Ein schönes Weihnachten.

ES KANN NICHT MENSCHLICH SEIN, DER EINEM GANZEN VOLK GEWALT ANTUT.
(Vincent Deeg)
Wie soll man es nennen? Das Gefühl, das sich, gleich einem wütenden Waldbrand in einem ausbreitet, wenn man der Gewalt zuschauen muss. Wenn man nicht eingreifen darf.
„Das wird bestimmt ein schönes Weihnachtsfest“. Sagte Heinz noch lächelnd zu seiner Frau Jutta, während er betont vorsichtig die Fahrertür des nagelneuen Wagens, ein silberfarbener und nach neuem Auto duftender Mercedes E200, den er und Jutta vor ein paar Tagen erst vom Händler geholt hatten schloss, den Dieselmotor anwarf und langsam die kleine, von Rosenbüschen umsäumte Ausfahrt ihres Hauses herunter fuhr, die sie im letzten Jahr hatten bauen lassen.
„Oh ja. Das wird es ganz sicher“. Antwortete ihm Jutta ebenfalls lächelnd, indes sie es sich, wissen, dass sie bis zu ihrem Zielort noch eine lange und anstrengende Reise vor sich hatten auf ihrem ledernen Beifahrersitz bequem machte.
Eine lange und anstrengende Reise? Das war es in der Tat. Denn Heinz und Jutta hatten sich auf den Weg gemacht, um ihre Verwandten zu besuchen, mit denen sie, wie in jedem Jahr das Weihnachtsfest verbringen wollten. Verwandte, die in der etwas über fünfhundert Kilometer entfernten Stadt Dresden wohnten und die bereits sehnsüchtig auf den Besuch aus dem Westen warteten.
*
Auch Heinz und Jutta freuten sich auf die bevorstehenden Festtage. Auf die, wie sie beide hofften in Weiß getauchte Altstadt von Dresden, auf den Dresdner Striezelmarkt, den sie der dort angebotenen Schnitzereien, den kunstvoll angefertigten Weihnachtspyramiden und Schwibbögen wegen so gern besuchten, auf den Dresdner Stollen, den es zu jedem Weihnachtsfest gab und natürlich auf die großen und hell leuchtenden Kinderaugen, die sie erwarteten, wenn es zur Bescherung an der Haustür laut klopfte und der rotgewandete und wattebärtige Weihnachtsmann, der in der Regel von Juttas Mann Heinz gespielt wurde, eindrucksvoll das festlich geschmückte Wohnzimmer betrat und nachdem er von jedem der Kinder ein Gedicht oder Lied gehört hatte, die Geschenke aus dem alten und mehrmals geflickten Kartoffelsack holte.
Ja. Es war ein schönes Weihnachtsfest, auf das sich die beiden während ihrer Fahrt, die von einer, wie immer sehr ausgelassenen Stimmung begleitet wurde freuten. Zu dieser Zeit konnten sie noch nicht ahnen, dass diese Freude schon bald getrübt und das ihnen bevorstehende Fest von einen dunklen und schwer auf der Seele liegenden Schatten bedeckt sein würde.
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Jeder, der damals vom Westen in den Osten gefahren ist kennt sie. Die stark bewachten Grenzübergänge. Die kalten und oft bösen Augen der DDR Grenzer und die unendlich langen und völlig unsinnigen Diskussionen, die man jedes Mal mit diesen Leuten führen musste, wenn man zum Beispiel vor Antritt der Fahrt vergessen hatte, die Tageszeitung aus dem Wagen zu entfernen, dessen Titelseite mit einem fast oder auch ganz nackten Mädchen verziert war. Bilder, die für den Besitzer dieser Zeitung nichts Besonderes an sich hatten, die aber von dem eine oder andere Uniformierte als pornographischen Schmutz des Westens bezeichnet wurden, der in der DDR nichts zu suchen hatte. Oder wenn man, um sie einem Jugendlichen der Verwandtschaft zum Geburtstag oder eben zu Weihnachten zu schenken, eine Schallplatte einer Band in seinem Gepäck hatte, deren Musik von der DDR Führung als sozialistisch bedenklich angesehen wurde.
Schikanen und Wichtigtuereien, die Heinz und Jutta nicht nur zur Genüge kannten, sondern die ihnen schon lange nicht mehr die Stimmung und erst Recht nicht das Weihnachtsfest verderben konnten. Nein. Diesen beiden konnte, zumindest, was diese Grenze und seine Bewacher betraf nichts mehr aus der Fassung bringen. Nichts, außer dem Ereignis, dass sie, gerade, als sie sich mit ihrem Mercedes in der langen Schlange der auf ihre Einreise wartenden Fahrzeuge eingereiht hatten, mit ansehen mussten.
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Es war wie in einem Alptraum, was Heinz, Jutta und all die anderen Reisenden damals an diesem Grenzübergang erleben mussten. Eine Kette von Ereignissen, die vermutlich bei einigen der vielen unfreiwilligen Zuschauer nicht nur Entsetzen, sondern auch eine, wenn auch stille, aber doch spürbare Wut auslöste.
„Steigen Sie sofort wieder ein“. Schrie sie einer der Grenzer mit durchgezogener und auf ihre Köpfe zielenden Waffe an, nachdem Heinz und Jutta entsetzt den Wagen verlassen hatten und wie die anderen fassungslos das Schauspiel beobachteten, das sich ihnen da bot. Ein grausiges Bild, in dem, untermalt von dem ohrenbetäubenden Kreischen einer Alarmsirene, dem beinahe irren Geschrei der Grenzsoldaten und dem metallischen Geräusch, das das Durchladen der Sturmgewehre des Typs AK47 verursachte ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren versuchte, die Gunst der Stunde zu nutzen und über den von Autos voll gestellten Grenzübergang in den Westen zu fliehen.
Ein Versuch, dessen Scheitern man dadurch bewirkte, dass man den Flüchtenden erst mit ein paar gezielten Tritten in die Beine und in den Rücken stoppte, ihn mit ein paar brutalen Schlägen mit dem Gewehrkolben am Boden hielt, um ihn dann, am Ende dieser Verhaftung mit ebenso brutaler Gewalt in eines der Gebäude zu verschleppen, die zur Grenzanlage gehörten.
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Heinz und Jutta fuhren damals trotz dieses Ereignisses, trotz der ohnmächtigen Wut und der Fassungslosigkeit, die sie an diesem Tag fast überwältigt hatte, nach Dresden. Dort, wo sie zwar mit ihren Verwandten das Weihnachtsfest begingen, wo sie aber immer das Gesicht dieses jungen Mannes vor Augen und dessen auch zu ihnen herüber geschrienen Worte,
„Mein Name ist Peter Kramer. Bitte helfen Sie mir“
in den Ohren behielten.
Das Gesicht und die Worte, die sich bis heute in ihr Gedächtnis eingegraben haben. Das Gesicht und die Worte eines jungen Mannes, dessen weiteres Schicksal ihnen, trotzdem sie sich nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatstadt an die zuständigen Behörden, sowie an das Rote Kreuz und an die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wandten, bis heute unbekannt ist.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.

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