Mein Vater fehlt uns noch mehr als ich mir hatte vorstellen können. Hören konnte er längst nicht mehr in den letzten Jahren, verweigerte jedes Hörgerät als wollte er die Stille des Alls vorwegnehmen, in das er immer schon reisen wollte. Gespräche mit ihm wurden fast unmöglich. Aber er war ein fester Bestandteil unserer Welt. Was er mir an inneren Orientierungshilfen hinterlassen hat geht nicht verloren. Doch immer wieder klingt im Radio eine Stimme seiner ähnlich, oder der Mond ist am Himmel zu sehen: irgendetwas bringt ihn nahe und macht sein Fehlen schmerzlich deutlich.
Es folgen ein paar Ausschnitte aus der Grabrede, die ich für ihn geschrieben habe.
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Aus: „A man of Space and for the ages“ – So long, Papa
Mein Vater hockte am Ende der Kegelbahn und betrachtete prüfend das Chaos. Die Kegel hatten sich am Ende ihrer Schnüre hoffnungslos verheddert anstatt sich ordentlich wieder aufzustellen.
„Du musst immer zuerst den wichtigsten Faden finden, ehe du etwas anfasst. Wenn du den entwirren kannst, funktioniert oft das ganze System wieder.“
Während er diesen bestimmten Faden suchte, versuchte ich die Tatsache zu verdauen, dass er sich dem Schild „Bahn betreten verboten“ widersetzte.
„Wir betreten nicht, wir bringen in Ordnung“ hatte er verschmitzt grinsend gesagt. „Es ist viel einfacher, das Problem direkt zu beheben, als jemanden vom Hotelservice zu suchen. Komm mit, du kannst besser in die Ecken kriechen.“
Ich war ungefähr neun und sehr stolz, dass ich zusammen mit meinem korrekten Vater etwas Verbotenes tun und außerdem ein Problem beheben durfte.
Er nahm sich Zeit, fand nur durch Betrachtung den richtigen Faden, wies mich an, einmal daran zu ziehen und einen Kegel zwischen zwei anderen hindurchzustecken, und schon löste sich die Verwirrung.
Später schaffte er es nie, mir die Mathehausaufgaben so zu erklären, dass ich sie verstand. Er gab offen zu, dass Mathe nicht sein Ding sei und zeigte uns seine Zeugnisse, auf denen es mäßige Zensuren zu sehen gab. Aber die Sache mit dem wichtigsten Faden, die habe ich mir gemerkt. Sie nützt mir heute noch, wenn es ein Problem zu beheben gibt, selbst wenn es ein theoretisches ist.
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Der Nachbar, Herr Köhler, beschreibt unseres Vaters Fähigkeit, eine Situation zu analysieren und das Wesentliche, zur Änderung Nötige zu finden so:
„Der Teich war fertig, doch dem Hausherrn fehlte etwas. Das Profil des Teichufers erschien ihm zu flach, aber das konnte geändert werden. Er entsann sich zweier, aus der letzten Eiszeit übriggebliebener Findlinge. In dieser Situation schaltete der Gartenliebhaber Koelle auf den Diplomingenieur um, dem die Gesetze der Mechanik vertraut waren. Mit mehreren langen und stabilen Stangen sowie zweier problemlos mobilisierter Hilfskräfte, dem Mieter Rätsch und dem Nachbarn Köhler, begann der Transport der Steine zum Teich. Ruhig, mit leisen, aber präzisen Anweisungen an die Helfer, wie sie die Stangen anzusetzen und zu bewegen hatten, wurde der Transport durchgeführt. Die Bewegung beschleunigte sich, nachdem die Helfer die Wirkung der Hebelkraft erkannten und anwendeten. Es war ein einzigartiges Bild: Ein Raketen- und Weltraumforscher, der in seinen Planungen schon weit in das 21. Jahrhundert vorstieß, bewegte Steine mit einer Technik, die man als eine Vorstufe zum Pyramidenbau bezeichnen könnte.
Zugleich war es ein Bild ungestörter Harmonie: Drei Männer um einen Stein bemüht, alle drei mit Stangen arbeitend, aber einer wusste mehr. Er hatte die präzisen Vorstellungen, die seine Mitarbeiter mit Bewunderung zur Kenntnis nahmen.“
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Ich kann mich daran erinnern, wie anders die Welt wirkte, wenn man auf Papas Schultern saß. Es kam selten vor und war darum umso beeindruckender. Sicher fühlte es sich dort oben an, sicher und schwebend zugleich. Der Mond schien nur ein kleines Stückchen weiter weg.
Papa war oft ein ferner Vater, selten zuhause. „Er ist im Büro“, sagte Mama. Manchmal war er zwar zu Hause, mit seinen Gedanken aber so weit weg, dass er uns nicht wahrnahm und nicht hörte, wenn er gerufen wurde, selbst wenn er gerade mal wieder denkend um den Tisch wanderte und das Parkett knarren ließ. Das Geräusch unterstrich für mich seine Wichtigkeit. Selbst der Boden hatte Respekt vor ihm. „Papa ist mal wieder auf dem Mond“ sagte Mama dann liebevoll amüsiert. Ich schloss anfangs daraus, dass er sein Büro auf dem Mond hatte. War ja auch logisch, schließlich ging es bei seiner Arbeit ja darum.
Manchmal kam er abends auch gar nicht nach Hause, dann war er auf Dienstreise, meistens in Bonn.
Bonn war eine sehr geheimnisvolle Stadt: erstens klang ihr Name wie der Gong, der uns gebieterisch zum Essen zu rufen pflegte – Papa liebte sein Essen pünktlich, hörte aber nicht immer, wenn man ihn dazu rief. Zweitens gab es in Bonn immer sehr wichtige Geschäfte für den Papa zu erledigen; ich hatte das Gefühl, dass die in Bonn nie lange ohne meinen Vater zurechtkamen. Drittens war es eine Stadt, in der es offenbar sehr viel Zucker gab, denn immer, wenn er von dort zurückkam, legte er für mich einige Stück eingepackte Würfelzucker auf einen bestimmten Messingteller. Ich mochte eigentlich keinen Zucker, aber diesen aß ich, weil er bedeutete, dass Papa im geheimnisvollen Bonn an mich gedacht hatte. Sparsam, wie er war, war er wohl froh, dass er mich hatte, denn er mochte seinen Kaffee nicht süß, hätte den bezahlten Zucker aber sicher ungern im Flieger liegengelassen.
Erst später begriff ich ungefähr, wie die Welt für ihn aussah, für den sie nur ein Teil des Alls und die Wiege der Menschheit war, der Größeres bestimmt sein konnte. Nebensächlichkeiten interessierten ihn gar nicht erst, und die meisten Probleme waren für ihn zu klein und unbedeutend um welche zu sein. Das war ein Teil seiner Gelassenheit und seiner Fairness Menschen gegenüber, und heute bin ich dankbar für das Geschenk dieser ungewöhnlichen Perspektive, die ich zwar nie so konsequent übernehmen konnte und wollte, die mir aber oft ein hilfreiches Werkzeug ist.
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Zurück zu den Erinnerungen: eine meiner Schönsten ist, das er mich – ich war etwa vier – in einer Sommernacht weckte und im Schlafanzug auf den Balkon trug. Dort stand sein Fernrohr. Es muss im August gewesen sein, es war sehr warm und duftete nach Blüten, und unten im Gras sangen die Grillen. Papa stellte mit ungewöhnlicher Geduld das Fernrohr für mich ein bis ich etwas sah, zeigte mir erst die Mondmeere und dann die Ringe des Saturn. Ich hatte noch nie etwas Großartigeres gesehen. Jetzt wusste ich, wie es in seiner Welt, in seinem Büro aussah – und was für ferne Wunder es waren, die ihn umtrieben. Ich begriff, dass unsere Welt nur ein sehr kleiner Teil einer sehr großen Sache war. An jenem Abend schenkte er mir den Himmel.
Es passte zu der Art, wie er später mit einer Kerze, die an den Stiel eines Kochlöffels gebunden war, die oberen Kerzen am Weihnachtsbaum anzündete. So hoch wie der Baum war, musste selbst Papa sich recken, um dort heranzukommen. So in voller Größe, mit dem flammenden Stab in der Hand, hatte er etwas von einem Magier, der den Dingen den Glanz verlieh.
Die Sterne und der Himmel schleichen sich bis heute immer hintenherum in meine Geschichten. Und auch an den Geschichten ist irgendwie der Papa schuld. Er gab uns die alten Science-fiction-Romane zu lesen, die ihn einst für die Raumfahrt begeistert hatten. Nur war ich viel zu jung, um sie mehr als halb zu begreifen, und so bastelte ich mir meine eigenen Geschichten daraus und fing an, sie aufzuschreiben.
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„Karin erzählt Folgendes: „Als ich 16 Jahre alt war, fragte mich mein Vater beim Abendessen was ich denn dachte der Zweck des Lebens wäre. In typischer selbst-zentrierter Teenager Art sagte ich sofort, der Zweck des Lebens ist eindeutig, soviel Spaß wie möglich zu haben. Er sah mich etwas bedenklich an und fragte dann, ob ich nicht dachte dass der Zweck des Lebens ein Pflichtgefühl der Menschheit gegenüber miteinbeziehen sollte? In dieser Art und auch in seinem nie-schwankenden ethisch ausgezeichnetem Vorbild in praktischen Dingen, z.B. die Bereitschaft, gerne seine Steuern zu zahlen, gab mein Vater mir einen klar lesbaren Maßstab an dem ich mein eigenes Verhalten bewerten konnte. Wie so ein Maßstab einem helfen kann sich durch das Leben zu finden lernte ich erst in den nachkommenden Jahren, und es dauerte noch lange ehe ich mich dafür auch wirklich dankbar fühlte.“
Auch ich frage mich im Zweifel immer: „Was würde mein Vater machen? Wie würde er darüber denken?“
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Die Suche nach den Ahnen auf diversen Friedhöfen in halb Deutschland, das Blättern in uralten Kirchenbüchern gehört für mich zu den schönsten Erinnerungen an meinen Papa. Er war so voller Begeisterung dabei, seine Augen leuchteten wenn wir etwas fanden, da verlor er fast seine gewohnte Gelassenheit. Er lehrte mich etwas über unsere Wurzeln, und es war etwas von Schatzsuche und Abenteuerlust dabei.
Abenteuer konnte man mit ihm sowieso erleben, und genau dabei war seine Gelassenheit am größten, was ich immer bewunderte und versuche, mir ein Beispiel daran zu nehmen.
Einmal war er mit mir im Schlachtensee schwimmen. Kaum war er im Wasser, verlor er den Autoschlüssel, der auf Nimmerwiedersehen im Schlamm verschwand. Wir hatten aber bis auf das Kinderschlauchboot alles im Auto gelassen, trugen nur Badesachen, hatten nicht einmal ein Handtuch. Er wies mich an, zu warten, lief barfuß und in seiner engen rosa Badehose zur Straße, stieg tropfnass in ein Taxi und holte zuhause den Ersatzschlüssel. Als er zurück war, ging er erstmal in aller Seelenruhe schwimmen. Wir hatten einen schönen Nachmittag, während Mutti zuhause fast verrückt wurde vor Sorge, weil er ihr nicht gesagt hatte, dass er noch gar nicht schwimmen gewesen war und das noch zu tun gedachte.
Ich weiß auch noch, wie wir im Harz auf einer steilen Straße in Blitzeis gerieten und er völlig cool blieb, rückwärts den Berg heruntersteuerte als täte er das täglich. Ein andermal wurden wir in den Smoky Mountains von dickem Nebel überrascht und der Tank war fast leer. Ein Ranger lotste uns in einem Affenzahn um Haarnadelkurven ins Tal; Papa folgte im selben Tempo dessen Rücklichtern, obwohl er die Strecke ja nicht kannte. „Blindflug kann er eben“, meinte Mutti. So ähnlich muss es gewesen sein, als er im Krieg mit dem Flugzeug abgeschossen wurde. Seitdem brachte ihn wohl nichts mehr aus der Ruhe.
Der Kriege wegen fehlten der Raumfahrt leider bis heute die Mittel, um die Projekte umzusetzen, die technisch möglich gewesen wären. Das ärgerte ihn immer wieder. „Aus dem All gesehen, ist die Erde eine schöne runde Kugel ohne Grenzen drauf. Wenn die Menschen sich das doch klarmachen würden!“ sagte er.
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Kurz, einfach und klar drückte er sich auch gerne aus. So unterschrieb er ja stets nur mit H.H. Ich kann mich an eine Feier erinnern, auf der er zur Eröffnung sagte: „Gute Reden sind kurz. Dies ist eine gute Rede. Ich wünsche Euch einen schönen Abend. Das Buffet ist eröffnet.“
Es tröstet, dass es weltweit so viele Menschen gibt, die sich voller Dankbarkeit und Achtung dieser Spuren bewusst sind, die er in ihrem Leben hinterlassen hat. Wir brauchen nur einen Blick in all die Karten werfen, die ins Haus geflattert sind.
„Wir haben einen klug denkenden und visionären Kollegen verloren. Aber seine Werke werden weiterwirken, und die Erinnerungen an ihn werden wach bleiben“, schreibt das Ehepaar Dittus.
“Professor Koelle war ein herausragender Pionier der Raumfahrt, anerkannt und geschätzt nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Er hat nie aufgehört, sein Wissen und seine Erfahrung für die Raumfahrt einzusetzen“, so die Worte Prof. Feuerbachers von der International Astronautic Federation, von der Papa einer der Gründungsväter war.
„Es ist kaum zu glauben, dass er sein ruheloses Schaffen beendet hat. Allerdings können Sie gewiss sein: es gibt viele „Jünger“, die sein Werk mit dem ihm eigenen Optimismus und seiner Beharrlichkeit fortsetzen werden“, versichert Dr. Hans Mertens.
Was das ruhelose Schaffen angeht, sei erwähnt, dass er neben dem legendären „Handbook of Astronautical Engineering“ über 350 Fachaufsätze, außerdem drei Fachbücher zur Entwicklung des Mondfluges veröffentlichte und bis zuletzt Herausgeber des „Lunar Base Quarterly“ war. Auf die zahlreichen Ehrungen, die er erhielt, legte er nich allzuviel Wert, aber ich denke, sie haben ihn dennoch gefreut. „Du kannst stolz auf ihn sein“ schrieb Fritjof Speer. Das sind wir wohl alle. Nicht zuletzt, weil sich Papa nie etwas darauf einbildete.
„He was always a superlative engineer, a loyal friend, and totally dedicated to putting humans into space,” so Humboldt Mandell.
Und was Harrison Schmitt, der Apollo 17-Astronaut schreibt, finde ich besonders schön. Es klingt wie etwas, was man als Fahne auf seinem Grab hissen könnte wie damals die Astronauten die amerikanische Fahne auf dem Mond:
„Heinz-Hermann was truly a man of space and for the ages. Thank you for sharing his life with us.”
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Und wir denken, es ging ihm vielleicht an seinem Abschiedstag wie in der folgenden Geschichte, die für sein ganzes Leben steht und die Entstehung eines Familienschlagworts zur Folge hatte:
Mama und ich erinnern uns, wie wir einmal im tiefverschneiten Harz in unbekanntem Gelände an einer kaum erkennbaren Weggabelung standen und überlegten, für welche Richtung wir uns entscheiden sollten. Der eine Weg war recht gut ausgetreten und eindeutig, doch der kleine, nicht in der Karte verzeichnete Nebenweg schien Papa attraktiver. Er stocherte ein paarmal prüfend mit seinem Wanderstock im wirklich sehr tiefen Schnee, machte einen Schritt, bei dem er bis zum Knie versank, rückte seinen Hut zurecht und verkündete strahlend: „It’s a risk –let’s go! Es ist ein Risiko, gehn wir los!“