Ein Protestant übers Protestieren

Stuttgart 21 nervt. Das merkt mittlerweile wohl die gesamte Nation und wer, wie ich, in der unmittelbaren Nähe Stuttgarts wohnt, merkt es umso mehr. Als ich etwa letzten Donnerstag von einem Auftritt in Pforzheim nach Hause fuhr und am Stuttgarter Hbf umsteigen musste, war dort das Polizeiaufgebot größer als das Militäraufgebot an der Jerusalemer Central Bus Station.
Man kommt inzwischen also kaum mehr umhin, selbst an der Diskussion über das umstrittene Milliardenprojekt teilzunehmen. Und so ist mir auch erst seit wenigen Wochen bewusst, dass es heute offenbar nur noch "Kopfbahnhof" heißt und nicht wie früher "Sackbahnhof". Manch eine(r) mag nun kalauern, dass Kopf und Sack bei den meisten Männern ja ohnehin dieselbe Aufgabe erfüllen, aber wenn man sich schon auf ein derartiges Argumentationsniveau begibt, wird man ebenso feststellen müssen, dass auch der geplante Durchgangsbahnhof wohl für so manchen Baulöwen, Unternehmer und Politiker lediglich der Kompensationsversuch eines subjektiv als zu klein empfundenen Genitals ist.
Verständlich also, dass viele S21-Gegner den Verantwortlichen niedere Beweggründe vorwerfen und foglich das Projekt ablehnen. Ein weiteres Argument ist, dass der noch bestehende Hauptbahnhof unter Denkmalschutz steht und obendrein ein Wahrzeichen und eine Sehenswürdigkeit Stuttgarts sei. Nun, was den Denkmalschutz angeht, haben sie sicher recht, allerdings sollte man sich keine Illusionen machen: Bonatzens Bau ist hässlich wie die Nacht. Insofern wäre es - sofern gesetzlich möglich - erfreulich, wenn dieser einigen anderen Bauten weichen würde. Betrachtet man allerdings die momentan in der Nähe des Bahnhofs entstehende neue Bibliothek, so wird schnell klar, dass der Hbf das deutlich kleinere Übel ist.
Zwar mögen in einer Landeshauptstadt, deren Landtag architektonisch stark an den Palast der Republik erinnert, Gebäude mit dem Charme eines DDR-Plattenbaus irgendwie ihre Berechtitung haben, aber man muss ja im "Land der Tüftler und Techniker", wie Stefan Mappus es heute formulierte, nicht auch noch jeden Funken an künstlerischer Kreativität im Keim ersticken.
Um aber mal beim Herrn Ministerpräsidenten zu bleiben: dieser verglich heute das Bauprojekt rund um "das neue Herz Europas" mit einem typisch schwäbischen Häuslebauer, der sämtliche zum Bau nötigen Genehmigungen bereits besitzt, an dem Vorhaben, sein Haus zu renovieren, dann aber von Demonstraten aus der Nachbarschaft gehindert wird. Ein Vergleich, der offenkundig nicht nur hinkt, sondern geradezu querschnittsgelähmt ist. Die Gründe hierfür sind so zahlreich, dass ich exemplarisch nur einen nennen will: es geht bei S21 ja nicht um ein Bauprojekt, welches sich lediglich auf die Stadt beschränkt, sondern dazu gehört u.a. auch die geplante ICE-Neubaustrecke Stuttgart-Ulm, bei der man sich nur immer wieder fragt: wer will denn nach Ulm? Richtig, niemand. Aber diese Trasse soll auch bloß ein kleiner Streckenabschnitt der wesentlich größeren Hochgeschwindigkeitsstrecke Paris-Budapest sein, weswegen angeblich auch ein Durchgangsbahnhof nötig sei. Komisch nur, dass auf derselben Strecke (Paris-Budapest) auch München liegt, der dortige Kopfbahnhof aber kein Problem darstellt.
Die Protesthaltung zahlreicher Stuttgarter ist für mich also mehr als nachvollziehbar, während ihre gottgleiche Verehrung von Bäumen mir eher esoterisch erscheint. Eines sind und waren(!) sie aber - im Gegensatz zu mir etwa - mit Sicherheit: engagiert. Denn während ich mir zurecht vorwerfen lasse, mit der Kritik an S21 zu lange gewartet zu haben, brauchen sich die Stuttgarter derartige Vorwürfe sicher nicht anhören. Die haben auch vor 8 Jahren schon sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft. Und nicht erst damals, sondern bereits seit 1995 lagen Alternativvorschläge zu S21, u.a. von den Grünen, auf dem Tisch.
Angesichts dessen beobachte ich nun mit einigem Wohlwollen, dass sich eine altersunabhängige, kreative und allem Anschein nach ausdauernde Protestkultur im Ländle entwickelt. Noch grandioser fände ich es allerdings, wenn man auch mal für wirklich wichtige Dinge demonstrieren würde, nach dem Motto "Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind!" (Die Bibel, Sprüche 31, 8)
Schalom,
Magnus

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