Die tiefgründigste Methode für die Ansammlung von Verdienst und Weisheit ist im Vajrayana ein Ganachakra-Festmahl (tib., tshogs). Diese Zeremonie schafft eine wunderbare Gelegenheit für die Praktizierenden, zumindest ein wenig zu verstehen, dass sie nicht länger mehr gewöhnliche fühlende Wesen sind. Üblicherweise haben wir ja nicht die geringste Ahnung davon, dass wir eigentlich Gottheiten[1] sind, daher sind wir ohne dieses Vertrauen immer nur gewöhnlich. Beim Ganachakra-Festmahl haben die Praktizierenden die Möglichkeit vorzugeben, dass sie Gottheiten sind. Das ist der Anfang der reinen Schau (tib., dag snang). Wenn man also versteht, dass wir Gottheiten sind, dann erschaffen wir ein reines Mandala und durch diese Erfahrung können wir Erleuchtung erlangen.
Nur im Vajrayana
Die Praxis des Ganachakra-Festmahls gehört einzig zum Pfad des Tantra, dem Vajrayana. Weder die Pfade des Hinayana noch des Mahayana haben eine Vorstellung, wie man ein Ganachakra ausführt. Es ist eine machtvolle Praxis, weil sie uns über die gewöhnlichen Konzepte hinausführt. Das Training im Sutrayana bezieht sich immer auf den Geisteszustand. Gemäß dem Sutrayana sollten wir immer Dinge opfern, von denen wir denken, dass sie nett oder schön sind, wie Räucherwerk, Blumen, die drei Weißen (Milch, Joghurt und Butter) oder die drei Süßen (Honig, Zucker und Melasse). Wir können im Sutrayana keine Dinge wie Fleisch oder Alkohol opfern. Außerdem sind die Praktizierenden meistens Mönche oder Nonnen gemäß der Sutrayana-Tradition und diese praktizieren häufig nicht gemeinsam. Gemäß dem Vajrayana können die Praktizierenden auch Yogis oder Yoginis sein und eine Zusammenkunft für ein Ganachakra-Festmahl beinhaltet sowohl Männer wie auch Frauen. Das Sutrayana bezieht sich auf die äußere Ebene und fokussiert auf speziell vorgeschriebene Handlungen. Die Praxis des Vajrayana gleicht alle diese Konzepte aus und nivelliert sie.
Sichtweise und Konzepte
Eine Geschichte von Lama Tharchin soll das veranschaulichen. Vor ein paar Jahren kam ein Besucher aus Europa zur Ganachakra-Puja. Er sah sehr „professionell“ aus, war wie ein Yogi gekleidet, hatte einen Haarknoten und trug einen Meditationsgurt. Als der Lama ihn zum ersten Mal erblickte, dachte er sich: „Wow! Ein echter Yogis ist heute gekommen!“ Dann machten sie alle gemeinsam eine Ganachakra-Puja. Lama Tharchin blickte weiter in das Gesicht des Yogis. Das war ziemlich hart, viele Muskeln waren sehr angespannt. Am Ende des Ganachakra-Festmahls kam der Yogi zum Lama und sagte: „Siehst du dich selbst als Buddhist?“ Lama Tharchin antwortete: „Ja, schon irgendwie.“ Der Yogi: „Was denkst du dir dabei, du ist Fleisch und trinkst Wein?! Nicht nur das, sondern du stellst sie auch auf den Schrein! Wie bringst du das alles mit der buddhistischen Philosophie in Einklang?“ Der Yogi war wirklich aufgebracht! Lama Tharchin empfand, wenn er seine Frage beantworten würde, dann würde es den Yogi wohl umhauen, also sagte er bloß: „Ja, wir sind einfach ein paar schlechte Buddhisten hier.“ Dann fragte ein anwesender Khenpo, es war Khenpo Orgyen Thinle Rinpoche, der neu dabei war und nicht viel Englisch sprach, was geredet worden war. Nachdem Lama Tharchin ihm das erzählt hatte, meinte er: „Das ist wirklich eine gute Antwort! Kein weiteres Argument.“
Was mit diesem Mann jedoch wirklich geschah, er hatte einfach Konzepte, dass Buddhisten kein Fleisch essen und keinen Wein trinken. Das war deshalb so, weil er nur Sutrayana-Buddhismus kannte. Er hatte überhaupt keine Ahnung vom Vajrayana und glaubte nicht an seine Traditionen. Das Ganachakra-Festmahl ist auch sehr speziell, weil der Kern des Buddhadharma nicht äußerlich ist. Indem man die Praxis des Ganachakra ausführt, kann man wirklich Resultate erzielen. Wenn man die eigene Praxis nur auf einer äußerlichen Handlungsebene bleibt, dann ist das etwas, was Patrul Rinpoche als „Weißes Samsara“ bezeichnet hat. Es ist nicht wirklich negativ, weil man Heilsames praktiziert, aber diese Art der Übung basiert noch immer auf einem dualistischen Standpunkt. Vielleicht trifft man eine Entscheidung, dass die Opfergabe der drei Süßen und der drei Weißen eine reine Gabe ist, während die Opferung von Fleisch und Alkohol eine unreine Opfergabe ist. Während das Darbringen dieser Gaben heilsam ist und somit einen positiven Effekt hat, wird eigentlich eine dualistische Geisteshaltung beibehalten. Natürlich dient das Sutrayana als Grundlage für das Vajrayana, aber wie kann man jetzt gegen die Grundlage sein, wo doch das ganze Gebäude darauf fußt? Wenn man jetzt dagegen wäre, dann wäre das auch Dualismus. Aber es ist besser, nicht auf einer äußeren Praxisebene festzustecken, die auf spezielle Handlungen fokussiert. Wir müssen wirklich unseren Geist prüfen. Wer ist der Wahrnehmende? Wer trifft diese Entscheidung, dass ein Ding rein und ein anderes unrein ist? Wer akzeptiert nicht, dass Fleisch und Alkohol eine Opfergabe an die Mandala-Gottheiten sind?
Geschickte Mittel
Das Vajrayana hat sehr machtvolle Techniken, die es ermöglichen, direkt die uranfängliche Weisheit zu erkennen. Da gibt es Techniken, um alle diese dualistischen Konzepte zu befreien, alles auszugleichen, einschließlich der drei Weißen und drei Süßen und Fleisch und Alkohol – ohne irgendetwas anzunehmen oder zurückzuweisen. Dieser Ort ist die Grenze des Geistes, der Ort, wo die dualistischen Gedanken verschwinden. Wenn wir unsere Praxis bis zu diesem Punkt bringen, dann kann sie wirklich sehr machtvoll sein. Wenn wir auf einer objekthaften Ebene bleiben, dann treffen wir Urteile wie: „Die Gottheiten mögen kein Fleisch und keinen Alkohol. Sie mögen die drei Weißen und die drei Süßen.“ Das macht die Gottheiten dann zu etwas sehr Gewöhnlichem oder Weltlichem. Wenn die Gottheiten ein paar Opfergaben akzeptieren und andere zurückweisen, wie ist diese Gottheit dann wirklich von uns verschieden? Wenn wir über alle diese Konzepte und diskursiven Gedanken jenseits des Annehmens und Zurückweisens hinausgehen, dann haben die tantrischen Substanzen wie die fünf Fleische die Macht, die Verwirklichungen, die Siddhis, rascher herbei zu ziehen. Es gibt auch fünf Substanzen uranfänglicher Weisheit, die wie eine Lampe fungieren, die die Fähigkeit hat, dass unsere Weisheit erstrahlt und glänzt. Diese uranfängliche Weisheit erscheint mächtiger ohne Anzunehmen und Zurückzuweisen, einfach durch Entzerren, durch Ausgleichen. Diese Art der höheren Sichtweise und Ansammlung von Verdienst ist viel mächtiger als andere Techniken, die nur auf äußerliche Handlungen fokussieren, weil der Fokus selbst nichts anderes als der konzepthafte Geist ist.
Zusammengestellt aus einer Belehrung von Lama Tharchin Rinpoche. Das nächste Mal schildere ich den Ablauf des Ganachakra-Festmahls sowie die Wesen, an die das Resteopfer geht und das sechsfache Erfreuen. Bleibt dran!
[1] Damit sind Meditationsgottheiten gemeint, die eben ein Ausdruck der Buddha-Natur sind.