Ein Trauerfall – wir haben verlernt, was gutes Essen ist [Gastbeitrag]

Von Maria Glatz

Als mich Maria um einen Gastbeitrag auf ihrem tollen und inspirierenden Blog gebeten hat, war ich sehr geehrt und habe mich gefreut, einen kleinen Platz zur Verfügung gestellt zu bekommen, um euch ein paar meiner Gedanken vorzustellen.

Diese sind mit Sicherheit nicht das, was man massenkonform nennen könnte. Und vielleicht ecke ich bei dem ein oder der anderen von euch damit an – aber genau das macht doch den Reiz des Bloggens aus, oder? Der spannende Austausch von Meinungen und Ansichten – auf dass wir uns alle ein kleines Stückchen weiterentwickeln.

Heute soll es um unser Verhältnis zum Essen gehen – eine hochkomplizierte Geschichte, der ich mich mit einem selbst erdachten Stufenmodell sowie der These nähern möchte, dass wir Essens-Vorbilder brauchen. Klingt verschachtelt? Dann hereingelesen!

Mir blutet das Herz. Wirklich. Und das nicht nur manchmal, sondern immer wieder. Und in letzter Zeit mit zunehmender Häufigkeit. Warum? Weil wir verlernt haben, was gutes Essen ist. Weil wir verlernt haben, was es heißt, menschlich zu sein.

Ernährungstrends – ein wahnsinniger Boom

68.400 Ergebnisse in 0,25 Sekunden liefert uns die Suchmaschine unseres (Miss-)Vertrauens, wenn wir das Stichwort “Ernährungstrends” eingeben.

Enthalten: Haufenweise Seiten, Artikel, Blogs und (pseudo-)wissenschaftliche Onlinemagazine, die alle den Heiligen Gral der menschlichen Ernährung gefunden haben wollen.

Paleo, Vegan/vegetarisch, Low Carb, High Carb, Low Fat, High Fat, Rohkost, Mischkost, Clean Eating, Superfoods, glutenfrei, frei von xy, Soft Health, Food Pairing, Hybrid Food…

Die Liste ließe sich beliebig erweitern und stetig kommen quasi über Nacht neue Trends hinzu. Und dass diese einander widersprechen und sich gegenseitig mit halbgaren Studien, welche die eigenen Theorien und Ansichten in das rechte Licht rücken sollen, attackieren, gehört hier schon beinahe zum guten Ton.

Anhänger*innen sämtlicher Ernährungs-Bewegungen blicken teilweise missgünstig und auch ein wenig mitleidig auf ihre noch ahnungslosen, naiven Mitmenschen, die den Schlag der neuen Zeitrechnung (z.B. der Ära des Paleo-Veganismus) offensichtlich nicht mitbekommen haben und wie festgefahrene in ihren überholten Ernährungsgewohnheiten stecken.

Von sinnvollen und weniger sinnvollen Trends

Von den oben aufgeführten und aktuell heiß diskutierten Ernährungstrends stechen bereits beim ersten Lesen einige ins Auge, die wenig sinnvoll zu sein scheinen – im Gegensatz zu anderen, denen mehr Tiefgang innewohnt.

Food Pairing und Co.

Man kann und darf beispielsweise ausgiebig und im Detail darüber debattieren, ob Trends wie Food Pairing (hier werden die Hauptkomponenten eines Gerichtes so ausgesucht, dass ein besonders aromatisches Geschmackserlebnis entsteht – meist ist dies dann der Fall, wenn die Aromen einander stark ähneln) oder Hybrid Food (man denke nur an den Cronut) zu den tiefschürfenden Errungenschaften der Menschheit zählen.

Zaghafte Vermutung: wahrscheinlich eher nicht. Natürlich schmecken nach den Prinzipien des Food Pairing angerichtete Speisen tödlicher total gut und wir dürfen davon ausgehen, dass wir Food-Strömungen wie dem Hybrid Food eine Menge kreativer Energie verdanken, die Millionen Menschen zu neuen kulinarischen Entdeckungen inspiriert. Doch geht da sinntechnisch nicht noch mehr?

Clean Eating, Rohkost, Superfoods und glutenfrei

Selbstverständlich geht da noch was. Konzepte wie das Clean-Eating-Modell (von dem ich übrigens ein sehr großer Fan bin – die Gründe sind hier nachzulesen) oder auch die Rohkost-Bewegung gehen tiefer.

Anstatt sich mit den netten, aber ehrlicherweise relativ banalen Themen wie Aromenkomposition und Food-Crossing zu beschäftigen, wird hier der Fokus auf etwas anderes, wesentlich Wichtigeres gelegt: der menschlichen, individuellen Gesundheit.

Mögen die Konzepte von Clean Eating, Rohkost, superfood-basierter und glutenfreier Ernährung in den Details mitunter von einander abweichen – die Stoßrichtung ist bei allen dieselbe: Wie kann der menschliche Körper möglichst effektiv und effizient mit allen lebenswichtigen Nährstoffen versorgt werden?

Einher gehen hierbei in der Regel eine kritische Reflexion der aktuellen Massen-Konsum- und -Esskultur sowie eine Hinwendung zu selbstgemachtem und selbstgekochtem Essen – möglichst mit viel Obst und Gemüse aus nachhaltigem und biologischem Anbau.

Hier befinden wir uns offensichtlich schon eine Stufe tiefer und damit mitten in hoch komplizierten Diskussionen und wissenschaftlich noch immer nicht ganz abgesicherten und daher einander widersprechenden Forschungen.

Fest steht allerdings, dass diverse der Ernährungstrends, die wir auf dieser Stufe finden, eigentlich nur altbekanntes Wissen wiederverwerten und es gewissermaßen in moderner Aufmachung recycelt an den hektischen Industriemenschen bringen. Denn natürlich wissen wir alle, dass wir viel Obst und Gemüse essen sollen – und kennen wir nicht folgendes berühmte Sprichwort?

Iss’ nichts, was deine Großmutter nicht als Lebensmittel erkannt hätte!

Warum essen wir dann trotzdem so ungesund? Dazu später mehr.

Vegetarismus und Veganismus

Bewegen wir uns auf der imaginären Leiter der Ernährungskonzepte noch eine Stufe weiter nach unten – und werden damit noch grundlegender. Und wichtiger.

Vegetarismus und insbesondere Veganismus gehen noch einen Schritt weiter als Clean Eating und Co.: Anstelle sich nur auf die Gesundheit des Einzelnen zu fokussieren, steht hier nichts weniger als die gesamte Welt im Zentrum der kulinarischen Überlegungen. (Anmerkung: Es gibt natürlich auch Menschen, die sich aus rein gesundheitlichen Gründen vegetarisch oder vegan ernähren – aber man darf behaupten, dass es sich hierbei um die Minderheit handelt.)

Vegetarier*innen und Veganer*innen entscheiden sich mit jeder Mahlzeit, mit jedem Einkauf aktiv und bewusst gegen Tierleid, gegen Menschenausbeutung und gegen Ressourcenverschwendung.

Dein Einkaufszettel ist dein Stimmzettel. Immer wieder.

Das gesamte kulinarische Handeln ist darauf ausgerichtet, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen – und damit eng mit ethischen und moralischen Fragen (und den entsprechenden Antworten) verknüpft.

Essen ist in der pflanzlichen Bewegung weit mehr als nur Nahrungsaufnahme – es ist ein wesentlicher Teil einer Lebenshaltung, einer Mission.

Sowohl der Vegetarismus als auch der Veganismus greifen hier – mitunter in Splittergruppen – Tendenzen und Strömungen aus Konzepten, die auf den weiter oben liegenden Schichten der Ernährungs-Konzept-Pyramide lagern, auf und integrieren sie in ihr Konzept – freilich ohne die Gesamtkongruenz zu verlieren.

Pflanzenbasierte und pflanzliche Ernährung gehen also gewissermaßen an die Grundsubstanz der Gesellschaft, indem sie sich aktiv unter anderem mit folgenden, zum Teil äußerst unbequemen Fragen auseinandersetzen:

* Wen oder was darf ich essen?
* Haben Tiere Empfindungen, sogar ein Selbst?
* Wie wollen wir unseren Planeten unseren Kindern und Kindeskindern hinterlassen?
* Bin ich dafür verantwortlich, dass ganze Familien in Afrika Hunger und Durst leiden, wenn ich nicht auf mein Fleisch verzichten will?
* Lasse ich mich von Lebensmittelkonzernen regieren oder habe ich meine eigene Meinung?
* Wie lange wird unser Essen noch reichen?
* Haben wir bald einen “Wüstenplaneten”?
* Wer bestimmt, wer wen essen darf?
* Ist der Mensch mehr wert als andere Lebewesen?
* Dürfen wir das?

Von den bisher freilich nur erwähnten und nicht einmal thematisch angerissenen Ernährungskonzepten dürfen daher Vegetarismus und Veganismus als diejenigen betrachtet werden, die am tiefgründigsten mit der Thematik des Essens und der Lebensmittelverwertung umgehen. Und die – falls einem Trend überhaupt zu folgen ist – nun die mit Abstand empfehlenswertesten Alternativen von allen sind.

Die Ernährungs-Konzept-Pyramide

Damit meine Ausführungen ein bisschen klarer werden – und das imaginäre Bild der Ernährungs-Konzept-Pyramide endlich etwas konkreter wird – habe ich hier die obrigen Erläuterungen skizzenhaft dargestellt:

Der Trauerfall: Wir haben verlernt, was gutes Essen ist

Jetzt haben wir so viel über Ernährungskonzepte und ihre Sinnhaftigkeit erfahren – und auch, welche wir um der Welt Willen bevorzugen sollten. Was hat das Ganze nun mit einem Trauerfall zu tun?

Ganz einfach: Wir haben vergessen, gut zu essen. Richtig zu essen. Maßvoll zu essen. Auf unseren Körper zu hören.
 
Dies ist der einzige Grund, weshalb gefühlt 1000 Ernährungstrends und mindestens doppelt so viele Diät-Programme durch die reale und digitale Welt geistern.

Durch die ständige Lebensmittelverfügbarkeit und die andauernde, penetrante Bombardierung mit verführerischen Nahrungsmittelangeboten durch die Medien sind wir rund um die Uhr unbewusst dem Essen ausgeliefert. Und da greifen wir dann gerne einmal mehr zu als nötig – wo es doch so günstig, so bequem, so lecker ist.

Das Grab – der Menschheit und des Individuums

Und genau hier verleugnen wir uns. Verleugnen wir unseren Körper, unsere Identität als Menschen, als eigentlich-noch-immer-Tiere, als gar nicht der heutigen Zeit und der heutigen Ernährung Angepasste. Und damit tragen wir uns selbst ein bisschen zu Grabe.

Das Nicht-Mehr-Wissen um das, was dem eigenen Körper, dem eigenen Organismus zum reibungslosen Funktionieren gut tut, um die ausreichende Nahrungsmenge, um die ergänzende Bewegung, die wir als von urzeitlichen Land- und Steppenläufern abstammende Wesen nun einmal brauchen, aber nicht bekommen – ist ein Schritt in Richtung menschliches Grabes.

Und das nicht nur im metaphorischen Sinne: Millionen von Menschen in den Industrieländern leiden an sogenannten Zivilisationskrankheiten – Diabetes, Übergewicht, Karies, Herz-Kreislauf-Störungen und so weiter – und sterben tatsächlich jedes Jahr daran.

Durch unsere Essgewohnheiten schaufeln wir uns unter Umständen unser eigenes Grab – so dramatisch es klingt, so dramatisch ist es auch.

Hier befinden wir uns auf der zweiten Ebene, wo Ernährungskonzepte wie Clean Eating, glutenfreie und superfoodlastige und Rohkost-Ernährung greifen und den Menschen wieder dahin zurückzuführen suchen, wo er eigentlich kulinarisch hingehört: in die unbearbeitete, rohe und frische Natur. Weg von dem konventionellen, hoch industriell verarbeiteten Kram, der die Bezeichnung Lebensmittel nicht verdient.

Die wichtigsten Regeln des Clean Eating lauten deshalb auch:

Clean Eating Do’s

* Frühstücken. Und zwar jeden morgen. Somit hast du gleich genug Energie für den Start in den Tag und dein Stoffwechsel wird direkt angekurbelt.
* 5 bis 6 kleine Mahlzeiten über den Tag verteilen. Somit bleibt der Heißhunger aus und der Stoffwechsel bleibt aktiv. Dabei eine angemessene Portionsgröße beherzigen und hier natürlich auch nicht übertreiben.
* Auf eine ausgewogene Ernährung achten. Also gute Fette (z.B. aus Nüssen oder Kokosöl), langsam verdauliche Kohlenhydrate (z.B. Haferflocken, Quinoa) und wertvolle Proteine (z.B. Bohnen, Eier), frisches Obst und Gemüse in den Speisplan mit aufnehmen.

Clean Eating Dont’s

* Auf Nahrungsmittel mit künstlichen Zusätzen (Geschmacksverstärker, Farbstoffe etc.) verzichten.
* Leere Kalorien wie Weißmehl oder Zucker vermeiden. Das gilt auch für zuckerhaltige Getränke.
* Ungesunde Fette wie gehärtete Öle und Transfette aus der Ernährung streichen (z.B. in  Chips, frittierten Lebensmitteln, Fertigsuppen und -soßen).
* Auf Alkohol (soweit wie möglich) verzichten.

Und Hand auf’s Herz: Eigentlich wissen wir das doch alles, oder?

Maria hat übrigens vor einiger Zeit auch selbst einen Beitrag zum Clean-Eating-Konzept veröffentlicht.

Das ist hier die Frage

Die vegetarische und vegane Ernährung geht aber noch weiter: Gutes Essen ist nicht gleich gesundes Essen. Der Wert guten Essens erschöpft sich nicht darin, gut für den Körper zu sein. Hier kommt eine zweite, immens wichtige Variable hinzu: die Seele. Oder die innere Einstellung, das gute Gewissen, die moralische Verpflichtung – wie auch immer man es nennen möchte.

Vegetarismus und Veganismus befinden sich auf der Stufe, auf der die Frage “Ist das gut für mich?” gegen “Ist das gut für die Welt?” eingetauscht wird.

Und eigentlich ist es ein trauriger Irrsinn, dass wir nicht von selbst darauf kommen. Nicht von selbst merken, dass das, was hierzulande und überall auf der Welt tagtäglich in Pelzfarmen, Mastbetrieben und Milchbauernschaften abläuft, nicht normal – und am allerwenigsten: natürlich – ist.

Doch da wir (und da schließe ich mich dezidiert mit ein) offensichtlich verlernt haben, dass gutes Essen nicht einfach schmackhaft oder gesund für uns allein, sondern im Idealfall für andere Menschen und Tiere ist, benötigen wir Essenstrends, die uns dies aufzeigen.

Ernährungstrends – unsere Rettung?

Weder noch – es kommt (wie so oft) darauf an, was wir aus ihnen machen. Selbstverständlich ist es nicht ratsam, jedem neuen Trend hinterher zu laufen – aber das gilt nicht nur für die Ernährung, sondern analog ebenso für Mode, Einstellungen und insgesamt dem eigenen Konsum.

Doch bei der Ernährung kann die kritik- und reflektionslose Übernahme von neuen, als trendy geltenden und darum gehypten Konzepten auch schnell gefährlich werden – denn jeder Körper, das wissen wir, is(s)t anders.

Doch wir brauchen sie auch – die Trends. Weil wir ohne sie nicht auf die möglicherweise besseren Alternativen zu unserem bisherigen Lebensstil aufmerksam gemacht werden.

Wir brauchten und brauchen den veganen Sternekoch Attila Hildmann (in Anbetracht der aktuellsten rassistischen Äußerungen sei diese These revidiert und ein Name xy dafür eingesetzt, der dem oder der Leser*in einfällt), der uns am Ego packt und über unseren Wunsch nach gesünderem Leben und besserem Körper an den Gedanken des Veganismus gewöhnt.

Wir brauchen die You-Tube-Channel-Vorreiter*innen, die jeden Morgen freudestrahlend ihren High-Protein-Shake in die Kamera halten und uns vom letzten Workout vorschwärmen. Wir brauchen auch eine Sarah Wiener, über deren Argumente wir vielleicht nur den Kopf schütteln können und die uns in Rage bringen.

Wir brauchen sie, damit wir endlich anfangen, zu denken. Und dann, nachdem wir gemerkt – und ehrlich eingesehen – haben, dass das alles so nicht weitergehen kann – dann müssen wir handeln.


Jenni ist Studentin der Germanistik, wohnhaft im schönen Münsterland und seit etwa einem halben Jahr überzeugte ethische Veganerin. Auf ihrem Blog “Mehr als Grünzeug!” verarbeitet sie sämtliche Erfahrungen, die diesbezüglich auf sie einströmen und gibt gleichzeitig ihren Leidenschaften – dem Schreiben und dem Kochen bzw. Backen – einen digitalen Raum.

Alle Bilder und Grafiken für diesen Beitrag wurden von Jenni zur Verfügung gestellt. Vielen herzlichen Dank!


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