Man hat generell den Eindruck, dass es sich bei den „Veganern“ bzw. „Anti-Speziesisten“ größtenteils um in relativ sicheren materiellen Verhältnissen lebende (Nachwuchs-)Intellektuelle, um es näher zu spezifizieren: Philosophen, handelt. Um es ein wenig gemein zu sagen: Man muss schon sehr wenige sonstige Sorgen haben, um sich um die Tiere sorgen zu machen. Dass Peter Singer einer der wichtigsten Vordenker dieser Bewegung ist, ist allgemein bekannt und wurde in der letzten Zeit oft thematisiert. Dass auch der französische Philosoph Jacques Derrida ein philosophischer Freund dieser Bewegung ist, war mir selbst neu und ist meines Wissens nach auch nicht derart bekannt, deshalb habe ich mich, zumal auf diesem Blog ja bereits desöfteren über diese Thematik diskutiert wurde (ich habe zur besseren Übersichtlichkeit dazu sogar eine eigene Kategorie eingeführt), entschlossen, über seinen dafür entscheidenden Aufsatz einen Artikel zu schreiben.
Der Text heißt in der deutschen Übersetzung, die 2010 erschien, Das Tier, das ich also bin (das Original erschien 2006 in Frankreich). Es handelt sich um ursprünglich um einen Vortrag, den Derrida 1997 anlässlich des Colloques de Cerisy, einer für die französische Philosophie wohl recht bedeutsamen regelmäßigen Zusammenkunft der wichtigsten französischen Philosophen, hielt. Dass Derrida schon immer ein scharfer Kritik des (je nachdem) „Humanismus“, „Anthropozentrismus“ und der damit verbundenen „Metaphysik“ war, dürfte allgemein bekannt sein. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang etwa auf seinen programmatischen Vortrag Fines hominis von 1968, in der Derrida explizit von der politischen Bedeutung der Dekonstruktion spricht und sie in den Zusammenhang der 68er-Bewegung und Friedensbewegung stellt. Worin genau dieser Zusammenhang und die politische Motivation der Dekonstruktion konkret besteht, lässt er an dieser Stelle freilich offen – jedenfalls geht es ihm explizit in Anschluss an Heidegger darum, den „Humanismus“ und damit die gesamte Tradition westlichen Denkens, salopp gesagt, in die Tonne zu treten und ein gänzliches neues, anderes Denken zu begründen. (Wobei nicht ganz klar ist, wie weit diese Dekonstruktion gehen soll. Derrida spricht am Ende des Vortrags von zwei Wegen, den die Dekonstruktion gehen kann: entweder den Standpunkt eines radikalen Außen beziehen oder, dies wäre wohl eher sein Ansatz, die implizit auch schon in der Tradition enthaltenen „subversiven“ Tendenzen aufzuzeigen.) Zumindest nimmt er sehr deutlich Stellung gegen Existenzialismus und Marxismus.
30 Jahre später gibt er dann doch noch eine Idee davon, was eine praktische Überwindung des Humanismus heißen könnte. Der Aufsatz beginnt zunächst recht harmlos – ich war sogar regelrecht begeistert, da ich die sonstigen Derrida-Texte, die ich bisher gelesen habe, sehr abstrakt und schwer zugänglich fand. Derridas Aufhänger ist eine klassische phänomenologische Analyse. Gegenstand ist sein Verhältnis zu seiner Katze (er betont sogar explizit, dass es sich um „seine“ Katze handelt, nicht um irgendeiner literarische Referenz, eine Metapher, eine Stellvertreter-Katze o.ä.). Er empfindet Scham, wenn ihn seine Katze (die explizit weiblich ist; vgl. S. 24), nackt sieht. Mehr noch: er empfindet eine Art hybriden Scham, da er sich zugleich darüber schämt, sich vor der Katze zu schämen. Im Grunde kann man, obwohl Derrida mit keinem Wort darauf hinweist, diese ganze Überlegung als Konkretisierung von Sartres Theorie des Anderen lesen. Derrida ist zweifellos darin recht zu geben, dass wir den Subjekt-Charakter des Tieres verfehlen, wenn wir es als bloßes Objekt in der Welt, nicht als Blick, der es doch zweifellos auch ist, begreifen. Wir kommen nie zum Bewusstsein, zum Denken und Fühlen des Tieres, wenn wir uns etwa fragen „Kann es denken?“ und uns sein Verhalten anschauen. Denn das Verhalten sagt uns nichts – auch beim Menschen nicht – über die mentalen Prozesse „dahinter“. Wenn ich mir nur das Verhalten anschaue – mich also als beobachtendes Subjekt einem beobachteten Objekt, das zugleich nicht Beobachter von mir ist – gegenüberstelle, besteht immer ein Zweifel, ob das Objekt eine bloße Maschine oder ein bewusstes Wesen ist. Das lehrt mich erst der Blick des Anderen. Der Blick des Tieres lehrt mich nun ganz unmittelbar, dass auch das Tier ein Bewusstsein hat. Eine Erfahrung, die laut Derrida – und auch hier würde ich ihm absolut zustimmen – in der abendländischen Philosophie und Wissenschaft, die das Tier rein objektiviert betrachtet, weitgehend verdrängt wurde und wird.
Soweit, so gut. Vermutlich ist es eine versteckte Ironie, dass sich Derrida in diesem Text so offensichtlich auf seinen großen „humanistischen“ Antipoden Sartre bezieht – denn von diesen Überlegungen geht er zum großen Generalangriff über. Denn auch, wenn die gesamte Zivilisation auf der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier fuße – wobei der Mensch sich als Subjekt den Tieren als Objekt gegenüberstellt –, gäbe es seit etwa 200 Jahren einerseits eine Gegenbewegung gegen das „humanistische Denken“, andererseits eine ungeahnte quantitative und qualitative Verschärfung der Unterdrückung des Tiers durch den Menschen. Auf welche konkreten gesellschaftlichen Entwicklungen sich Derrida bezieht, lässt er wieder mal im Dunkeln – schließlich spielt er im französischen Pomo-Diskurs die Rolle des reinen Philosophen, da muss er schon aufpassen, seine Intentionen und Anknüpfungspunkte nicht zu deutlich auszusprechen. Auch hier hat er von seinem „Meister Heidegger“ (so er selbst, wohl ironisch; 64) gelernt. Dieser spricht in seinem berühmten Interview mit dem Spiegel von 1966 von „dem, was heute geschieht und seit drei Jahrhunderten unterwegs ist“. Was dieses seltsame „etwas“ ist, lässt sich aus dem Kontext des Interviews heraus recht deutlich erschließen: die „planetarische Technik“, die nach Heidegger den Menschen immer mehr beherrsche. Seinsgeschichte und reale Geschichte überschneiden sich hier offensichtlich in seltsamer Koninzidenz: Auf das 17. Jahrhundert ließe sich schließlich recht gut auch aus marxistischer Perspektive der Beginn des Industriekapitalismus und die damit einsetzende Fetischisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse datieren.
Bei Derrida ist das nichts ganz so klar. Doch es kann wohl nur ein Ereignis sein, auf was er hier anspielt: die französische Revolution, die ja mit der Erklärung der Menschenrechte ein neues Zeitalter des „Humanismus“ begründeten. Ein alter antiaufklärerischer Hut von den deutschen Romantikern bis Goebbels, der ja bekanntlich verkündete, dass mit der Revolution von 1933 1789 aus der Geschichte gestrichen werde.1
So meint das Derrida natürlich nicht. Aber jedenfalls knüpft er deutlich an die Technik-Kritik Heideggers an, wenn er als Beispiel für die beispiellosen Grausamkeiten, die der Mensch seit 1789 den Tieren zufüge „die Industrialisierung dessen, was man die Tierfleisch-Nahrungsmittelproduktion nennen kann“ (49) anführt. Heidegger verkündete ja bekanntlich 1949 die bekannte Weisheit:
Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.
Was auch immer der typisch heideggerianisch-“tiefe“ Ausdruck „im Wesen das Selbe“ bedeuten mag – diese einzige öffentliche Äußerung Martin Heideggers zur Shoa steht im Gegensatz zu jeder rationalen Analyse des Geschehenen. „Motorisierte Ernährungsindustrie“ nützt ihrem Wesen nach den Menschen. Wasserstoffbomben mögen eine furchtbare Waffe sein – sie sind eine Waffe, deren Einsatz bestimmten zweckrationalen Überlegungen folgt. Die Massenvernichtung von Menschen ist etwas wesentlich anderes.2
Doch dass die moderne Ernährungsindustrie ihrem Wesen nach dem Menschen nützen soll ist für Derrida gerade das Problem. Für ihn zeichnet sich die moderne Ernährungsindustrie gerade dadurch aus, „daß das Tier nicht nur auf übersteigerte Produktion und Reproduktion von Fleisch als Nahrungsmittel reduziert wird […], sondern auf alle Arten anderer Zielsetzungen im Dienste eines bestimmten menschlichen Seins und mutmaßlichen Wohlseins des Menschen.“ (49)
Derrida will mit dem Vegetarianismus der Antisemiten Richard Wagner und Adolf Hitler freilich nichts zu tun haben. Im Gegenteil – er knüpft lieber direkt an den „Antifaschisten“ Heidegger an und überbietet seinen „Meister“ sogar noch. Doch der Reihe nach, wir wollen schließlich nicht die Dramaturgie, die in diesem Fall wirklich beachtenswert ist, verderben. Es geht recht harmlos los:
Niemand kann mehr ernsthaft und auf Dauer verleugnen, daß die Menschen alles tun, was sie können, um diese Grausamkeit [eben die gegenüber dem Tier; TS] zu verbergen oder vor sich zu verbergen, um im Weltmaßstab das Vergessen oder das Verkennen dieser Gewalt zu organisieren, die manch einer mit den schlimmsten Genoziden vergleichen würde (es gibt auch Genozide an Tieren: Die Zahl aber durch Zutun des Menschen im Verschwinden begriffener Arten raubt einem den Atem). (50)
Dass es bei einem Genozid für gewöhnlich um die gezielte Ausrottung einer Menschengruppe eben um der Ausrottung willen, nicht zu irgendwelchen ökonomischen Zwecken, wie bei der Ausrottung bestimmter Tierarten, geht – geschenkt. Derrida gibt auch, wiederum ganz der Philosoph, zu bedenken:
Die Figur des Genozids darf man jedoch weder mißbrauchen oder allzu schnell verabschieden. Denn sie verkompliziert sich hier: (ebd.)
Und nun lässt Derrida die Katze aus dem Sack:
Es wäre zwar eine Vernichtung von Arten im Gange, sie würde sich jedoch über die Organisation und Ausbeutung eines künstlichen, infernalischen, virtuell unendlichen Überlebens volluziehen, unter Bedingungen, die Menschen früherer Zeiten für monströs gehalten hätten, für außerhalb aller unterstellten Normen des Lebens, das den Tieren zu eigen ist, die auf diese Weise in ihrem Überleben oder in ihrer Überbevölkerung selbst ausgelöscht werden. So als ob, zum Beispiel, Ärzte oder Genetiker (zum Beispiel nazistische), statt ein Volk in Gaskammern und Krematorien zu werfen, beschlossen hätten, mittels künstlicher Befruchtung einer Überproduktion und -reproduktion von Juden, Zigeunern und Homosexuellen zu organisieren, die, immer zahlreicher und immer wohlgenährter, in stetig wachsender für ein und dieselbe Hölle bestimmt gewesen wären, nämlich die der erzwungenen Genexperimente, der Vernichtung durch Gas und Feuer. Auf ein und denselben Schlachtbänken. (ebd.)
Derrida überbietet hier“Meister Heidegger“ sogar noch – die moderne Tierhaltung ist nicht nur dasselbe wie die Shoa – sie ist nicht nur quantitativ, sondern sogar qualitativ schlimmer als diese. Danach macht Derrida den Sack zu (und – wieder mal typisch – eine letzte kleine Kehre):
Es wäre ein Leichtes, diese Evidenzen (!), die ich hier in Erinnerung rufe, pathetisch aufzuladen, doch werde ich diese Leichtigkeit nicht über die Maßen beanspruchen. Alle Welt weiß, welche schrecklichen und unhaltbaren Bilder einer realistischen Malerei von der mechanischen, chemischen, hormonellen, genetischen industriellen Gewalt liefern könnte, der der Mensch das tierliche Leben seit zwei Jahrhunderten unterwirft. (50 f.)
Doch spätestens mit dieser sehr listig angefügten Schlussbemerkung gerät Derrida in eine logische Schieflage: denn was er ja unmittelbar zuvor sagte, worauf er mit „diese“ referiert, waren ja keine reinen Zustandsbeschreibungen, sondern ein hochgradig normativ aufgeladener Vergleich, der für die Beschreibung des Leids der Tiere völlig entbehrlich ist.
Doch wie steht es mit diesem Vergleich? Derrida unterstellt zunächst ein- und diesselbe Motivation bei Shoa und Tierhaltung. Doch das ist eben schon Unsinn. Gut – beide lassen sich jeweils als „zweckrationale“ Akte beschreiben, wenn man einen sehr weiten Begriff von Zweckrationalität unterstellt. Doch der „Zweck“ befindet sich jeweils auf völlig verschiedenen Ebenen. Einmal geht es, wie ja auch Derrida schreibt, um das konkrete Wohl von Menschen – Nahrung, die Entwicklung neuer Medikamente etc. Das alles mag auch bei der Shoa und den anderen Vernichtungsaktivitäten der Nazis eine gewisse Rolle gespielt haben – doch kein Tierhalter würde seinen Besitz schlichtweg vernichten wollen, weil er dächte, das Wohl der Menschheit hinge davon ab. Die Vernichtung ist eben nicht einfach Mittel zu etwas anderem, sondern wesentlicher Zweck des ganzen. Die beschriebene Zuchtpolitik macht aus der Sicht eines Antisemiten überhaupt keinen Sinn – als Arbeitssklaven stehen schließlich Slawen und sonstige „Untermenschen“ genug zur Verfügung. Was Derrida im Sinn hat, sind vielleicht Massentötungen von Tieren wie anlässlich der BSE-Krise. Doch auch diese gehorchen offensichtlich ein ganz anderen Logik als irgendein Genozid – „evident“ ist an Derridas Darlegungen also überhaupt nichts, es geht offensichtlich nur um das „Pathetische“, überhaupt nicht um ein rationales Begreifen der Sache. Ohne Shoa-Relativierung kommt anscheinend kein Antispeziesismus aus – die Erklärung der Juden zu Unmenschen wird so zynisch wiederholt. Die Tischreden Hitlers und die Tierfreundschaft Wagners sind zwar an sich keine Argumente gegen Vegetarianismus jedweder Couleur; ärger wird diese Parallele jedoch, wenn man berücksichtigt, dass es sich keinesfalls um zwei unabhängig voneinander vorhandene Einstellungen handelt. Die angebliche Naturfeindschaft des Judentums, auf die auch Derrida anspielt, wenn er den alttestamentlichen Schöpfungsbericht als Dokument der Entfremdung von Tier und Mensch heranzieht (näheres dazu weiter unten), ist selbst bei Religionskritikern wie Ludwig Feuerbach, dem man sicherlich keinen Antisemitismus vorwerfen kann, ein verbreitetes Motiv. Ohne dies an dieser Stelle belegen zu können, liegt der Verdacht doch auf der Hand, dass Hitlers und Wagner Tierliebe nicht nur nicht im Widerspruch zu ihrem eliminatorischen Antisemitismus stand, sondern beide Einstellungen sogar in einem konsistenten Verhältnis zueinander standen: die Juden als Tierschänder sollten gerade vernichtet werden, um das Wohl der Tiere zu befördern. Dies findet seine Entsprechung im antisemitischen Klischee vom jüdischen Viehhändler und im typisch nationalsozialistischen Natur- und Bauerntumskult, die wiederum mit Heideggers Kritik der „Ernährungsindustrie“ korrespondieren (der sie gleichsam in die Philosophie überführte). Auch Derrida knüpft an diesen Diskurs an.
Unabhängig davon, geht Derridas seltsame Geschichtsschreibung so nicht auf. Man mag davon halten, was man will – die modernen Schlachtungsmethoden sind ja gezielt darauf ausgerichtet, die Tiere möglichst schnell (und damit durchaus: schmerzlos) zu töten, fernab von den Augen der Öffentlichkeit. In früheren Epochen – und auch noch in manchen heutigen Dörfern im Westen – ging man weniger zimperlich vor, verbannte das Töten von Tieren weniger streng aus dem normalen Leben, setzte weniger effektive, schnelle Tötungsmethoden ein.
Doch daraus würde ich noch nicht einmal einen wesentlichen qualitativen Unterschied machen. Ich sehe eher nicht, woher Derrida diesen nimmt. Die Geschichte von Mensch und Nutztier ist schon seit Jahrtausenden ein einziges riesiges Züchtungsprogramm – verbessert wurden einzig die Methoden. Kühe, Schweine, Hühner, Hunde und auch die von Derrida anscheinend so geliebten Katzen gäbe es in der heutigen Form ohne den Menschen gar nicht. Andererseits spielte die Fleischproduktion in der Geschichte eine durchaus produktive und unverzichtbare Rolle. Dass wir heute ernsthaft darüber nachzudenken, mehr und mehr auf die Ausnutzung von Tieren zu verzichten oder diese zu „humanisieren“ wäre ohne die vorhergehende jahrhundertelange Nutzung überhaupt nicht möglich gewesen. Gerade bei medizinischen Experimenten kommen wir bis heute ohne Tierversuche kaum aus – wie jeder Antispeziesismus mündet auch Derridas Variante konsequent weitergedacht in der Menschenfeindschaft.
Doch die zitierte Passage ist nicht das Ende des Aufsatzes. Derrida spricht im weiteren Verlauf noch einige andere Punkte an, von denen ich einen herausgreifen möchte. Derrida spricht ja davon, dass sich vor 200 Jahren ebenso eine Gegenbewegung gegen die Tierunterdrückung formierte. Als namentlich Vertreter nennt er dabei – man höre und staune angesichts der zitierten Kritik des zweckrationalen Ausnutzens der Tiere – den berühmt-berüchtigten Hardcore-Utilitaristen Jeremy Bentham. Doch de facto hat er wohl eher Schopenhauer im Sinn, wenn er vom „Mitleiden“ als der Emotion spricht, die der zynischen Tiervernichtung entgegenstehe. Er spricht sogar von einem „Krieg um/gegen das Sujet/Subjekt des Mitleids“ (54), der seit Jahrtausenden ausgetragen werde, sich im Augenblick jedoch in einer „kritische[n] Phase“ (ebd.) befände. Es ist schon seltsam, wie jemand, der sich so oft und gern auf Nietzsche beruft, sich an dieser Stelle so ungebrochen positiv aufs Mitleid beziehen kann. Auch Derrida zitiert die berühmte über Nietzsche berichtete Anekdote, nach der der er sich in Turin nach seinem geistigen Zusammenbruch weinend einem misshandelten Droschkenpferd um den Hals geworfen habe. Ob sie wahr ist oder nicht – eine schöne Erzählung, die zweifellos ihren Wahrheitskern enthält. Denn für Nietzsche gibt es zwei Arten von Mitleid: jenes intuitive, authentische, dass einer spontanen Selbstüberschreitung entspringt, und ein anderes, das Mitleid, das aus dem Ressentiment herrührt und gerade keine wirkliche Selbstüberschreitung beinhaltet. Es ist eben das Mitleid jener, die es benutzen, um sich selbst dabei gut zu fühlen, um sich selbst über den Bemitleideten zu erheben. Und dies ist die bei weitem hegemoniale des Mitleidens, mit dem Selbst-Mitleid nur allzu verwandt. Mitleid in dieser Form nützt niemandem – weder Mensch noch Tier. Dass Derrida mit keinem Wort auf diese Kritik eingeht, ist schon verdächtig – denn sie trifft gerade sein eigenes Konzept einer Mitleidsethik gegenüber Tieren. Sein Anti-Humanismus ist in Wahrheit eine reichlich größenwahnsinnige Selbsterhöhung der Menschheit.
Denn der Witz ist ja gerade, dass nur der Mensch überhaupt in der Lage ist, seine Verhaltensweisen gegenüber anderen Tieren zu reflektieren und zu ändern. Eine Löwe wird sich kaum darüber Gedanken machen, wie brutal er eine Gazelle zerfleischt oder ob er nicht lieber wie sie Gras essen sollte. (Dies wirft ein weiteres Mal ein erhellendes Licht auf Derridas Kritik der „Künstlichkeit“ zugunsten einer vermeintlich idyllischen „Ursprünglichkeit“, die es, man weiß nicht wie, wiederherzustellen gälte.) Zugleich kann ein Tier eben nicht für sich selbst sprechen. Es ist der Mensch, der für es sprechen, seinen Willen erraten muss. Dies gesteht auch Derrida zu, ohne die daraus folgenden Konsequenzen zu ziehen. Er rekonstruiert anhand des alttestamentlichen Schöpfungsberichts eine Art „Urszene“, in der sich der Mensch durch die Benennung der Tiere von diesen distanziert und diese zum Schweigen verurteilt – dies sei eben der ursprüngliche Gewaltakt gegenüber den Tieren. Dabei liegt bei all dem der Verdacht nahe, dass es erst die menschliche Interpretation und Projektion ist, die die Tiere derart leiden macht. Wer vermag schon wirklich einzuschätzen, ob eine ein Leben lang in einer stickigen Wohnung eingesperrte Hauskatze nicht mehr leidet als ein Huhn oder ein Schwein in einem halbwegs „human“ (ich benutze dieses Wort auch hier bewusst und nicht ohne Ironie) geführten Bauernhofs? Auch wenn wir bei vielen, sicher nicht allen, Tieren eine Intuition davon haben, dass sie ein Bewusstsein haben – dies lehrt uns eben, wie Derrida zu Recht herausstreicht, ihr Blick – trennt uns doch zugleich ein unüberwindbarer Abgrund von ihnen und ihren Gefühlen. Natürlich gibt es, gerade bei Haustieren (wenn auch nicht bei allen, aber auf jeden Fall bei Katzen und Hunden), Momente des wechselseitigen Verstehens. Aber das sicher nicht zuletzt deshalb, weil Haustiere in einer Art Symbiose mit uns leben – wir betrachten sie als Hausgenossen, sie uns (vermutlich) als Angehörige ihres Rudels. So ist das miauen der Hauskatzen, das bei Wildkatzen nicht vorkommt, als verzweifelte Nachahmung menschlicher Stimme zu interpretieren. Andererseits hatte ich eine sehr interessante und mein Verständnis vom Bewusstsein von Tieren durchaus verändernde Erfahrung bei dem Besuch einer Freundin, die einen Kater besaß. Ich war alleine mit ihm in ihrer Wohnung und versuchte, unbedarft im Umgang mit Tieren um mich, auf irgendeine Art in Kommunikation mit ihm zu treten. Auf wikipedia hatte ich gelesen, dass es Katzen als Zeichen der Zuneigung werten, ihnen in die Augen zu schauen und dabei deutlich mit beiden Augen zu blinzeln. Es funktionierte – der auf meinem Bauch liegende Kater blinzelte zurück und ließ sich von mir streicheln. Eine andere Freundin von mir besitzt eine Eidechse als Haustier. Bei ihr funktionierte – zumindest für mich – diese Art von wechselseitigem Einverständnis, wechselseitiger Anerkennung als bewusste Lebewesen nicht. Ich hatte nur Angst davor, die Eideche anzufassen, weil sie mir als völlig unberechenbar erschien – sicherlich auch aus einer gewissen spontanen Sorge, ihr weh zu tun oder bedrohlich auf sie zu wirken (wobei ich mir nicht sicher bin, ob dieses Gefühl nur die Entsprechung meiner Furcht war – eine solche Furcht könnte auch einem tierähnlichen Roboter dienen – oder ob ich mir tatsächlich Sorgen um die Eidechse machte).
Die komplexe Dialektik zwischenmenschlicher Beziehungen kann es also zwischen Tier und Mensch nicht oder nur in Ausnahmesituationen geben. Und diese Ausnahmesituation basiert eben darauf, dass das Tier einen besonderen Status als „Haustier“ hat – und damit zugleich in der Regel in ungleichem Maße Projektionsfigur der Bedürfnisse seiner Besitzer darstellt (so, wie etwa mancher Hobbygärtner zu seinen Pflanzen spricht oder für sie Mitleid empfinden mag – man denke nur an die Rolle der Enten für Tony Sopranos in The Sopranos oder die bekannten Schoßhündchen alleinstehender alter Frauen). Das mag wiederum auch bei Derridas Katze der Fall sein – es steht also zumindest in Frage, inwieweit die Intuition des tierischen Blicks auf Projektion basiert oder authentisch ist.
Jedenfalls kommt dem Menschen in dieser „antihumanistischen“ Philosophie eine ganz schön große Aufgabe zu – eine Aufgabe, die seine realen Möglichkeiten bei weitem übersteigt. Weder Tier noch Mensch ist dabei geholfen – das Tier bleibt der Struktur nach unmündiges Büttel des sich zum Hirt der gesamten Schöpfung aufwerfenden Menschen, das unendlich realere, unendlich konkretere Leid des Menschen wird nivelliert. Einen gewissen psychologischen Mehrwert erreichen nur die, die Derridas Philosophie folgen: Sie sind die, die sich mit den eigentlichen, den wirklich tiefen Problemen der Menschheit auseinandersetzen. Hunger, Ausbeutung, Krieg – ja selbst der unvergleichbare Abgrund der Shoa sind ja sekundär im Vergleich zum viel schlimmeren „Unrecht“, das an den Tieren verübt wird. Anstatt für ihre eigenen Rechte zu kämpfen, kämpfen sie für die Rechte anderer – dass diese anderen nicht für sich selbst sprechen können, treibt die Logik der Repräsentation nur in ihr absurdes Extrem. Ein erfüllender Kampf, der der Sinnstiftung dem Wunsch nach Entselbstung sicherlich gut tut – nur leider nichts mit Emanzipation zu tun hat, gerade im Gegenteil. Philosophen wie Derrida erzählen sich und ihresgleichen amüsante Anekdoten über ihr Schmusekätzchen und Schauergeschichten über Genexperimente und anderes – vom „Kapitalismus“ schweigen sie. Das ist in der Tat den Ideen der französischen Revolution zuwider.
Diese formulierten sich wesentlich in den Menschenrechten – dem Produkt jahrhundertelanger Kämpfe und Diskussionen. Das hinter den „Tierrechten“, die Derrida zwar nicht als Lösung des Problems, wohl aber als Schritt in die (richtige) Richtung (wie Heidegger an besagter Stelle des Interviews von 1966 den Nationalsozialismus!), stehende Rechtskonzept steht dem der Menschenrechte diametral entgegen. Die Menschenrechte basieren historisch eben auf dem Kampf mündiger Wesen um die Anerkennung der eigenen Mündigkeit, logisch gründen sie auf der aus der Freiheit des Menschen herrührenden Würde. Der Mensch leidet nicht nur einfach – er weiß, dass er es tut und das verändert die Gestalt des Leids. „Tierrechte“ implizieren, dass ohne Kampf unmündigen Wesen von einer gütigen Instanz diese Rechte zugeteilt werden – über die Erfüllungskriterien entscheiden nicht die Träger der Rechte, sondern andere, eingeklagt werden können sie nicht von den Trägern der Rechte, sondern nur von anderen. Die Tiere werden ihr glückliches, unbedarftes Leben bis in alle Ewigkeit weiterführen – ob mit oder ohne Rechte – sie werden das Konzept der Rechte niemals verstehen können. Der Mensch kann sich entscheiden, ob er sich seine Rechte als erkämpft und auf Autonomie gründend oder als paternalistisch gegeben und auf Heteronomie gründend vorstellen will.
Anstatt sich in ein Urparadies zurückzuwünschen müssten gerade die Errungenschaften der modernen Ernährungsindustrie, Gentechnik und Biologie, müsste gerade die planetarische Technik eingesetzt werden, um Mensch und Tier eine vernünftige Koexistenz zu ermöglichen. In verwirklichender Überschreitung des Humanismus, nicht gegen ihn. Ansonsten bleibt das ausgesöhnte Verhältnis zur Natur eine bloße Philosophenspinnerei deren Scheitern, im pessimistischen Messianismus Derridas und des späten Heidegger offen ausgesprochen, von vorneherein entschieden ist.
- Vgl. dazu diesen sehr interessante Artikel über die antifaschistische Schriftstellerin Getrud Kolmar. Aus Sicht Derridas und seiner Gesinnungsgenossen wäre sie freilich keine Antifaschistin, sondern in ihrem „Humanismus“ und ihrer positiven Bezugnahme auf die französische Revolution mit dem Faschismus über eine eigenartige Komplizenschaft verbunden.[zurück]
- Zur vertieften Kritik von „Meister Heideggers“ Sicht auf die Shoa und die daran anschließende seiner postmodernen Schüler (insbesondere Giorgio Agamben) vgl. dieser Beitrag von Clemens Heni. [zurück]