Ein vergessener Ausnahme-Regisseur

Erstellt am 26. September 2011 von Michael

THE MYSTERIOUS LADY
USA 1928
Mit Greta Garbo, Conrad Nagel, Gustav von Seyffertitz u.a.
Regie: Fred Niblo
Dauer: 89 min

Wien, um 1900: Der Offizier Karl von Raden (Conrad Nagel) kriegt in der Oper einen Logenplatz neben der schönen Tanja Fedorova (Greta Garbo) und ist sofort von ihrer lasziven Schönheit fasziniert. Nach der Vorstellung ist sie nicht abgeneigt, sich von ihm in seiner Droschke nach Hause bringen zu lassen. Ein sorgfältig vergessenes Paar Handschuhe führt dazu, dass sie ihn noch zu einem Kaffee hereinbittet – und schon bald ist es geschehen: Die beiden haben sich unsterblich ineinander verliebt.

Und nun erfährt von Raden, dass Tanja eine russische Spionin ist. Prompt fehlen ihm plötzlich wichtige, streng geheime Dokumente. Er wird degradiert und in Haft gesetzt.
Tanjas Bild lässt ihn nicht mehr los; als er wieder frei kommt, sucht er nach ihr, bis er sie findet. Um festzustellen, dass sie ihn genauso wenig vergessen kann…

Die Inhaltsangabe klingt nach abgedroschener Spionage-Romanze – ein Grund, weshalb dieser Film lange in meinem Regal liegengeblieben ist.
Doch oh – welch angenehme Überraschung! The Mysterious Lady, nach einem Roman des österreich-ungarischen Autors Ludwig Wolff, entpuppt sich als wunderbar feinsinnig inszeniertes, hoch dramatisches und spannendes Kammerspiel, in dem nicht nur sämtliche Rollen perfekt besetzt sind, sondern das auch mit subtiler inszenatorischer Raffinesse aufwartet.

Wie Regisseur Fred Niblo hier die Spannung kontinuierlich steigert und die Erotik knistern lässt, oft nur mit Blicken, Schnittfolgen, Gesten, das lässt das Cinéastenherz jubilieren. Fred Niblo, das verkannte Regie-Genie! Die Freude, einen grossen, bislang unterschätzten Regisseur entdeckt zu haben, lässt mich den Film zwei Mal betrachten. Auch bei einer zweiten Visionierung hält der starke Eindruck stand: Da ist ein Regisseur am Werk, der fernab von spektakulären Kameratricks Grosses vollbringt, indem er auf das Kleine achtet, kleinsten Gesten Bedeutung beimisst, Blicke sprechen lässt, die Akteure geschickt im Bild platziert und so Beziehung schafft, und Spannung erzeugt.

Anders als etwa Alfred Hitchchock, dessen Bildsprache in seiner Aussergewöhnlichkeit stets deutlich erkennbar ist, beschreitet Niblo mit seinen Filmen einen gänzlich anderen Weg: Er manipuliert auf der Bildebene nichts; bei ihm sprechen nicht in erster Linie die Bilder, sondern Blicke und Gesten.

Dies ist ein von der Filmhistorie wenig beachteter Weg, die stummen Filme zum „Sprechen“ zu bringen, der aber ebensoviel Berechtigung verdient wie der andere. Niblo ist darin ein absoluter Meister; ihn mit Hitchcock, Fritz Lang oder Murnau auf eine Stufe zu stellen, scheint auf den ersten Blick ungehörig. Wenn man sich aber Filme wie The Misterious Lady anschaut und gewahr wird, mit welcher Akribie und mit welchem Timing da grosse Gefühle evoziert werden, welche Sorgfalt darauf verwendet wird, mit Gesten ganz grosse Geschichten zu erzählen, dann kann man nicht umhin, diesen Regisseur als vergessenen Kinomagier zu preisen.

Durchaus möglich, dass Garbo ihm einen grossen Teil ihres immensen Ruhms verdankt – die Art, wie Niblo sie hier und im früher entstandenen Film The Temptress in Szene setzt, mit raffiniert ausgeleuchteten Nahaufnahmen, wurde von anderen Regisseuren kopiert und wurde in ihren Filmen zum Markenzeichen.

Und manchmal kommen durch glückliche Fügung Faktoren zusammen, die einen Film zum Ereignis machen. Die drei Hauptdarsteller Garbo, Nagel und von Seyffertitz (ein echter österreichischer Adligenspross, den es zum Film zog) tragen The Mysterious Lady, eine(r) überzeugender als der/die Andere. Ebenfalls exzeptionelles leistet der Set Decorator Cedric Gibbons, dem es hier gelingt, das Wien um die Jahrhundertwende derart lebendig werden zu lassen, dass man das Gefühl von Authentizität nicht los wird.

Ein weiterer Plus-Faktor wurde 80 Jahre nach der Entstehung des Films beigefügt: die Musikbegleitung, die Vivek Maddala zur DVD-Veröffentlichung beisgeteuert hat. Sie begleitet die Blicke und Gesten subtil und geschickt, unterstreicht die szenischen Zusammenhänge und verhilft dadurch der vom Regisseur geschickt aufgebauten Spannung zu ihrer Wirkung.
Eine Stummfilmveröffentlichung also, die rundum empfohlen werden kann!
9/10

Der Film ist in Deutschland auf DVD erschienen, unter dem Titel Der Krieg im Dunkel; die DVD ist allerdings inzwischen vergriffen. Einige günstige Angebote gibt es allerdings bei amazon.de von Privatanbietern!