Ein Plädoyer auf den Klassenkampf

 

Ein Plädoyer auf den Klassenkampf

Quelle: VAT Verlag André Thiele

"Wir Demokraten denken, dieses Land funktioniert besser mit einer starken Mittelklasse, mit Aufstiegschancen für alle, die sich anstrengen." - Als Bill Clinton kürzlich diesen Satz auf dem Parteitag der Demokraten sprach, da komprimierte er kurz und schmerzlos jenes Leitmotiv, dass über den Thatcherismus und seinen Nachfolger, den New Labour, auf ganz Europa übertragen wurde. Dass wir nun alle Mittelschicht seien, dass es etwas wie eine Arbeiterschicht nicht mehr gäbe, war Thatchers Konzept - als dann nach 18 Jahren die Konservativen abdankten, mit Blair ein Mitglied der Arbeitspartei in das Haus 10 Downing Street zog, da verwarf man dieses Konzept nicht etwa, man übernahm es.
Jetzt liegt die deutsche Ausgabe von Owen Jones' "Chavs. The Demonization of the Working Class" unter dem Titel "Prolls: Die Dämonisierung der Arbeiterklasse" vor.

Jones beschreibt, wie mit Thatcher ein neuer Geist in die britische Gesellschaft einzog. Sie verkündete nämlich dreist, dass es Klassen nicht mehr, dass es nur noch eine Mittelschicht gäbe, in die die Unterschicht - die Reste der vormaligen Arbeiterklasse - vorstoßen könne, wenn sie sich bemühe. Jeder sei willkommen. Eine Arbeiterklasse gäbe es quasi gar nicht mehr - und unter Thatcher wurden dann auch politische Maßnahmen getroffen, um die Arbeiterklasse nachhaltig zu sprengen. Maßnahmen zur Rettung der Industrie, die die Lebensgrundlage vieler Arbeiter und ihrer Familien war, wurden unterlassen; sozialpolitische Verschärfungen angetrieben. Dies geschah, um die Gewerkschaften, die man als zu mächtig ansah, zu schwächen und als Machtfaktor auszuschalten. Nachdem die Labour Party nach langen Jahren konservativer Zerrüttungspolitik wieder einen Premierminister stellte, veränderte sich gar nichts. Blair übernahm nicht nur die politische Stoßrichtung des Thatcherismus, sondern auch all seine jahrelang ausgeklügelten Schauermärchen, die er über die restliche Arbeiterklasse, die man nun Unterschicht oder Chavs, also Prolls, nannte, in die britische Welt setzte. Schlimmer noch, Blair wurde es in Großbritannien zu eng und so arbeitete er zusammen mit Gerhard Schröder einen Kurswechsel der gesamten europäischen Sozialdemokratie aus. New Labour war nun der britische Exportschlager schlechthin. Das wurde honoriert; auf die Frage, was ihr größter Erfolg gewesen sei, antwortete Thatcher: "Tony Blair und New Labour."
Das Schreckgespenst Diktatur des Proletariats sollte somit durch eine Diktatur der Mittelschicht ersetzt werden. Wer Mittelschicht war, blieb aber stets vage. Der Begriff Mittelschicht war ja absichtlich so konzipiert, war gflissentlich nicht zu nuanciert, denn davon lebte er - und tut es noch immer. Denn drunter wollte es nun keiner mehr machen - und das war der Clou. Der traditionelle Zusammenhalt innerhalb der Arbeiterklasse konnte nur zerstampft werden, wenn keiner mehr zu ihr gehören wollte. Durch (Selbstver-)Leugnung geriet die gewerkschaftliche Solidarität in Bedrängnis - und durch die Dämonisierung der Restbestände der Arbeiterklasse, nun Prolls genannt, trieb man immer mehr Menschen aus diesem Lager. Das Repertoire dieser Dämonisierung ist auch dem deutschen Leser bekannt. Der Proll säuft nur, ist faul und dumm; er sitzt viel auf seinem Sofa herum, gibt sein Geld für Zigaretten und Flachbildschirme aus, geht auch hin und wieder arbeiten, dann meist im Niedriglohnsektor, macht minderwertige Arbeit. Der deutsche Proll heißt Hartz IV-Empfänger. Ihm wirft man aber nicht so sehr vor, dass er rassistisch sei, so wie seinem britischen Kollegen - das liegt vermutlich daran, weil dieser Vorwurf von einer Elite käme, die selbst ordentlich rassistisch ist, ihren Rassismus aber gepflegt hinter Begriffen wie Religionskritik versteckt.
Das heutige Großbritannien ist laut Jones ein Klassenstaat, in denen es von offizieller Seite allerdings keine Klassen gibt - Klassenkampf sei ein Begriff aus längst vergangenen Tagen, gleichsam es die Klassenpolitik der Reichen ist, die sich seit drei Jahrzehnten ins Gefecht gegen die Armen wirft. "Die Klassenleugnung ist politisch sinnvoll", schreibt Jones. "So lässt sich leicht davon ablenken, dass gigantische Summen auf die Konten der Reichen verschoben werden, während die Durchschnittslöhne stagnieren. Da Thatcherismus und New Labour den Begriff der "Klasse" aus dem politischen Wortschatz verbannt haben, bleibt die grob ungerechte Verteilung von Macht und Wohlstand im heutigen Großbritannien weitgehend unbemerkt."
Schon bevor der Thatcherismus das Licht der Welt ins Trübe setzte, wurden Tendenzen zur Leugnung des Klassenkampfes beobachtet. So schrieb Herbert Marcuse 1964 in "Der eindimensionale Mensch", dass "die sogenannte Ausgleichung der Klassenunterschiede [...] ideologische Funktion" hätte. Marcuse weiter: "Wenn der Arbeiter und sein Chef sich am selben Fernsehprogramm vergnügen und dieselben Erholungsorte besuchen, wenn die Stenotypistin ebenso attraktiv hergerichtet ist wie die Tochter ihres Arbeitgebers, wenn der Neger einen Cadillac besitzt, wenn sie alle dieselbe Zeitung lesen, dann deutet diese Angleichung nicht auf das Verschwinden der Klassen hin, sondern auf das Ausmaß, in dem die unterworfene Bevölkerung an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat, die der Erhaltung des Bestehenden dienen." Die Verwerfung des Klassengedankens erhält also das Bestehende, schreibt Marcuse. Thatcher hat ihn vermutlich nie gelesen, verstanden hatte sie trotzdem, dass jene Machtverhältnisse, die sie durch vermeintlich zu starke Gewerkschaften in Gefahr sah, nur zu retten seien, wenn man die Klassen theoretisch auflöst oder besser gesagt: sie umdefiniert. Marcuse mag diese Erhaltung des Bestehenden mit einem gewissen materiellen Wohlstand für all jene, die in diese Angleichung geworfen werden, ausgestattet gesehen haben - Thatchers Angleichung bedeutete jedoch persönliche und gesellschaftliche Pauperisierung.
Die nicht näher definierte Mittelschicht ist der Diktator des Neoliberalismus. Nicht näher definiert ist sie, weil zur Mittelschicht auch diejenigen gehören sollen, die eigentlich zur Oberschicht gehören. Auch letzteren Begriff gibt es nicht offiziell, die Oberschicht geht in der Mitte auf. So kaschiert sie ihre Bereicherung. Mittelschicht ist das Heilsversprechen, sie wird glorifiziert. Wobei man fragen muss, wer jene Arbeit macht, bei der man sich die Hände beschmutzt, wenn doch alle in der Mittelschicht gesellschaftlich heimisch sein wollen. Der Diktator des Neoliberalismus ist sie, weil man in ihrem Namen Sozialleistungen kürzt und Lebensentwürfe ächtet, die nicht ökonomisch angepasst erscheinen. Aus der Solidargemeinschaft wurde eine Schicksalsgemeinschaft gegen das Schmarotzertum konstruiert, die mit dem inbrünstigen Eifer eines Savonarola Transferbezieher zu Ballast erklärt. Mit rhetorischer Perfidie und politischem Mandat grenzt sich diese Mittelschicht von denen ab, die nicht zu ihr gehören sollen. Das ist kurios, weil sich beinahe alle zur Mittelschicht zählen und weil viele Mittelschicht und Arbeiterklasse gleichsetzen.
Owen Jones' tranchiert die britische Gesellschaft mit einem ätzend scharfen Skalpell. Als deutscher Leser könnte man fast durchatmen. Denn viel von dem, was er schreibt, kommt einem zwar bekannt vor, aber so radikal wie auf der Insel, haben sich die neoliberalen Therapien mit dem Schierlingsbecher hierzulande noch nicht durchgesetzt. Wenn man bedenkt, dass die britischen Zustände seit 1979 ihr Unwesen treiben und dass der sozialdemokratische Kurswechsel diese neoliberale Radikalität erst zwanzig Jahre später in Deutschland verankerte, dann kann man sich, gemessen an dieser Zeitspanne zwischen Thatcher und Schröder, durchaus davor fürchten, dass diese Entwicklungen hier mit einiger Verzögerung eintreffen. Insofern liefert Jones nicht nur eine Studie der britischen Gesellschaft, sondern einen Ausblick auf das, was der deutschen Gesellschaft noch blüht.
Das zu verhindern gelingt nur, wenn man das Klassenbewusstsein der Prolls anfacht, wenn man den Klassenkampf aufnimmt, der seit Jahren von den Reichen gegen die Armen geführt wird. Ein Klassenkampf, der den Reichtum zwingt, etwas gegen die Armut zu tun, nicht aber gegen ihre Opfer und Leidtragende. Prolls aller Länder vereinigt Euch! Der Klassenkampf ist nicht als Kriegserklärung zu verstehen; Mitglied einer Arbeiterklasse zu sein, ist nichts wofür man sich schämen müsste. Klassenkampf bedeutet, seine Interessen zu erkennen, zu vertreten und mit Nachdruck durchzusetzen. Eine Gesellschaft, die Interessensausgleich auf ihre Fahnen geschrieben hat, braucht keine Mittelschicht, in der alle, "Arbeiter und sein Chef" (Marcuse), suggeriert bekommen, sie hätten dieselben Absichten und Ziele - sie braucht klassenkämpferisches Engagement, um Kompromisse zu ausfallen zu lassen, dass beide Seiten etwas davon haben. Jones' Buch geht so weit nicht, den Klassenkampf wörtlich zu empfehlen. Aber man spürt, dass es das sollte.
"Prolls: Die Dämonisierung der Arbeiterklasse" von Owen Jones erschien im VAT Verlag André Thiele.


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