Ein persönlicher Rückblick: Meine Erfahrungen mit Magersucht.


In diesem Beitrag wird es etwas persönlicher. Und ich muss gestehen, dass ich mir lange überlegt habe, ob ich überhaupt darüber schreiben soll. Schließlich ist es kein einfaches Thema. Keines wo man sich schöne Rezepte ansieht, oder Tipps zu einem besseren Umgang mit seinem Körper und dessen Gesundheit einholt. Kein Schönewelt-Lifestyle-Feeling. Sondern vielmehr eines, das für manch einen triggernd sein könnte.

Daher an dieser Stelle ein kleiner Disclaimer:

Sollte dir das Thema Essstörungen zu nahe gehen oder solltest du gerade selbst an einer  leiden, so könnten die hier geschilderten Inhalte eventuell aufwühlend sein. Daher möchte ich dich bitten, dir selbst gegenüber rücksichtsvoll zu sein, sollten dir gewisse Inhalte zu nahe gehen. Schließlich ist eine Essstörung keine leichte Sache, sondern vielmehr eine Krankheit, die man ernst nehmen und sich auf jeden Fall professionelle Hilfe suchen sollte.

Nachdem das gesagt wurde…
Wie bei vielem, begann es schleichend…

Ich wollte nur etwas abnehmen…

Alles begann als ich 13 Jahre alt war. Wie so viele in dem Alter, fühlte ich mich damals in meinem Körper unwohl und hatte das Ziel etwas abnehmen zu wollen. Nein, es waren keine Modemagazine oder Models im Fernsehen oder irgendwelchen Plakatwänden, die mich dazu veranlassten. Nicht das gesellschaftlich oft angeprangerte falsche Schönheitsideal, das manche heute meinen für alles verantwortlich zu machen. Vielmehr sind die Gründe hinter einer Essstörung oftmals weit komplexer, als sie lediglich auf ein oder zwei Faktoren herunter brechen zu können.
Welche das sind, ist genauso verschieden wie wir Menschen individuell sind.
Andererseits ja, es war damals eine Diät, mit der alles begann. Ich fühlte mich in meinem Körper unwohl und sah mich als zu dick an.
„Dick“ im Sinne von übergewichtig war mein 13-jähriges Ich damals keineswegs. Sondern normalgewichtig. Dennoch empfand ich das damals anders.

Vollkommen anders…

Also begann ich eine Diät. So wie viele Mädchen in dem Alter. Nichts besonderes. Und es war auch keine spezielle Diät, vielmehr begann ich Kalorien zu zählen und aufzuschreiben was ich über den Tag verteilt aß, um im Auge zu haben, dass ich auch nicht das mir selbst erlaubte Kalorienkontingent überschritt. Nach einer gewissen Weile stellte sich dann auch der gewünschte Erfolg ein und mein Gewicht reduzierte sich.
Bis zu einem gewissen Grad erhielt ich anfangs auch Komplimente. Mein Körper würde aussehen wie der eines Models, waren solche Aussagen, die mich bestärkten diesen Weg weiter zu verfolgen. Doch irgendwann wurde es schleichend zu dem was man ein gestörtes Essverhalten nennt. Der ganze Tag drehte sich nur noch um Essen. Das was ich essen durfte, das was nicht sein durfte, das was nicht hätte sein sollen…
Irgendwie redete ich mir auch ein, dass ich irgendwann wieder aufhören würde. Dann, wenn sich das gewünschte Gewicht eingependelt hätte. Es müssten nur noch fünf Kilo weniger sein. Dann, ja dann könnte ich mir auch wieder erlauben Schokolade zu essen. Oder diesen einen Pudding, den ich neulich gesehen hatte…
Hatte ich dieses Gewicht jedoch erreicht, mussten es doch weitere fünf Kilo sein, die ich abnehmen musste, um meine Regeln wieder lockern zu dürfen. So zumindest das gedankliche Konstrukt in meinem Kopf.

Irgendwann reichte Essensverzicht nicht mehr

Eine solche Lockerung trat nie ein. Denn normal zu essen, so wie vorher, vor der Diät, würde ja bedeuten wieder zuzunehmen. Und damit die Kontrolle zu verlieren. Denn zunehmen wollte ich nicht. Allein der Gedanke daran schien schrecklich.

Auf Essen zu verzichten war das Eine. Doch irgendwann kam dann auch das Erbrechen hinzu.
Denn irgendwann stellte ich fest, dass ich essen und es dann später wieder loswerden konnte. So, als wäre es nie geschehen. Somit aß ich nach außen hin manchmal normale, manchmal kleine Portionen und erbrach diese später dann wieder.
Und manchmal gab es da Tage, besonders dann, wenn ich alleine war, die bestanden ausschließlich aus dem Kreislauf von Essen und Erbrechen. Eine normale Portion, zwei Scheiben Vollkornbrot mit einer dünnen Schicht Marmelade, die dann schon wieder zu viel wurde und nicht im Magen bleiben durfte. Danach das Gefühl von Schuld und Scham. Doch aber wiederum Erleichterung. Aber dann wieder dieser Hunger.

In restriktiven Phasen wiederum erlaubte ich mir manchmal nur eine Mahlzeit am Tag. Um zwei Uhr morgens. Denn so konnte mir keiner zusehen und durch das Kaloriendefizit des Vortages sowie den Kalorienverlust des darauffolgenden Tages konnte es nicht an Gewicht ansetzen.
So zumindest meine Gedanken. Also klingelte eine zeitlang jeden Morgen um zwei mein Wecker.

Nun wird sich manch einer vielleicht fragen was Erbrechen mit Magersucht zu tun hat? Anorexie bedeutet nicht nur die Essensaufnahme zu verweigern. Es gibt auch eine Unterform: Die des Purging Typus. Insofern balancierte ich immer wieder zwischen restriktiven Phasen und solchen, in denen ich erbrach.

Ein persönlicher Rückblick: Meine Erfahrungen mit Magersucht.

Von Körper und Seele

Desto mehr Gewicht ich verlor, desto mehr körperliche Symptome machten sich bemerkbar. Und nein, das ist nicht schön. So dünn zu sein, dass einem ständig kalt ist. Dass der Kreislauf nicht mehr mitmacht. Dass es in den Beinen schmerzt. Plötzlich, einfach so. Oder dass man oft einfach nur müde ist.
Oder plötzlich so starke Schmerzen im Rücken bekommt, dass man nicht mehr gerade stehen, geschweige denn laufen kann. Und das über Stunden. Und das deshalb, weil dort keine Muskeln mehr sind, die die Wirbelsäule stützen. Oder dass die Menstruation ausbleibt und lange Zeit nicht mehr wieder kommt…
Und trotzdem dachte ich noch immer zu dick zu sein. Denn, wenn ich mich selbst betrachtete, im Spiegel oder wenn ich an mir herab blickte, sah ich nicht das was andere sahen.

Das Tükkische war, die Krankheit war eine Art Freund-Feind. Auf der einen Seite merkte ich, wie sie mir schadete, doch auf der anderen Seite war jedes Gramm weniger ein Erfolg, der ein Gefühl von Freude auslöste. Wenn ich schon so manch anderes nicht kontrollieren konnte, im Abnehmen war ich gut…

Daher… auch wenn es mir heute so klar erscheint, dass das kein Weg war, den ich auf Dauer weiter verfolgen wollte, damals war es meine Normalität.

Mehrfach täglich auf die Waage zu steigen, fünfzehn, zwangzig Mal. Vor dem Essen, nach dem Essen, nach dem Erbrechen, nach dem Sport und davor, vor dem ins Bett gehen… Das Notieren der Zahlen, das Setzen neuer Ziele, das schlechte Gewissen, wenn mein Kopf mir sagte „versagt“ zu haben…
Doch selbst als von einem Klinikaufenthalt die Rede war, sah mein Kopf keinen Grund sich einzugestehen krank zu sein.

Vielmehr gab mir die Kontrolle über meinen Körper Halt…

Dennoch… Mehrere Monate verbrachte ich in einer Klinik spezialisiert auf Essstörungen. Zusammen mit anderen, die an Magersucht sowie Bulimie litten.
Keine leichte Zeit. Denn eigentlich wollte ich nicht dorthin. Obwohl ich bis dahin schon zweiundzwanzig Kilo abgenommen hatte…
Es gab Gesprächstherapie, Gruppengespräche, gemeinsames Kochen… Und das wöchentliche Wiegen. Um die Verlaufskurve zu sehen.

Gewichtszunahme…
Ich mochte dieses Gefühl gar nicht. Als sich der Körper zwangsweise zu verändern begann. Und, vielleicht klingt es für manch einen surreal, denn für Nicht-Essgestörte ist das vielleicht schwer nachvollziehbar, denn man muss schließlich ja einfach nur essen.
Das Normalste auf der Welt. Weinend vor einem Stück Kuchen zu sitzen, weil man es nicht schafft sich selbst davon zu überzeugen einen Bissen in den Mund zu nehmen. Wenn die Gedanken einen anzuschreien scheinen, dass man von diesem einen Stück Kuchen Fett wird. Oder es dann doch zu schaffen, die Gabel in den Mund zu schieben… Ein kleiner Bissen, mehr nicht… Eine ganze Gabel undenkbar… darauf herum zu kauen und es mit einem Schluck Wasser hinunter zu befördern. Und  sich selbst währenddessen dabei zu ertappen wie man an nichts anderes denkt als daran, es schnellstmöglich wieder loszuwerden. Denn es durfte dort nicht bleiben. Aber es musste.
Noch Stunden später konnte ich das Gewicht des Essens in meinem Magen fühlen. Dieses Gefühl von voll sein… es war alles andere als angenehm, denn am liebsten war es mir, wenn mein Magen leer war. Doch auf der anderen Seite, erreichte man nicht die vereinbarten Ziele an Gewichtszunahme, oder nahm vielleicht sogar noch ab, bedeutete das unter Umständen, zusätzlich noch hochkalorischer Trinknahrung zu sich nehmen zu müssen.

Das aufzugeben, was mir Halt gab… Ja, das war schwer.

Daher war die erste Zeit ein Kampf.
Besonders die Zahl auf der Waage war nicht immer leicht zu verarbeiten. Einerseits wusste ich, dass ich zunehmen musste, wenn ich gesund werden wollte. Auf der anderen Seite aber konnte die Zahl auf der Waage meine Stimmungslage in ein Tief ziehen. So tief, dass meine Gedanken mir einredeten mich selbst dafür bestrafen zu müssen. Manchmal war es daher besser die Zahl gar nicht zu sehen und sich „blind zu wiegen“, wie man es nannte.

Leicht war es nicht. Doch irgendwann wurde es besser. So schaffte ich es irgendwann normal zu essen. Weitestgehend ohne die Zwänge und die Regeln in meinem Kopf.
Als ich entlassen wurde und wieder Nachhause durfte, hatte ich einen BMI von 19.
Das weiß ich heute noch genau.

Normalgewicht.

Etwas mehr als ein Jahr war ich stabil und schaffte es normal zu essen und auch mein Gewicht zu halten, bis es zu einem Rückfall kam, ich wieder abnahm und einen BMI von 15 erreichte.

Rückfälle sind noch lange kein Versagen.

Egal um was es geht, doch Rückfälle sind noch lange kein Versagen. Auch wenn ich es manchmal als solchen empfand. Denn die Essstörung begleitete mich noch weitere Jahre. Praktisch meine gesamte Jugend über war sie mein Begleiter.

Während ich über all das nachdenke und es wieder reflektiere, merke ich, wie es mir ehrlich gesagt kurzzeitig schwer fällt weiter zu schreiben. Denn ich spüre diesen Kloß im Hals.
Wie gesagt, ich habe lange überlegt ob ich diesen Bericht verfassen soll. Habe den Gedanken so manches Mal auch wieder verworfen…

Es wurde besser

Wie ich es genau aus der Essstörung heraus geschafft habe, kann ich nicht sagen. Irgendwie wurde mir bewusst, dass ich so nicht mehr weiter machen wollte.

Es wäre jetzt wohl ein Leichtes zu schreiben, mich packte einfach die Erkenntnis, dass es so nicht weiter gehen konnte und von da an begann ich wieder normal zu essen. Und, siehe da, wir stehen da wo wir heute sind. Bei einem Foodblog über vegan/vegetarische Ernährung.

Doch ganz so einfach war es ganz und gar nicht.

Es gab viele Rückfälle. Momente, in denen ich wieder erbrach oder meine Portionen limitierte. In denen ich mit mir kämpfte. Jahre, in denen ich mal mehr und mal weniger wog.

Ich denke ein Faktor, der irgendwo entscheidend für meine Genesung war, war der zu erkennen, dass ich durchaus etwas wert bin. Ja, ich kämpfe heute noch immer was den Aspekt der Selbstliebe betrifft. Manchmal ist mein Selbstbild alles andere als ein positives. Und dennoch, heute bin ich stolz auf all das was ich erreicht habe.
Auch wenn mir meine eigenen Fortschritte oftmals so klein erscheinen, sodass mir geliebte Menschen ins Gedächtnis rufen müssen, dass jene Fortschritte eigentlich gar nicht so klein sind.

Ich glaube, einen so persönlichen Beitrag wie diesen hier habe ich bislang noch nie verfasst. Doch ich bin froh darüber es getan zu haben. Denn es ist ein Teil meiner Lebensgeschichte.

Fotos: Pexels.com


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