Zeit für Wahlprogramme. Überall schießen sie nun aus dem Boden. Alle verabschieden welche. Wer sich eines zulegt, gibt lediglich die politolinguistische Richtung für die nächsten Monate vor. Der Inhalt des Wahlprogrammes besteht nicht aus Konzepten, die gesellschaftlich organisiert werden sollen, sondern es handelt sich um reine Sprachkonzepte.
Die Sozialdemokratie zum Beispiel, die hat sich ein Wahlprogramm zugelegt, in dem der Begriff soziale Gerechtigkeit Platz findet. Verabschiedet wurde es auf Initiative jener parteilichen Avantgarde, die die soziale Gerechtigkeit vor einigen Jahren noch als Sozialromantik abtat. Es geht dabei aber auch nicht um handfeste Vorhaben, sondern um die Vereinbarung darüber, in den nächsten Monaten verstärkt und nachdrücklich der sozialen Gerechtigkeit das Wort zu reden. Es ist eine Sprachregelung, über die die Partei abgestimmt, die sie sich selbst auferlegt hat.
Das Wahlprogramm ist insofern nicht die Wahl eines Programmes, sondern die Wahl über Worte, die man verstärkt benutzen möchte in Zeiten des Wahlkampfes. Es ist eine von Parteifunktionären abgesegnete PR-Strategie, ein sprachlicher Modus auf den man sich selbst programmiert.
Als sich Müntefering vor Jahren empörte, man dürfe seine Partei nicht an den Versprechungen messen, die sie im Wahlkampf gemacht habe, setzte er voraus, dass eigentlich alle Welt wissen müsste, dass die auf dem Wahlprogramm basierten Versprechungen, lediglich als rein linguistische Übungen gemeint waren. Er fand ungerecht, dass man diese Sprachregelung nun auch noch in die Welt der Taten hieven wollte, obwohl sie nur für die Welt der Worte ersonnen war. Der Wähler meint ja ohnehin viel zu oft, dass diesen Worten Taten folgen sollten, obgleich das nicht der ursprünglichen Aufgabe des Wahlprogrammes entspricht. Das ist nicht mehr als ein rein soziolektisches Programm, das sich die gesellschaftliche Gruppe der Politiker gibt.
Wenn nun über Wahlprogramme berichtet wird, vermittelt man gerne den Eindruck, hier feilten sich Parteien ein Profil, das sie durch Planung von Handlungen konturieren möchten. Dabei ist die Wahlprogrammiererei ein rein passiver Akt der Kommunikation. Wie sprechen wir miteinander und mit anderen? oder Welche Worte müssen unbedingt verwendet werden? sind die Statuten des Wahlprogrammes. Wie eine Schulklasse, die sich am Jahresanfang eine Liste mit Umgangsregeln erstellt, die sich notiert Wir melden uns bevor wir reden!, so heben die Delegierten der Parteien die Hand, um über die Regeln kommender Tage abzustimmen.