Von Stefan Sasse
In der Telepolis argumentiert Jörg Friedrich für die Einführung von Liquid Democracy auf Bundesebene. Der Charme der Idee sei hierbei, dass nicht einmal das Grundgesetz geändert werden müsste - man würde nur die Gewaltenteilung ernster nehmen und die Regierung quasi auf eine ausführende Funktion von vom Parlament beschlossenen Gesetzen machen. Im Parlament selbst würden die Abgeordneten "fließende" Mehrheiten bilden und sich entweder selbst zu einem Thema fortbilden oder ihre Stimme einem vertrauenswürdigen Mitabgeordneten, der sich auskennt, überlassen. Dadurch würde, so Friedrich, wesentlich mehr Bürgernähe entstehen und es könnte eine größere Vielfalt an Parteien einziehen (vorausgesetzt man kippte die 5%-Hürde). Die Idee hat tatsächlich großen Charme, könnten Abgeordnete doch tatsächlich wesentlich freier entscheiden und würde das Parlament wieder mehr zu einem Ort der politischen Debattenkultur, wo um Lösungen gerungen und Prozess wie Ergebnis dem Wähler zu einer transparenten Prüfung vorgelegt werden. Allein, das Ganze hat auch Nachteile, die bei Friedrich nicht vorkommen.
Dabei geht es gar nicht so sehr um die Weimarer Verhältnisse, die dadurch Einzug halten können - andere Länder und aktuell Nordrhein-Westfalen beweisen, dass eine "stabile Mehrheit" nicht zwingend notwendig ist, um zu regieren. Obwohl die "fließenden Mehrheiten" tatsächlich die Entscheidungsfindung etwas verzögern könnten, ist es in anderen Fällen auch möglich, dass der Prozess sich entkompliziert und beschleunigt, etwa weil kein Partei- und Regionalproporz mehr bedacht werden muss. Ein echtes Problem in Sachen Chaos entsteht aber beim Wähler selbst. Wen oder was wählt er noch genau? Irgendwelche Personen, vermutlich, die in einem freien Wettbewerb der Ideen antreten und sich zu eher temporären Allianzen und "Parteien" zusammenschließen. Aber wie soll man denn genau den Überblick behalten, was der jeweilige Abgeordnete denn nun eigentlich tut und für was er steht, beziehungsweise was seine Konkurrenz so macht? Die generelle Frage, was man denn dann künftig eigentlich wählt, lässt sich nicht so leicht beantworten.
Vermutlich würde das Wahlrecht auf ein Mehrheitswahlrecht in Wahlkreisen ungefähr der jetztigen Größe hinauslaufen, in dem dann mehrere Kandidaten um einen Sitz wetteifern und die jeweils vorherrschenden Mentalitäten zu bedienen versuchen. Bisherige Orientierungsrahmen wie die Parteizugehörigkeit fielen in diesem System weg. Da es praktisch unmöglich ist, die Politikfelder eines Kandidaten halbwegs ordentlich abzudecken, wählte man in weiten Teilen eine Wundertüte, sofern sich die Kandidaten nicht von vornherein bestimmten Lagern zuordneten. Ein Kandidat, den ich für seine großartigen Einsichten zum Thema Netzpolitik gewählt habe, könnte mich mit seiner Zustimmung zum Minarettverbot plötzlich ganz schön - und negativ - überraschen. Das Wählen von Parteien, wie es in Deutschland derzeit betrieben wird, hat den Vorteil dass der Wähler ungefähr weiß, was ihn im Vornherein erwartet. Der Fraktionszwang hat durchaus Vorteile, denn er gibt eine Garantie für den Wähler, dass nicht einige Einzelne plötzlich das Votum von vielen zunichte machen. Wer sich an das hessische Drama von 2008 erinnert weiß, welche Probleme es machen kann, wenn Abgeordnete plötzlich ihr Gewissen entdecken und damit die Umsetzung des Wählerwillens ernstlich behindern.
Ein zweites Problem ist der Wahlkampf. Wenn keine Parteien mehr existieren, können sich die Kandidaten einen Wahlkampf nur aus zwei Quellen finanzieren: Spenden und eigenes Vermögen. Genau da aber liegt der Hase im Pfeffer. Vieles von dem, was Friedrich als Merkmale der Liquid Democracy aufzählt, ist auf dem Papier in den USA Alltag - deutlich unabhängigere Abgeordnete, relativ unbedeutende Parteien, personenzentrierte Auseinandersetzung und fließende Mehrheiten. In der Realität aber sorgen die "Whips" der jeweiligen Kongressparteien (die es natürlich gibt) dafür, dass möglichst viele im Sinne der eigenen "Fraktion" stimmen. Um überhaupt gewählt zu werden, braucht der Kandidat eine gute Vernetzung in Wirtschaft und Finanzbranche, die den Löwenanteil des Geldes bereitstellen, sowie ein persönliches Vermögen (über die Hälfte aller US-Abgeordneten sind Millionäre). Das deutsche Parteiensystem ermöglicht einem völlig anderen Typ den Sprung ins Parlament als das amerikanische. Ein ungewollter, unangenehmer Seiteneffekt der Liquid Democracy in dieser Form dürfte eine regelrechte Aristokratisierung des Parlaments sein.
Das muss nicht einmal zwangsläufig schlecht sein, verstehen wir uns nicht falsch. Jedes System hat seine Vorteile und Nachteile. Keines ist dem anderen per se überlegen. Man muss sich nur genau überlegen, was man sich eigentlich als Ziel erhofft. Sollen Exekutive und Legislative stark voneinander getrennt sein? Oder soll eine Kontrolle eher föderal über die Länder und deren Regierungen erfolgen? Sollen Parteien die Macht haben oder starke Einzelpersonen mit den entsprechenden Verbindungen? Es wäre naiv anzunehmen, dass die Einführung von Transparenzregeln und fließenden Mehrheiten automatisch auch zu einem Mehr an Demokratie und Freiheit führen könnte. So wie das Grundgesetz durchaus mit dem Ansatz vereinbar wäre, so wäre mit Liquid Democracy auch ein rapides Desinteresse an den an Komplexität deutlich zunehmenden politischen Prozessen und einem Aufstieg einiger reicher Partikularinteressen, die den für Einzelpersonen unbezahlbaren Wahlkampf stemmen können möglich. Und diese möglichen Entwicklungen sollte man auf der Platte haben, bevor man sich allzu leichtfertig ins basisdemokratische Utopia träumt.
In der Telepolis argumentiert Jörg Friedrich für die Einführung von Liquid Democracy auf Bundesebene. Der Charme der Idee sei hierbei, dass nicht einmal das Grundgesetz geändert werden müsste - man würde nur die Gewaltenteilung ernster nehmen und die Regierung quasi auf eine ausführende Funktion von vom Parlament beschlossenen Gesetzen machen. Im Parlament selbst würden die Abgeordneten "fließende" Mehrheiten bilden und sich entweder selbst zu einem Thema fortbilden oder ihre Stimme einem vertrauenswürdigen Mitabgeordneten, der sich auskennt, überlassen. Dadurch würde, so Friedrich, wesentlich mehr Bürgernähe entstehen und es könnte eine größere Vielfalt an Parteien einziehen (vorausgesetzt man kippte die 5%-Hürde). Die Idee hat tatsächlich großen Charme, könnten Abgeordnete doch tatsächlich wesentlich freier entscheiden und würde das Parlament wieder mehr zu einem Ort der politischen Debattenkultur, wo um Lösungen gerungen und Prozess wie Ergebnis dem Wähler zu einer transparenten Prüfung vorgelegt werden. Allein, das Ganze hat auch Nachteile, die bei Friedrich nicht vorkommen.
Dabei geht es gar nicht so sehr um die Weimarer Verhältnisse, die dadurch Einzug halten können - andere Länder und aktuell Nordrhein-Westfalen beweisen, dass eine "stabile Mehrheit" nicht zwingend notwendig ist, um zu regieren. Obwohl die "fließenden Mehrheiten" tatsächlich die Entscheidungsfindung etwas verzögern könnten, ist es in anderen Fällen auch möglich, dass der Prozess sich entkompliziert und beschleunigt, etwa weil kein Partei- und Regionalproporz mehr bedacht werden muss. Ein echtes Problem in Sachen Chaos entsteht aber beim Wähler selbst. Wen oder was wählt er noch genau? Irgendwelche Personen, vermutlich, die in einem freien Wettbewerb der Ideen antreten und sich zu eher temporären Allianzen und "Parteien" zusammenschließen. Aber wie soll man denn genau den Überblick behalten, was der jeweilige Abgeordnete denn nun eigentlich tut und für was er steht, beziehungsweise was seine Konkurrenz so macht? Die generelle Frage, was man denn dann künftig eigentlich wählt, lässt sich nicht so leicht beantworten.
Vermutlich würde das Wahlrecht auf ein Mehrheitswahlrecht in Wahlkreisen ungefähr der jetztigen Größe hinauslaufen, in dem dann mehrere Kandidaten um einen Sitz wetteifern und die jeweils vorherrschenden Mentalitäten zu bedienen versuchen. Bisherige Orientierungsrahmen wie die Parteizugehörigkeit fielen in diesem System weg. Da es praktisch unmöglich ist, die Politikfelder eines Kandidaten halbwegs ordentlich abzudecken, wählte man in weiten Teilen eine Wundertüte, sofern sich die Kandidaten nicht von vornherein bestimmten Lagern zuordneten. Ein Kandidat, den ich für seine großartigen Einsichten zum Thema Netzpolitik gewählt habe, könnte mich mit seiner Zustimmung zum Minarettverbot plötzlich ganz schön - und negativ - überraschen. Das Wählen von Parteien, wie es in Deutschland derzeit betrieben wird, hat den Vorteil dass der Wähler ungefähr weiß, was ihn im Vornherein erwartet. Der Fraktionszwang hat durchaus Vorteile, denn er gibt eine Garantie für den Wähler, dass nicht einige Einzelne plötzlich das Votum von vielen zunichte machen. Wer sich an das hessische Drama von 2008 erinnert weiß, welche Probleme es machen kann, wenn Abgeordnete plötzlich ihr Gewissen entdecken und damit die Umsetzung des Wählerwillens ernstlich behindern.
Ein zweites Problem ist der Wahlkampf. Wenn keine Parteien mehr existieren, können sich die Kandidaten einen Wahlkampf nur aus zwei Quellen finanzieren: Spenden und eigenes Vermögen. Genau da aber liegt der Hase im Pfeffer. Vieles von dem, was Friedrich als Merkmale der Liquid Democracy aufzählt, ist auf dem Papier in den USA Alltag - deutlich unabhängigere Abgeordnete, relativ unbedeutende Parteien, personenzentrierte Auseinandersetzung und fließende Mehrheiten. In der Realität aber sorgen die "Whips" der jeweiligen Kongressparteien (die es natürlich gibt) dafür, dass möglichst viele im Sinne der eigenen "Fraktion" stimmen. Um überhaupt gewählt zu werden, braucht der Kandidat eine gute Vernetzung in Wirtschaft und Finanzbranche, die den Löwenanteil des Geldes bereitstellen, sowie ein persönliches Vermögen (über die Hälfte aller US-Abgeordneten sind Millionäre). Das deutsche Parteiensystem ermöglicht einem völlig anderen Typ den Sprung ins Parlament als das amerikanische. Ein ungewollter, unangenehmer Seiteneffekt der Liquid Democracy in dieser Form dürfte eine regelrechte Aristokratisierung des Parlaments sein.
Das muss nicht einmal zwangsläufig schlecht sein, verstehen wir uns nicht falsch. Jedes System hat seine Vorteile und Nachteile. Keines ist dem anderen per se überlegen. Man muss sich nur genau überlegen, was man sich eigentlich als Ziel erhofft. Sollen Exekutive und Legislative stark voneinander getrennt sein? Oder soll eine Kontrolle eher föderal über die Länder und deren Regierungen erfolgen? Sollen Parteien die Macht haben oder starke Einzelpersonen mit den entsprechenden Verbindungen? Es wäre naiv anzunehmen, dass die Einführung von Transparenzregeln und fließenden Mehrheiten automatisch auch zu einem Mehr an Demokratie und Freiheit führen könnte. So wie das Grundgesetz durchaus mit dem Ansatz vereinbar wäre, so wäre mit Liquid Democracy auch ein rapides Desinteresse an den an Komplexität deutlich zunehmenden politischen Prozessen und einem Aufstieg einiger reicher Partikularinteressen, die den für Einzelpersonen unbezahlbaren Wahlkampf stemmen können möglich. Und diese möglichen Entwicklungen sollte man auf der Platte haben, bevor man sich allzu leichtfertig ins basisdemokratische Utopia träumt.