In der letzten ZEIT bewegte ein Artikel eines Vaters, der von der Fütterstörung seine Tochter im ersten Lebensjahr berichtete. Die Bezeichnung des Verhaltens, wie es der Vater nennt, lautete “Frühkindliche Anorexie”, die Kinderärzte sprechen eher von einer “Fütterstörung”. Das Kind habe sich schon immer schwer füttern lassen, “vergaß meine Frau mal, sie zu stillen, beschwerte [Karla] sich nicht.” Und das setzte sich mit der festeren Beikost fort. Das Kind sei permanent im Hungerstreik, es gebe nichts, was es gerne esse, es gebe keine Füttersituation, die entspannt verliefe.
Der Vater berichtete von all den Mühen und Versuchen, die Tochter zum normalen Essen zu bewegen, und erst ein mehrwöchiger Kuraufenthalt habe so etwas wie Hoffnung in der Familie gesetzt. Eine sorgenvolle, angstbesetzte Zeit, die nachvollziehbar an den Nerven der Eltern zehrt, ich bewundere den unterschwelligen Humor, den der Vater in seinen Zeilen vermittelt. Galgenhumor.
Wer den Artikel liest, mag zu dem Schluss kommen, es gebe mehr Kinder, als wir glauben, die bereits im Kleinkindalter “anorektisch” seien. Das vermittelt die Benennung des Vaters und auch der Erklärungskasten im Artikel, welcher von “mehreren Promille der Bevölkerung” spricht. Das ist sicher falsch. Die Anorexie kommt zwar bei unter 1% der Jugendlichen vor, eine Fütterstörung im Kleinkindalter sogar bei 5% der Kinder, eine Vermischung der Entitäten ist aber nicht statthaft, schon gar nicht, um den Leser eines Artikels mit einem bekannten Krankheitsbild (Magersucht) zu ködern.
Die Anorexia nervosa ist zwar genauso eine Essstörung wie die frühkindliche Fütterstörung, aber sie geht stets mit einer Körperschemastörung der betroffenen, ja, meist Mädchen einher, welche sich immer noch für zu dick halten, obwohl sie bereits einen Bodymassindex unter 16 kg/m2 haben, die Monatsblutung ausbleibt und sie präkollaptisch sind. Eine gewisses Motiv hinter der Magersucht der Jugendlichen kann man neben den anderen Risikofaktoren (Genetik, Familienkonstellation, frühkindliches Essverhalten) also ableiten, was einem Kleinkind eher abgeht. Das Kleinkind Karla in dem Artikel verweigert aber nicht motiviert das Essen, um dünn zu bleiben.
“Wenn da jemand gestört ist, dann nicht das Kind allein”, schreibt Karlas Vater in seinem Artikel. Und so entwickelt sich aus dem kindzentrierten “Krankhungern” und “schlechten Essen” das familienzentrierte Handeln, die “Selbstbeobachtung und -korrektur” [der Eltern], denn “wer nicht per se falsch füttert, beginnt irgendwann damit, wenn seine Bemühungen andauernd scheitern.” Wohl wahr. Füttern und Essen gelingen am besten, wenn man sie als selbstverständlich hinnimmt und nicht als aktive Mittel zum Überleben. So wie das Atmen oder Fortbewegen. Die Angst vor dem Verhungern des Schutzbefohlenen lähmt alle Intuition und schürt das Tricksen mit Essspielen, Schimpfen oder Belohnungen.
In der alltäglichen Praxis begegnet uns Kinderärzten noch immer die Diktion des “schön” und “genug” Essens oder vielmehr des Gegenteils, das Kind esse immer “zu wenig” oder “nicht richtig.” Unser aller Prägung, den Nachwuchs mit ausreichend Essen durchzubekommen, verstellt den Weg zur Eigenregulation von Hunger und Durst, auch der Lust am Essen. Der Säugling wird nach Uhr gestillt und nicht nach Bedarf, die Flasche so oft angesetzt, wie die Packungsrückseite das hergibt und nicht, wie das Baby dies einfordert.
Die Beifütterzeit bringt dann den Umbruch: Die Säuglinge beginnen jetzt, sich zunehmend autonom zu verhalten (Individuationsphase), dies führt zum Konflikt mit den aufgezwungenen Fütterbestrebungen der Eltern, schließlich verweigert das Kind aus Frust das Essen, was die Angst vor dem Verhungern des Kindes die Eltern zu noch mehr Fütteranstrengungen verleitet.
Die Eltern hören auf Oma und Opa (“der isst aber nicht schön” und “Gott, ist die dünn”), Nachbarin und sonst berufene Beifütterratgeber (“also, bei uns hat geholfen…”) und verlieren den Blick auf ein Grundprinzip: Wir entscheiden nur, was die Kinder essen und sie entscheiden, wieviel.
Eine Fütterstörung ist eine Bedürfnisstörung als Fehlregulation in der intrafamiliären Beziehung, wie das auch bei Schreibabys oder Bindungsstörungen vorkommt, damit aber kein unilateraler Vorgang, an dem irgendjemand Schuld trägt. Wer das erkennt, ist einen Schritt weiter. Eine jugendliche Anorexie hat viel davon, läuft aber viel komplexer ab, da motivgesteuerter, und ist trotzdem oftmals in einer frühkindlichen Fütterstörung begründet. Gleichsetzen sollte man sie nicht.
Noch etwas: Schwerste Fütterstörungen, wie die berichtete, sind sicher große Ausnahmen. Wir sollten uns als fütternde Leser daher davor hüten, jeden verweigerten Löffel im Lichte dieses Artikels zu sehen. Denn dann kommt zur Angst vor dem Verhungern des Kindes auch noch die Angst vor der “Anorexie” des Kleinkindes dazu.
Hilfe für betroffene Familien.
… sobald der Artikel online verfügbar ist, gibt’s hier den entsprechenden Link.