Ein Plan für Deutschland

Vor einiger Zeit habe ich mir angewöhnt, Medien nur noch zeitversetzt zu lesen. Ich hatte mich hier schon mal ausgelassen über den "Dorfsaujournalismus", der uns jede Woche -und zwar immer für genau eine Woche- über etwas zu erregen sucht, was mit unserem Leben eigentlich wenig zu tun hat.
Und so lese ich als Printausgabe z.B. nur die ZEIT. Man gewichtet die Dinge im Nachhinein doch immer etwas realistischer als zur Zeit der Erregung. Und man sieht sie im Zusammenhang. Schon ein Professor im Studium empfahl uns die wöchentlichen VDI-Nachrichten: "Da steht drin, was Sie wissen müssen. Und zwar mit Abstand."
Ähnlich halte ich es mit Parteiprogrammen und Analystenprognosen. Erinnern Sie sich noch an das Modewort "Wir fahren auf Sicht"? Die Floskel "Das ändert alles" haben wir im vergangenen Jahrzehnt sogar zweimal gehört: Einmal nach dem 11. September 2001. Da stimmte es. Aber nicht so, wie wir es zunächst verstanden. Und zum zweiten mal als die Finanzkrise ausbrach, genauer: als die Machenschaften eines ganzen Berufsstandes plötzlich in ihrer ganzen Tragweite erkennbar wurden.
Frank-Walter Steinmeier prophezeite in seinem so genannten Deutschland-Plan ("Politik für das nächste Jahrzehnt"), den er anlässlich seiner Kanzlerkandidatur veröffentlicht hatte, dass diese "Jahrhunderkrise" vieles ändern würde. Namentlich, wie wir wirtschaften und wie wir leben.
Das hätte wohl nur gegolten, wenn er tatsächlich Kanzler geworden wäre. Denn bisher hat sich nichts verändert. Oder doch: eines hat sich verändert, bzw. verschärft. Die Bundesregierung hat beschlossen, Sozialetats zu kürzen, um den Schuldenanstieg durch Sonderausgaben für die Banken wenigstens etwas zu drosseln. Dadurch geht der Schuldenanstieg zwar nur von einer konvexen in eine konkave Kurve über. Aber die Ansage ist deutlich.
Was sich auch verändert hat: Man kann in eine hoffnungslos leere und überschuldete Kasse nochmals reingreifen, um eine Klientel zu bedienen. Diese Lektion hat uns die FDP erteilt. Ausgerechnet die Partei, die sich immer als Herrin aller Finanzweisheit präsentiert hatte.
Bereits auf der ersten Seite seines Plans erinnert uns Steinmeier an etwas, was wir vergessen oder übersehen hatten: Banken erfüllen in unserem Wirtschaftssystem eine Funktion. Und die Aufrechterhaltung dieser Funktion hat Vorrang vor dem Ziel ihrer Besitzer und Manager, die "eigene Rendite zu maximieren". Banken haben mit Unternehmenskrediten die Wirtschaft in Gang zu halten.
Das Wort vom "Neustart" ist eine Erfindung von Steinmeier. Er münzte es auf unsere soziale Marktwirtschaft. Zu den Ohren raus kommt uns das Wort allerdings inzwischen, weil die Bundesregierung alle drei Wochen verkündet, dass sie selbst einen solchen brauche.
Und auf Seite vier lese ich, was neuerdings auch der Wirtschaftsminister freudig verkündet: Innerhalb weniger Jahre könnten wir Vollbeschäftigung erreicht haben. Das habe ich im Herbst noch für unbegründet gehalten. Da erwartete niemand, dass die Weltwirtschaft so schnell wieder anspringen. Skeptisch war ich auch, weil ich gehört hatte, dass sich Steinmeier beim Deutschland-Plan von McKinsey beraten ließ.
Trotzdem muss ich heute zugeben: Er scheint recht zu behalten. Steinmeier hält unsere "traditionellen" Branchen für unseren wichtigsten Beschäftigungsmotor. Er behält recht: Maschinen- und Automobilbau verzeichnen weniger als ein Jahr später wieder zweistellige Wachstumsraten, katapultieren sich aus der Krise heraus. Hut ab vor jedem, der das im Herbst 2009 zu prophezeien wagte! Unsere Wirtschaftsweisen und Talkshowdauergäste waren jedenfalls nicht darunter.
Der Deutschland-Plan ist etwas, was wir in Deutschland lange nicht hatten: Ein Plan. Um das verruchte Wort von der Vision zu vermeiden. Die hatten unsere Kanzler nie: Nie sahen wir Gerhard Schröder im Internet surfen oder ein Buch bestellen. Gut, wir sahen Frau Merkel in einem Elektroauto. Aber einen Plan, wie wir zig Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen, warum das plausibel ist, an so etwas kann ich mich nicht erinnern. Obwohl ich seit der Oberstufe viele Bücher von Politikern gelesen habe. Oskar Lafontaines "Anderer Fortschritt" hatte vielleicht diese Qualität, aber das ist fast 25 Jahre her.
Steinmeier will keine "Planwirtschaft" einführen sondern schreibt auf, was er beobachtet. Und er weiß genau, was er sieht: Es fehlt uns an Lehrern, Ingenieuren aber auch vielen nicht-akademischen Berufen. Wir alle empfinden im öffentlichen Leben viele Mängel. Hier fehlt es an Investitionen aber auch an Fachkräften. Wir wollen uns ständig weiterbilden, nicht umschulen. Das sind Märkte, die bedient werden wollen.
Der Sozialdemokrat Steinmeier will nur so viel staatliche Investitionen und Forschungsförderung, wie es unsere Wettbewerber auch tun: z.B. für die Elektromobilität und regenerative Energien. Diese Gelder fließen zurück in unsere Taschen. Weil wir damit Exportstärken und Wohlstandsquellen von morgen aufbauen.
Der Deutschland-Plan liest sich manchmal wie der Bericht eines Unternehmensberaters, McKinsey lässt grüßen. Trotzdem kann ich mich allmählich dafür erwärmen. Der Plan hat Substanz und wird über viele Jahre tragen. Das ist genau das Gegenteil von der schwarz-gelben Bundesregierung: Weder die Union noch die FDP haben einen Plan oder "Kompass" in der Tasche. Der Liberalismus unserer FDP ist heruntergekommen. Hier versuchen uns müde Politiker ihre Ideenlosigkeit als Konzept für Deregulierung und Reduktion des Staates zu verkaufen. (Die mir persönlich bekannten FDP-Mitglieder, mit denen ich mich heute noch treffe, sind die Ausnahme, die die Regel bestätigen..) Doch das einzige was die FDP reduziert hat, ist ihre eigene programmatische Substanz.
Leider, muss ich sagen. Denn in den siebziger Jahren hatte diese Partei helle Köpfe. Karl-Herman Flach hatte in seinen Freiburger Thesen und Streitschriften brilliante Bekenntnisse zu einem Aufsteigerliberalismus formuliert. Doch heute leben die FDP-Mitglieder leider in der Burg geschützter Berufe und sie haben hinter sich die Zugbrücke hochgezogen. Sie beanspruchen Monopole für Anwälte und Apotheker. Aber sie fordern Einwanderung von "Fachkräften", um den Nachholbedarf in der Reallohnentwicklung durch importierten Wettbewerb um Arbeit zu dämpfen.
Wohlgemerkt: Ich plädiere nicht für Abschottung oder gar für latente Ausländerfeindlichkeit. Der Unterschied ist hoffentlich klar: Ideen für Green Cards und Begrüßungsgelder für Fachkräfte werden vom Bundesverband der Arbeitgeber immer dann vorgeschlagen, wenn sich die steigende Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften in der Lohnentwicklung wieder zu spiegeln "droht". Mobilisieren wir doch erstmal die Potenziale, die wir noch haben: Einwanderer und Frauen z.B.
Für sich selbst würden sie diese Forderung nie erheben. Im Gegenteil: Sie begründen die sich immer weiter öffnenden Einkommensscheren ja immer damit, das ihresgleichen weltweit so begehrt seien, dass sie nur mit immer höheren Gehältern im Lande zu halten seien. (Dabei ist durch Studien inzwischen belegt, dass weltweit keine Manager so immobil sind, wie die deutschen. Sehr wohl aber wandern immer mehr wertschöpfende Fachkräfte in unsere Nachbarländer aus, weil ihre Leistung dort wergeschätzt wird.) Hohe Boni, verdient durch die Befriedigung einer kurzfristigen Shareholder-Value Denke.
Wir haben einen großen Teil, schätzungsweise die Hälfte, unserer Gewinne bzw. Mehrwertschöpfungen in Form von Managerboni verschleudert. Anstatt Investitionen zu leisten, haben wir kurzfristiges Gewinndenken gefördert. Haben wir Neofeudalisten so reich gemacht, dass wir sie mittlerweile nicht mal mehr kritisieren können, ohne das Risiko von ihren teuren Anwälten verklagt zu werden.
Diese Verschwendung von Kapital ist schlimmer als die Energieverschwendung, die sich die westliche Welt geleistet hat.
Steinmeier führt auf den siebenundsechzig Seiten seines Plans noch weitere Branchen an, in denen wir wachsen können: Gesundheit und Kreativ- bzw. Kulturwirtschaft. Man muss nicht alle Seiten gelesen haben. Aber eines ist klar: Hier hat sich ein Planungsstab Gedanken über unsere Stärken gemacht, aus denen unsere neuen Chancen erwachsen können.
Er gibt die Antworten, die Frau Merkel schuldig bleibt, wenn sie wiederholt sagt: "Wir wollen stärker aus der Krise herauskommen, als wir in sie hineingegangen sind." Von ihr haben wir bis heute keine einzige Idee dazu gehört.
Gerade weil mich dieses Konzept auch Monate später noch überzeugt, und weil seine Prognosen inzwischen bereits eintreffen, halte ich es für den stärksten Politikansatz, der momentan in Deutschland auf dem Tisch liegt.
Seine Zeit wird sicher noch kommen.
Quellen: Frank-Walter Steinmeier "Die Arbeit von morgen"

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