Ein Schlips zum Verlieben

Von Hillebel
Sandra findet, dass ihr neuer Nachbar Jost Herding einsam und traurig aussieht, und auch etwas bieder und langweilig. Sie beschliesst, sich um ihn zu kümmern. Auf rein freundschaftlicher Basis, denn ihr Herz gehört ja schon einem anderen ...
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„Guten Tag, Frau Gersch.“
Sandra erkannte ihren neuen Nachbarn wieder. Er liess ihr an der Haustür höflich den Vortritt.
„Hallo, Herr Herding!“ grüsste Sandra fröhlich zurück. Jost Herding war vor einer Woche in die Wohnung nebenan gezogen. Seine guten Manieren gefielen ihr, aber seine äussere Erscheinung ...! Während sie zusammen im Fahrstuhl hochfuhren, musterte sie ihn verstohlen. Er schien nur klassische Anzüge, weisse Hemden und Opa-Schlipse zu besitzen. Sein dichtes Haar trug er straff zurückgekämmt. Er wirkte langweilig und bieder, fand Sandra, und sehr mitteilsam schien er auch nicht zu sein. Sehr glücklich auch nicht.
Sandra hatte ein gutes Herz und interessierte sich für ihre Mitmenschen. Dieser Mann brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte, entschied sie. Freundlich fragte sie: „Wie gefällt Ihnen Hamburg, Herr Herding?“
„Recht gut, es ist nett, dass Sie fragen.“
Seine Antwort ermutigte sie. „Langweilen Sie sich nicht?“ fragte sie weiter. „Ich meine, man kann sich ziemlich allein fühlen so am Anfang in einer fremden Stadt.“
„Ach, mein Job wird mich schon genug in Anspruch nehmen“, meinte er.
Sandra beschloss, hartnäckig zu bleiben: „Na, wenn Ihr Beruf Ihnen abends etwas Zeit lässt, kommen Sie doch zu einem Glas Wein herüber. Wir sind doch Nachbarn und sollten uns vielleicht etwas besser kennenlernen.“
Als sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, war ihr einen Augenblick sehr unbehaglich zumute. Worauf hatte sie sich da eingelassen? Das hatte sie nun von ihrem Kümmerertrieb ...
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„Sie meinen, ich sollte mich anders anziehen?“ Jost Herding sah ziemlich ratlos an sich herunter. Dabei hatte er extra das Hemd gewechselt und eine andere Krawatte umgebunden, ehe er zu seiner hübschen Nachbarin hinüberging.
Zwei Gläser Wein hatte Sandra gebraucht, um mit der Bemerkung herauszurücken. „Wenn es schon ein Anzug sein muss, dann sollten Sie ihn wenigstens etwas heller wählen. Sie könnten auch mal einen Pullover zum Hemd anziehen, und zum Beispiel den Pullover um die Schulter knoten. Und schwarze blankgeputzte Schuhe müssen es auch nicht unbedingt sein.“
„Wissen Sie, in meinem Beruf ... Ich bin jetzt der jüngste Rechtsanwalt in einer sehr seriösen Sozietät. Na ja, ich war halt immer sehr seriös ...“
Sandra trank noch einen Schluck: „Arbeiten Sie denn immer? Gehen Sie nie aus?“
„Ich kenne niemanden hier“, zögerte er.
„Das wird sich bald ändern“, tröstete sie ihn. Damit es keine Missverständnisse gab, setzte sie hastig hinzu: „Mein Freund ist gerade in Berlin, ich habe also Zeit.“ Auch falsch! Das klang ja so, als ob sie einen Ersatz für Hajo suchte, oder?
Überstürzt fuhr sie fort: „Morgen ist Samstag und ich habe frei. Wir könnten zusammen in die Stadt gehen, dann zeige ich Ihnen, was ich meine. Ich bin sicher, dass Sie viel mehr aus Ihrem Typ machen könnten.“
Ja, das würde Spass machen, und es war genau das Richtige, um sie von ihren Gedanken an Hajo abzulenken. Hajo Wolf, hochgewachsen, gutaussehend und sportlich, ihr absoluter Traummann, brachte nun schon seit über einem Jahr in Herz zum Klopfen. Er hatte noch nicht von Heirat gesprochen, aber das mochte daran liegen, dass er als Unternehmensberater sehr beschäftigt war. Er war noch dabei, sich einen Platz an der Sonne zu schaffen.
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Jost stand etwas linkisch vor dem Spiegel, und sein Anblick, der Anblick eines unbeholfenen Mannes in einem Herren-Bekleidungsgeschäft, rührte Sandra irgendwie. Geduldig hatte er sich von ihr und der blonden Verkäuferin beraten und einkleiden lassen: Freizeithose, dezent kariertes Hemd, heller Pullover.
Jetzt beobachtete sie, wie die junge Verkäuferin mit den getuschten Wimpern klimperte und Jost bei jeder Gedelenheit anlächelte. Sie flirtete mit ihm! Der erste Erfolg, selbst wenn Jost nichts davon zu merken schien.
„Toll sehen Sie aus“, sagte die Verkäuferin zum Schluss.
„Ja, wirklich gut“, bestätigte Sandra zufrieden.
Jost Herding bezahlte ohne mit der Wimper zu zucken mit seiner Kreditkarte. Die neuen Sachen hatte er gleich anbehalten, sein Anzug wurde in eine Tragetasche gesteckt. Und der anschliessende Schuhkauf - Slipper aus weichem braunen Leder, war dann schnell erledigt.
Als sie ein Café betraten - Jost Herding hatte darauf bestanden, Sandra zum Dank einzuladen - bemerkte sie die Blicke einiger Damen, die ihm folgten. Die Alterskategorie kam noch nicht ganz hin, die Damen waren mindestens zehn Jahre älter als ihr Schützling, aber das lag an der Frisur, entschied Sandra. Sie wartete, bis die beiden Kännchen Kaffee mit dem Stück Kuchen vor ihnen standen und meinte dann: „Jost, Sie sollten sich einen flotteren Haarschnitt zulegen.“
„Hmm.“ Er schien zu überlegen. Dann überrumpelte er sie mit einem Lächeln: „Und wenn wir mal nicht mehr von mir, sondern von Ihnen sprechen? Bitte, erzählen Sie mir doch etwas über sich. Was tun Sie beruflich, was mögen Sie, und was mögen Sie nicht? Abgesehen von meinem Aussehen?“
Er hatte Humor, stellte sie überrascht fest. Das hätte sie ihm gar nicht zugetraut. „Also, ich arbeite in einem Reisebüro. Meine Hobbys sind Bücher, Reisen und Fremdsprachen.“ Und Kinder, hätte sie beinahe hinzugefügt, für Kinder würde sie sogar leichten Herzens das Reisen aufstecken, aber das hatte hier wohl nicht seinen Platz.
„Und Sie sind bezaubernd.“
Sie sah ihn verwundert an. Genügte es denn schon, in anderer Kleidung herumzulaufen, um einen reservierten Mann in einen Draufgänger zu verwandeln? Es bestand allerdings die Möglichkeit, dass sie sich von Grund auf in ihm geirrt hatte. Der Gedanke war verwirrend und etwas peinlich.
„Das Kompliment darf ich Ihnen doch machen, obwohl Sie einen Freund haben?“ In seiner Stimme klang tatsächlich Bedauern mit. Jetzt musste sie aufpassen, dass er keine falschen Schlüsse zog. Schliesslich wollte sie ihm nur helfen. Und zwar nur das.
Rasch sah sie auf die Uhr: „Es tut mir leid, Jost, aber ich muss nach Hause. Vielleicht möchten Sie ja noch etwas in der Stadt bleiben?“
„Selbstverständlich begleite ich Sie.“ Schon winkte er der Bedienung, um zu zahlen.
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Die folgenden beiden Wochen grüsste sie absichtlich nur kurz, wenn sie sich begegneten. Der neue Haarschnitt stand ihm richtig gut, konnte sie dabei feststellen. Damit sah er jetzt selbst in seinen alten, langweiligen Anzügen viel besser aus, und das freute sie. Sie konnte dieses positive Gefühl gut gebrauchen, denn ihr restliches Leben glich in diesen Tagen eher einer Tragödie.
Sie hatte mit Hajo gesprochen. Hatte ihm gesagt, dass sie mit bald 27 Jahren gern eine Familie gründen würde. Worauf Hajo einige dumme Sprüche vom Stapel gelassen hatte, die er wohl witzig fand: „Hoffentlich nicht mit mir? Doch? Deine biologische Uhr fängt aber früh an zu ticken, Liebling. Gewöhnlich passiert das bei euch doch erst so um die 35. Von dir hätte ich das sowieso nie gedacht, du bist doch alles andere als ein Hausmütterchen-Typ!“
„Was ist denn deiner Meinung nach ein Hausmütterchen-Typ?“ hatte sie spitz gefragt.
Er brauchte nicht lange zu überlegen: „Hausmütterchen sind mollig und unscheinbar. Mütterlich, eben.“
Hajo kam ihr doch tatsächlich mit diesen blöden Klischees!
Sie wollte es jetzt genau wissen: „Hajo, kannst du dir im Prinzip eine gemeinsame Zukunft zwischen uns vorstellen?“
„Ich entscheide nicht gern mit einer Pistole vor der Brust, Schätzchen. Gib mir etwas Zeit, okay?“
Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört.
In Gedanken versunken durchquerte sie die Eingangshalle des Appartmenthauses. Jost stand vor dem Fahrstuhl, aber nicht allein. Er war in Begleitung einer äusserst attraktiven Frau. Kastanienfarbenes Haar, grüne Augen, endlos lange Beine. Sie grüssten Sandra mit einem freundlichen Lächeln. Sandra grüsste zurück. Oben verschwanden die beiden in Josts Wohnung.
Jetzt hatte Jost also eine Freundin! Sandra ertappte sich dabei zu horchen, was nebenan geschah, aber die Wände waren tadellos isoliert. Seufzend stellte sie schliesslich den Fernseher an ...
Am nächsten Morgen begegnete sie Jost wieder im Aufzug. Er war allein. Sollte sie ihn nach seiner Begleiterin fragen? Oder war das indiskret? Ihr war, als blinzle Jost ein paarmal zu ihr hinüber, aber dann hielt der Lift. Der Augenblick war verpasst ...
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Zwei Tage später ging es ihr noch schlechter, sofern das überhaupt möglich war. Denk nicht daran, dass heute dein Geburtstag ist, ermahnte sie sich. Und denk vor allem nicht mehr an das Telefongespräch gestern Abend mit Hajo. Sie hatte sich ein Herz gefasst und ihn angerufen. Um ihn sagen zu hören, dass er daran dächte, nach Frankfurt umzuziehen. Er könne ihr natürlich nicht zumuten, seinetwegen ihre interessante und gut bezahlte Arbeit aufzugeben, um ihm nach Frankfurt zu folgen, nicht wahr? Nach einem raschen: „Adieu, Sandra, ich wünsche dir alles Gute“, hatte er aufgelegt. Ohne sie zu Wort kommen zu lassen.
Noch einmal davongekommen ...! So beglückwünschte er sich jetzt sicher. Er verdiente keine einzige ihrer Tränen, aber es tat weh. Ja, es tat weh, sich wieder einmal derart geirrt zu haben. Sie dachte an Claus, den sie vor ein paar Jahren geliebt hatte. Auch er war ein gutaussehender Windhund gewesen.Was war mit ihr los? Hatte sie einen Webfehler? Wo war der Mann, mit dem sie glücklich werden konnte?
Es klopfte an ihre Tür. Als sie öffnete, stand Jost davor. In hellblauem Hemd und flottem Schlips mit fröhlichen Margeriten darauf. Sehr mutig für einen Mann wie Jost, dachte Sandra und musste schmunzeln.
„Störe ich?“ fragte er vorsichtig.
„Natürlich nicht, kommen Sie herein.“ Sie freute sich, ihn zu sehen.
Er stand im Wohnzimmer und sah sich anerkennend um: „Ich habe Ihnen das letzte Mal nicht gesagt, wie hübsch und gemütlich es bei Ihnen ist.“
Ja, es war hübsch bei ihr: die hellen Möbel, die Vorhänge mit dem zarten Blumenmuster. Ein echter, wenn auch ziemlich abgewetzter Perserteppich, den sie, genau wie das alte Rosenthalgeschirr, auf dem Flohmarkt gefunden hatte.
Jetzt zauberte er einen Blumenstrauss hinter seinem Rücken hervor: Zartrosa Rosen. Bei ihrem Anblick stiegen ihr heiss die Tränen in die Augen: „Danke, sie sind wunderschön“, sagte sie, als sie sie in eine Vase stellte. Spontan schlug sie vor: „Bleiben Sie zum Abendessen? Ich habe genug für zwei.“ Trotz aller Vernunft hatte sie gehofft, dass Hajo kommen würde. Dann fiel ihr Josts Freundin wieder ein. „Für drei würde es sicher auch reichen.“
„Danke, eine Portion genügt mir“, lachte Jost. „Darf ich den Wein dazu beisteuern?“
Er durfte. Und holte zwei Flaschen ausgewählten Burgunder von nebenan. Es wurde ein richtiges Festessen, rasch mit Hilfe von Jost, in ihrer kleinen Küche gezaubert. Und eingenommen am hübsch gedeckten runden Tisch in der Essecke.
„Jost, heute ist mein Geburtstag.“ Irgend jemandem musste sie es einfach erzählen.
„Ihr Geburtstag? Und Sie sind ganz allein?“
„Das bin ich ja nun nicht mehr.“ Sie lächelte tapfer.
„Ich dachte, Ihr Freund ...“
„Wenn es darauf ankam, war Hajo sowieso nie da.“
Jost runzelte kurz die Augenbrauen. Was den Schluss zuliess, dass ihm die Vergangenheitsform nicht entgangen war.
Er zog sein Handy aus der Tasche, tippte eine Nummer ein.
„Ja, eine Geburtstagstorte, haben Sie so etwas?“ Und zu Sandra gewandt: „Mögen Sie Käsekuchen?“
Sie nickte begeistert.
„Fein. Und Sie können gleich liefern? Wieviele Kerzen?“ Er sah fragend zu Sandra hinüber.
„Siebenundzwanzig“, sagte sie.
„Siebenundzwanzig“, wiederholte er. „Und ich möchte richtige Kerzen. Und dazu eine Flasche Champagner. Gut gekühlt.“ Er nannte die Adresse und legte auf.
„Ich bin dreissig“, sagte er dann, „und ich trage mich mit Heiratsgedanken. Eigentlich bin ich gekommen, um Ihnen das zu sagen.“
„Es gab eben Frauen, die Glück hatten: „Herzlichen Glückwunsch, Sie passen ganz wunderbar zusammen“, sagte sie ehrlich überzeugt.“
„Wer passt wunderbar zusammen?“ fragte er und sah etwas ratlos aus.
„Sie und Ihre Freundin im Fahrstuhl. Vorgestern.“
„Ach so, Natascha. Aber ...“
„Der Name passt zu ihr ...“
Jost unterbrach sie. „Bitte, lassen Sie mich aussprechen, Sandra, sonst verliere ich den Faden. Also, Natascha ... also, sie ist meine Ex-Frau. Sie kam, um mir zu sagen, dass sie wieder heiraten will.“
Sandra sah ihn mit offenem Mund an: „Sie ... Sie waren verheiratet?“
„Ja, aber wir haben schnell gemerkt, dass wir eher wie Bruder und Schwester füreinander empfinden. Das liegt wohl daran, dass wir uns von Kind auf kennen. Jetzt dagegen ...“
Es klingelte. Der Partydienst. Jost beglich die Rechnung und verschwand mit den beiden Isolierbehältern in der Küche. Kurz darauf kam er mit der Torte zurück, auf der 27 kleine Kerzen brannten. Dann holte er den Champagner, schenkte ein und hob das Glas: „Auf dich, Sandra. Alles Gute zum Geburtstag. Ich liebe dich, und was du mir auch antworten wirst, es wird nichts daran ändern, dass du die Frau meines Lebens bist. Es ist ... es ist passiert, als wir miteinander in der Stadt waren.“
Und plötzlich geschah ein Wunder. Ihr Herz klopfte, so stark und warm, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Damit er nicht sah, wie verwirrt sie war, pustete sie alle Kerzen auf einmal aus.
„Hast du dir etwas gewünscht?“ fragte er.
Sie nickte ernsthaft. „Ich habe etwas begriffen und mir etwas gewünscht. Ich habe begriffen, dass ich mich bis jetzt immer in die falschen Männer verliebt habe und wünsche mir ... ach, Jost, das musst du schon allein herausfinden ...“
Sie zog ihn an seinem Schlips ganz nah zu sich heran. Als er sie küsste, verstand sie nicht mehr, wieso sie ihn je bieder und langweilig finden konnte ...
ENDE