Ein Tag der alles veränderte

Wenn Hunger und Armut tägliche Begleiter sind, wird klar, warum sich Eltern dazu entscheiden, ihre jungen Töchter früh zu verheiraten. Eines Tages, Nitu selbst saß gerade an ihren Hausaufgaben, kam auch ihr Vater merklich erleichtert heim. Sie erinnert sich, dass er ungewöhnlich glücklich aussah und der Dorfälteste ihn begleitete. Er erzählte ihrer Mutter, dass er etwas Wundervolles getan hätte:

„Nitu wird noch diesen Monat heiraten. Die Familie des Bräutigams ist sehr großzügig und verlangt nur eine sehr kleine Mitgift.“ Nitus Vater strahlte vor Freude, sie selbst aber fühlte sich, als hätte ihr jemand in den Magen geboxt. Noch vor wenigen Tagen hatte sie ihrer Mutter erzählt, wie glücklich sie war, bald mit ihren Freunden auf die
weiterführende Schule zu gehen. In Nepal werden mehr als die Hälfte der Mädchen vor dem 18. Lebensjahr verheiratet – nun würde sie zu dieser stillen Mehrheit gehören. Schule, Lernen, ein eigenständiges Leben – all diese Träume zerbrachen mit der Entscheidung ihres Vaters. Nitus Platz wäre dann im Haushalt und sie selbst dem Willen ihres Mannes schutzlos ausgeliefert. Frühe Schwangerschaft, körperliche Leiden, Gewalt und Abhängigkeit – Nitus Lebens- und Leidensweg war beschlossen.

„Wir begannen, uns stark und wertvoll zu fühlen.“

Doch dann hörte Nitu von „Chunauti“. Das ist nepalesisch und bedeutet Herausforderung. Das CARE-Projekt wurde in ihrer Heimatregion durchgeführt, gerade als Nitus Hochzeit bevorstand. „Herausforderung“, denn CARE will die breite gesellschaftliche Akzeptanz von Kinderehen herausfordern und die Gemeinden ermutigen, mit dieser Tradition zu brechen. „Chunauti“ will zeigen, dass es der ganzen Familie nützt, wenn die Mädchen nicht zu früh verheiratet werden. Und dass es letztendlich eine Frage von Würde ist, wenn Mädchen selbst bestimmen können, wann und wen sie heiraten. Und wie funktioniert das konkret?

„In meinem Dorf bildeten sich Komitees und Beratungsgruppen, die sich gegen Kinderheirat und für die Stärkung von Frauen einsetzen. Bei vielen selbstorganisierten Aktivitäten und Gesprächen lernten wir, dass Kinderheirat für junge Frauen und die gesamte Gesellschaft schädlich ist“, erzählt Nitu. Alle verantwortungsvollen Posten in den Komitees wurden außerdem mit Menschen aus niedrigen Kasten besetzt. „Wir begannen, uns stark und wertvoll zu fühlen“, fasst Nitu eindrucksvoll zusammen.

Die Menschen sollen nicht bloss Zuschauer sein

Im Zentrum des Chunauti-Projektes stehen Gespräche und Diskussionen, bei denen alle Dorfbewohner, Männer und Frauen, Mädchen und Jungen, alte und junge Menschen mitmachen. Jeder soll Teil der gesellschaftlichen Veränderung sein, nicht bloß Zuschauer oder gar Kritiker. In Nitus Dorf sprach das Komitee, das sich dem Thema Kinderehe annahm, dann mit allen Familien der Gemeinde. Auch ihr eigener Vater wurde angesprochen und stellte kritische Fragen: „Wie soll ich die Schulbildung meiner Tochter bezahlen? Und wie gleichzeitig meine Familie ernähren?“ Das Komitee konnte ihm darauf antworten und überzeugte ihn, an verschiedenen Aktivitäten zu dem Thema teilzunehmen, darunter etwa Workshops und Bildungsangebote, die über die Folgen von Kinderehen informieren. Alle Beteiligten wurden bei den Workshops miteinbezogen, also auch Nitus Vater. Und das zeigte Wirkung. Nach einer Weile wandelte sich seine Einstellung und er drängte seine Tochter nicht mehr zu einer frühen Heirat, sondern wollte sie weiter zur Schule gehen lassen. Denn mit dem erlernten Wissen würde sie ihre Familie in Zukunft viel besser unterstützen können.

Dann passierte etwas Unglaubliches:  Nitu nahm in ihrem Dorf gerade an einer Rallye gegen Kinderehen teil, da hörte sie eine laute Stimme aus einem Megafon. Doch es war nicht irgendeine Stimme – sondern die ihres Vaters. Er rief durch das Megafon laut in die Menge: „Kinderehe ist ein Verbrechen!“ und „Gebt den Mädchen keine Mitgift, gebt
ihnen Bildung!“ Nitu war begeistert, dass ihr Vater sich nun gegen Kinderehen einsetzt und sie die weiterführende Schule besuchen kann: „Meine Augen füllten sich mit Freudentränen. Ich hatte es endlich geschafft! Dank eines Stipendiums von CARE bin ich nun eines der wenigen Mädchen, die die weiterführende Schule besuchen können.“

Solche Erfolge zeigen, dass es nicht umsonst ist, sich gegen Kinderehen und für eine selbstbestimmte Jugend, gerade für Mädchen einzusetzen. Würde sich der Trend der Vergangenheit fortsetzen, gäbe es in den nächsten zehn Jahren weitere100 Millionen Kinderbräute weltweit. Um das zu verhindern, arbeitet CARE daran, den Wandel in den Köpfen voranzubringen.

Damit es bald noch viele weitere junge Frauen wie Nitu gibt, die sagen können:

„Das Chunauti-Projekt hat mir eine Zukunft gegeben.

Lesen Sie hier Teil 1 “Zur Heirat gezwungen”

Aus: care_affair  / care.de

Ein Tag der alles veränderte

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