Ein Plädoyer für die Empfindsamkeit. Eine schrecklich sensible Familie.

Das fängt schon beim Ehemann an.

“Nein, ich gehe nicht in den Wald! Da werde ich schmutzig!” ruft der Gatte entsetzt, wenn ich einen Spaziergang in der Natur vorschlage. Leider ist der Mann nicht nur schmutz-, sondern auch temperaturempfindlich. Die ganze Mannschaft kann eingekeilt im Auto sitzen und “FENSTER AUF!” schreien, da sitzt der Mann immer noch mit Mütze, Jacke und Sitzheizung hinter dem Lenkrad und lässt sich 26°C warme Luft ins Gesicht pusten.

Was bleibt mir anderes übrig, als die Heizung auf der Beifahrerseite auf 18°C herunterzukühlen?

Der Versteher.

Abgesehen davon kann der Ehemann Stimmungen aufspüren und mir Gestik, Mimik und für mich sinnlos klingende Gesprächsfetzen übersetzen.

“Na, die hast du ja wirklich verärgert”, erklärt er mir, nachdem ich mich über Frau X beschwert habe, die mir fast ins Gesicht gespuckt hat, nur weil ich gesagt habe, dass …

Leider ist Verstehenkönnen nicht kongruent mit Empathie. Der geneigte Leser versteht, wieso ich das schreibe.

Der große Riesensohn ist auf jeden Fall auch sensibel.

Wenn ich ihm auftrage sein Zimmer aufzuräumen, reagiert er sehr empfindsam. Meistens zieht sich die Prozedur über Jahre hinweg und selbst dann ist der Erfolg nicht gesichert. Derzeit funktioniert Aufräumen nur, wenn ich auf seinem Bett sitze und mit meinem Laserschwert das nächste aufzuhebende Spielzeug markiere. Und damit drohe, es der ewigen Verdammnis anheim zu geben.

Aber mal im Ernst: Kreativität ist nicht gefragt in der Schule. 

Außerdem findet er Hausaufgaben langweilig. Ich verstehe das. Wenn ich Sätze wie “Die Zweige am Baum sind alle kurz. Nur einer ist lang.” abschreiben müsste, würde ich auch welken wie ein Schmetterling im Zwiebelsaft. Ehrlich gesagt, habe ich die Schule auch nur überstanden, weil ich die Hefte meiner Banknachbarin vollzeichnete. Alles, was grau und langweilig ist und nicht funktioniert, ist unendlich öde. Ich schlafe immer noch ein, wenn ich an meinen Physikunterricht denke.

Hulk leider auch nicht.

Der Junge braucht mehr Action. Und Witz. Wieso kann man nicht Beispielsätze erfinden, die Kinder kichern lassen? Das täte auch der Amygdala gut.

“Seine Augen waren groß wie Bratpfannen. Und aus seinem Maul tropfte Glibberglibsch.”

Fäkalien und Verwandte sind auch immer ein gutes Thema bei Grundschulkindern:

“Wenn meine Mama Zwiebeln isst, pupst sie so laut, dass kein Gras mehr wächst.” (frei zitiert nach “Der kleine Drache Kokosnuss.”)

“Und dann kam die Überraschung: Der superduper universale Raumgleiter summte zweistimmig!”

Vielleicht sollte ich Schreiblernbücher verfassen.

Und Maxe?

Maxe hatte schon als kleiner Wurm wenig bis gar keine Frustrationstoleranz. Er war nur im Tragetuch wirklich zufrieden. Und wenn er zwei Liter Milch intus hatte.

Möglicherweise haben die osteopathische Physiotherapie und das psychomotorische Turnen dazu beigetragen, ein wenig abgeklärter auf Katastrophen zu reagieren, aber die Grundsensibilität bleibt. Sie äußert sich nunmehr in Umsicht, Gerechtigkeitsempfinden und Langzeitschmollen. Zum Glück ist er ein humoriger Typ, den man aus seiner Schmolliecke mit ein wenig Geschick auch wieder herauslocken kann, wenn Mütterchen Quatsch erzählt.*

*Was natürlich so gut, wie nie vorkommt.

Wenn Krach krank macht.

Sohnis Empfindsamkeit drückt sich am augenscheinlichsten durch seine Geräuschempfindlichkeit aus. Wenn Maxe ihn anschreit – zum Beispiel, weil Sohni vorher ihn angeschrien hat – bricht er mitunter weinend zusammen. Manchmal kreischt er dann auch noch lauter: “AUFHÖREN! SONST TUN MEINE BEINE WEG!”

Sohni reagiert gar nicht bis bockig auf Anweisungen, ist aber gnadenlos selbstständig, wenn er will: Er räumt die Waschmaschine aus, leert den Wasserbehälter des Trockners, stellt den Geschirrspüler an und räumt ihn manchmal freiwillig aus.

Alles Kinder hassen langweilige monotone Arbeiten, wie Aufräumen. Da bin ich auch ganz Kind.

Aber alle Kinder sind glücklich, in Ruhe und mit Ausdauer bunte Farben aufs Papier zu bringen, detailliert, bunt, manchmal schwarz, aber immer voller Fantasie.

Und die Mutter?

Die Mutter hat ihre eigene Empfindsamkeit erst mit ca. 120 Jahren schätzen gelernt. Gar nicht so einfach, wenn man im Abgleich mit der Welt das Gefühl gewinnt, falsch kalibriert zu sein. Der Umgang mit Kunst und Gefühl im Elternhause trug sicher dazu bei: “Stell dich nicht so an!” habe ich gehört und “Mit ein bisschen Disziplin kriegst du das in den Griff!”

Erst die Tagesmutter meiner kleinen Schwester sah meine Bilder, und damit meine ich nicht nur das bloße Anschauen.

Warum jetzt dieser Text?

Ich glaube fest daran, dass jeder malen, singen, kreativ sein kann. Man muss nur seinen eigenen Stil finden, und dieses “nur” ist nicht  zu unterschätzen. Jedes Kind individuell zu behandeln ist derzeit meine größte Herausforderung, ebenso wie die Aufmerksamkeit, die leider oft zu wenig Platz einnimmt.

In diesem Sinne ist dieser Text ein Reminder für mich, die Unterschiedlichkeit nicht abzuwerten und den einzelnen Bedürfnissen Platz zu schenken.



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