheit der Entführten klipp und klar: Sonntags, wenn alle Welt – selbst mit acht Jahren – mit dem Smartphone herumspielt und sich erholt von der Woche, geht das Mädchen zur Schule und gießt dort ein Beet. Ihre Mutter bezeichnet die Tochter als Geschenk Gottes, arbeitet ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission, und dazu auch im Kraftwerk; der Vater ist taub, völlig verstört und arbeitet in der Wäscherei eines Krankenhauses. Beide sind Mitglieder eines Gebetskreises, leider geht man auf den Hintergrund nicht näher ein. Aber es ist durchaus nachvollziehbar, aus welchen Verhältnissen Magdalena stammt. Ihre Mutter, die für ihr Leben gerne Rosinenbrot backt, sorgt sich ums Kind. Und Keppler, der gefühllose, kommt letztlich bloß zum Schluss: „Stell dir vor, du musst als Kind zwischen solchen Betbrüdern aufwachsen.“
Ebenso nachvollziehbar ist das Päärchen auf der Gegenseite: Wolfgang ist Lehrer an einer Gesamtschule, neben seiner heimlichen Zigarette auf dem Klo - deswegen das dauernd benutzte Nasenspray - macht er in der Garage Klimmzüge, wechselt brav am Hauseingang die Straßenschuhe mit Hausschlappen. Angedeutet wird, dass der Nieser und seine Frau – die Besitzerin von großen Lippen – früher mal fast ein Kind bekommen hätten, aber es nie geklappt hat. Daher musste Magdalena daran glauben. Mit Masken vorm Gesicht begegnen sie dem Kind, haben für sie heimlich im allerletzten Kellerloch ein kleines Ikea-Wohlfühlparadies aufgebaut, zu Essen gibt’s Banane und Schokopudding. Also ein fast perfektes Familienglück.
"Du bist schwer wie ein Pferd!" ©MDR/Saxonia Media/Junghans
Man merkt, wie Arango Bock hatte, sich zwei komplett irre, durch und durch überzeichnete Familienverhältnisse auszudenken – und wie die Darsteller widerrum Lust auf ihre Figuren hatten. Jens Albinus und Susanne Wolff brillieren als Entführer-Paar, Alexander Scheer und Picco von Groote auf der Gegenseite. Dazu die Kamera, der Ton, die Musik: Da passt alles. Und selbst Thomalla und Wuttke können mal überzeugen.
Das liegt auch daran, dass sie und ihre Figuren sich endlich mal ausleben dürfen. Keppler steigt mit Saalfelds Nachbarin – die Nebenan-Uschi – ins Bett, weil seine Wohnung ja unbewohnbar ist. Die Wände in Leipzig sind so dünn, Saalfeld hört alles mit. Sie ist rasend eifersüchtig. Fortan ist Krieg angesagt – ein köstlicher Krieg. Das gipfelt in einem unvergleichlichen, total unterhaltsamen Kantinen-Wortgefecht der beiden. Sie beschimpfen sich als Versager und als schwarzes Loch. „Mit uns ist es vorbei, Aus und Ende.“ „Mit uns kann nichts mehr zuende gehen, es ist ja nichts mehr da!“
©MDR/Saxonia Media/Junghans
Endlich spielt man das Potenzial des Rollen-Geflechts aus. Und irgendwie kann man das auch als kleinen Seitenhieb auf die Kritik am Leipziger Tatort-Schauplatz verstehen. Es war echt nicht mehr viel da. Zuletzt. Doch mit diesem Abgesang ist alles auf dem Kopf gestellt. Es hätte so viel da sein können. Wenn die Bücher, wenn die Inszenierung, wenn der Wille da gewesen wäre. Dann hätte es weniger Scherze oder Tragödien gegeben - und mehr große Abende wie diesen.BEWERTUNG: 09/10Titel: Tatort: Niedere InstinkteErstausstrahlung: 26.04.2015Genre: KrimiRegisseur: Claudia GardeDarsteller: u.a. Simone Thomalla, Martin Wuttke, Maxim Mehmet, Jens Albinus, Susanne Wolff, Alexander Scheer, Picco von Groote