Ein viel dringlicherer Tabubruch

Es ist ja nicht so, dass man grundsätzlich gegen grobschlächtiges, ruppiges Auftreten sein sollte. Das hat seine gute Billigkeit. Vorallem ist es das Anrecht des Tabubruchs - so einen muß man manchmal ungalant begehen. Problem ist dabei nur, dass der große Tabubrecher, diese schiefschnäuzige Karikatur einer Herrenmenschen-Parodie, überhaupt kein Tabu gebrochen hat. Er hat einfach nur den Stammtisch, den Kleinkrieg aus Mietskasernen und vom beruflichen Pausentisch aufgegriffen und in den öffentlichen Diskurs geschmettert. An jenen Plätzen qualmte nämlich schon immer dieser stinkende Sud aus sozialdarwinistischer und eugenischer Wissenschaftsramschware, aus rassistischer und nationalistischer Verranntheit, angereichert um faschistoides und barbarisches Heroentum - an den genannten Örtlichkeiten war all das nie tabu.

Diese schweigende Mehrheit, die man hinter dem ungestalten Tabubrecher vermutet, die gab es nie - das heißt, es gab sie schon als Masse, nur nicht als schweigende, sich bedeckt haltende Gruppe. An den richtigen Orten dampfte es seit alters her ordentlich, wurde immer schon gesagt, was gesagt werden musste - weils doch wahr sei. Das gilt nicht nur für das angebliche Tabu der Überfremdung - das gilt auch für die klassistischen Aussagen des "Klartext"-Politikers bezüglich Erwerblose, die für ihn eine funktionslose Klasse seien - eine Klasse, die folglich niemand brauche. Dergleichen war auch nie in die Stille verbannt, wurde an heimeligen Orten thematisiert, ausgegrölt, gut hörbar tremoliert.

Nein, da fand kein Tabubruch statt - dieser profilneurotische, offenbar an einem Aufmerksamkeitsdefizit nagende Herr, er ist nicht der Tabubrecher, er plappert nur nach, was irgendwie immer schon irgendwo von irgendjemanden gesagt, geflüstert, mindestens aber laut gedacht wurde. Und das wäre eigentlich schade, wenn es nicht so schön wäre. Denn Tabubrüche, die wären sicherlich entschieden geboten - es gäbe genug Tabus zu brechen in dieser Gesellschaft. Tabus, die der nichttabubrechende Tabubrecher vom Dienst nie zu brechen geneigt wäre. Da fehlte es an Substanz, an Schneid, an cojones, wie man im Spanischen und neuerdings auch im Deutschen sagt; cojones, die man benötigte, um dort Tabuzertrümmerer zu sein, wo einem auch Sturm blüht, nicht nur eine leichte Gegenbrise.

Ja, es gäbe genügend Tabus! Jenes beispielsweise, so zu tun, als ob Politik und Wirtschaft zwei gesonderte Posten seien - warum bricht man nicht dieses hemmende Tabu, entblößt die Politik als das, was sie ist: Wirtschaftspersonal mit Mandat. Wieso sind Berichte aus den Folterlagern der westlichen Welt tabu? Auch die Arbeitswut und der Arbeitfetisch der kapitalistischen Welt: warum tabuisiert man die, warum tabuisiert man des Menschen Recht auf Faulheit? Weshalb gilt es als Tabu, einem offensichtlichen Menschenhasser, einem Vernichtungsbürokraten in Lauerstellung, bei einer öffentlichen Veranstaltung nicht mit Häme begegnen zu dürfen? Warum gebietet es die diplomatische Gepflogenheit, auch so einem Kerl die Hand zu reichen?

Das klingt nach kleinem Tabubruch, nach Bagatelle, Pappenstiel. Jemanden nicht die Hand zu geben - das ist doch, wenn überhaupt, kein Tabubruch von Format. Aber das täuscht: genau das ist der Tabubruch schlechthin. Einem vor aller Welt die Hand zu verweigern, das seriöse Wort zu versagen, ihn eher anzuspucken als zu begrüßen - einem, der gegen Minderheiten hetzt und geifert, Menschen in wertvoll und wertlos katalogisiert, in dieser Weise den Respekt zu verwehren, ihn nicht als Gesprächspartner auf gleicher Augenhöhe anzuerkennen: das ist nicht Unbenehmen, das wäre ein weittragender Tabubruch. Man stelle sich vor, bei Anne Will würde man irgendwelchen Bankkantinenagitatoren den Respekt versagen. Mit Ihnen rede ich nicht! Mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch! Wäre das etwa kein Tabubruch in einer Gesellschaft, in der man sogar Eugeniker freundlich begrüßt und sie "sachlich" zu Wort kommen läßt? Aberaber, Arschloch sagt man doch nicht! Eben! Genau deshalb wankte da ein Tabu: bisher durften bestimme solche nicht so geheißen werden!

Und was würde einem solchen Tabubrecher blühen? Nennte man ihn Klartext-Talker? Klartext-Talker bei Anne Will sagt, was Sache ist? Würde man berichten, dass er den von ihm mit einer Körpereinbuchtung bedachten Diskutanten hart rannahm, ihn des Rassismus, des Klassismus, der Volksverhetzung bezichtigte? Ihn deshalb verachten musste, wenn man nur noch ein Stäubchen demokratischer Ehre im Leib hat? Stünde irgendwo in einer Zeitung, dass man diesem Kerl mitteilte, dass es nur die gute Erziehung sei, die einen davon abhalte, wie ein tolles Alpaka durch die Gegend zu speien? Klartext-Talker vergisst Manieren, um Herrn X ebendiese beizubringen! - Würde man das irgendwo lesen können? Endlich sagt einer, was alle denken; endlich nennt einer Herrn X beim Namen! - Wo zierte dieser Satz das Feuilleton? Klartext-Talker bei Will: neunzig Prozent unserer Leser sagen, er hat recht! - Na, wer schriebe wohl dergleichen?

Nichts wäre es mit Klartext-Talker! Ein ungezogener Kerl wäre man, jemand, der es übertreibe - unsachlich wäre man, weil man der personifizierten Dummheit nicht mit endlosen Sachdiskussionen beigekommen war. Ein Mindestmaß an Betragen würde man einfordern; auch der Hetzer hat Anspruch auf grundlegende Respektsbezeugungen! Hat er? Hat er! Selbstverständlich! Man ging ihm nicht gleich aufgeladen vor Wut an die Gurgel: das zeugt doch von Respekt! Das ist eine kulturelle Leistung, wenn man denjenigen, der ganze Volksgruppen in Verruf bringt, damit Lebensrealitäten noch erschwert, nicht gleich unzimperlich begegnet. Sich zu beherrschen: das zeugt doch von Respekt! Keiner würde einen solchen Tabubrecher als Tabubrecher bezeichnen. Sie sind doch kein Tabubrecher - Sie sind nur schlecht erzogen! Man würde ihm die Berechtigung aberkennen, weiterhin solchen Runden beizuwohnen - den Hetzer lädt man aber wieder ein: er hat sich schließlich anständig benommen!

Dabei wäre es ein vorzüglicher Tabubruch, denn niemals stünden neunzig Prozent hinter einem - und wo nur zehn Prozent loyal sind, da bohrte man eher in ein Tabu, in eine schwärende Wunde, als dort, wo Mehrheiten die Nachhut bilden. Wenn man solchen asozialen Eiferern mal mit dem nötigen Respekt, also der Respektlosigkeit die nötig wäre, begegnete, dann bräche man jenes Tabu, das Hetzer hofiert. Das wäre ein Bruch, der wirklich etwas bewirken könnte. Denn wo sich zusehends geweigert würde, mit Aufwieglern zu diskutieren, sie sachlich zu behandeln, da entzöge man ihnen ihre Legitimität, würde sie in die anrüchige, kriminelle Ecke drängen. Sie können mich mal!, wäre nur ein kleiner Satz für einen Menschen, aber es wäre ein großer Satz, den die Menschheit nach vorne machte...


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