EIN LIEBESLIED FÜR ANNA

Von Hillebel

Als Anna Geerke, eine erfolgreiche Hamburger Innenarchitektin, beschliesst, allein Ferien in Andalusien zu machen, ahnt sie nicht, dass sie dort dem Mann ihres Lebens begegnen wird. Aber alles ist schwieriger, als beide es sich vorgestellt haben …

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Als Anna die Tür schloss und Luis ansah, der inmitten der Gepäckstücke im Wohnzimmer stand, wurde sie von einem Schwindel ergriffen, der gleichermassen aus Glück und Angst bestand. Worauf hatte sie sich eingelassen? Würde das gutgehen? Aber hatte sie überhaupt die Wahl gehabt?

Luis lehnte den Kasten mit seiner kostbaren Gitarre vorsichtig an einen Sessel und kam auf sie zu. Er lächelte. Und wieder gab es nur noch sie beide auf der Welt. Sie beide und ihr Glück.

Mitten in der Nacht wachte sie auf, sah auf den schlafenden Mann an ihrer Seite und liess ihre Gedanken zurückwandern …

Anna hatte beschlossen, dieses Jahr ihre Ferien in Andalusien zu verbringen. Weil sie keine Lust hatte, allein am Strand zu liegen, hatte sie sich am Flughafen von Sevilla ein Auto geliehen. Sie wollte ein wenig in der Gegend herumfahren, wollte sich die architektonischen Wunderwerke von Sevilla, Cordoba und Granada ansehen. Im Hotel duschte sie ausgiebig, zog sich um und beschloss, den ersten Ferienabend in einem guten Restaurant zu feiern. Sie konnte es sich leisten. Beruflich lief alles bestens für sie, mit 32 Jahren gehörte sie zu den gesuchtesten Innenarchitektinnen von Hamburg, sie hatte vor einem Jahr eine hübsche Wohnung an der Alster bezogen und kleidete sich in den besten Boutiken ein. Nur der Liebe war sie noch nicht begegnet. Es hatte Männer in ihrem Leben gegeben, aber keiner von ihnen hatte in ihr das Gefühl ausgelöst, unersetzbar zu sein. Und nur mit einem solchen, hatte sie beschlossen, würde sie einmal leben.

Als sie das Restaurant betrat, folgten ihr die Blicke der Männer. Eine stumme Ovation, die ihrer Schönheit galt. Anna hatte ihr blondes Haar aufgesteckt, die meergrünen Augen waren von dichten Wimpern beschattet. Der Maître d’Hôtel führte sie zu einem Tisch am Fenster, mit Blick auf den majestätisch dahinfliessenden Guadalquivir. Die Küche war vorzüglich, ebenso der andalusische Rotwein, den sie zum Menü bestellt hatte. Sie war beim Nachtisch angelangt, als ein hochgewachsener, aristokratisch aussehender Mann mit einem Gitarrenkasten das Restaurant betrat, ein paar freundschaftliche Worte mit dem Besitzer wechselte und das kleine Podium erklomm, auf dem ein Stuhl und eine kleine Fussbank bereitstanden. Er hob seine Guitarre aus dem Kasten und stimmte sie. Und dann sang er. Es war die wunderbarste Musik, die Anna je gehört hatte. Fremdartig und schön. Sie konnte genug spanisch, um zu verstehen, dass es um Andalusien, um Seefahrer und Sehnsucht ging, um schöne Frauen, um Liebe und Ehre. Gebannt lauschte sie. Als der Musiker den Kopf hob, als ihre Augen sich trafen und nicht mehr losliessen, war ihr, als hätte sie ihr ganzes Leben auf diesen Mann gewartet, als sei sie eigens nach Andalusien gekommen, um ihm zu begegnen. Von da an schien er nur noch für sie zu singen, um ihr Herz zu berühren.

Als er geendet hatte, verliess er ungeachtet des Applauses das Podium, kam an ihren Tisch und verneigte sich mit der Grandezza eines Weltmannes: “Senora, bitte erlauben Sie mir, Ihnen dieses Rezital zu widmen.”

Sie bat ihn, sich zu setzen. Luis stellte sich vor. Es war ein beeindruckend langer Name, aber er wiegelte sofort schmunzelnd ab: “Der Name ist das einzige, was mein Vater mir hinterlassen hat.”

Sie nannte ebenfalls ihren Namen. Und musste lachen, weil er kürzer nicht ging: “Anna Geerke. Aus Hamburg.”

“Oh, Sie sind Deutsche, wie meine Mutter”, lächelte er und wechselte sofort zum Deutschen über, das er fliessend sprach. Anna erfuhr, dass seine Eltern sich tief und innig geliebt hatten. Aber vor drei Jahren waren sie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, und Luis musste feststellen, dass sein Vater nichts besass als Schulden: “Ich musste unser Stadtpalais in Cordoda verkaufen, um die Schulden zu bezahlen, aber ich habe meine Musik. Meine Eltern haben mich glücklicherweise nicht daran gehindert, die Musikhochschule zu besuchen, obwohl mein Vater ein Jurastudium vorgezogen hätte. Er wusste halt, dass ich mir meinen Lebensunterhalt einmal selbst würde verdienen müssen. Die Liebe zur Musik habe ich von meiner Mutter geerbt. Sie hatte eine wundervolle Altstimme. Als Jurist würde ich heute zweifelsohne ein höheres Einkommen haben, aber was soll’s, ich bin nur mit meiner Musik glücklich.”

Annas Lebenslauf war ungleich schneller erzählt. Ihr Vater war Architekt, ihre Mutter Hausfrau. Nach einer behüteten, glücklichen Kindheit und Jugend hatte sie die Hochschule für bildende Künste besucht.

Von da an waren sie unzertrennlich. Luis war ein unvergleichlicher Fremdenführer. Für Anna beschwor er die eindrucksvolle Geschichte Andalusiens herauf, die Zeit, in der Mauren, Juden und Christen friedlich miteinander an den Ufern des Gualdalquivirs lebten und Kunst und Wissenschaft sich zu ungeheurem Reichtum entfalten konnten. Sie fuhren in Annas Leihwagen nach Cordoba. Er zeigte ihr die wunderbare Moschee und das Stadtpalais seiner Familie, in der jetzt reiche Amerikaner wohnten. Die neuen Eigentümer empfingen ihn freundlich, und er konnte Anna das Haus seiner Ahnen zeigen. Sie bewunderte die hohen, mit kostbaren Möbeln, funkelnden Kronleuchtern, mit Gobelins und Bildern ausgestatteten Räume. Besonders der Patio bezauberte sie: Der sprudelnde, Kühle spendende Brunnen in der Mitte, die unregelmässige Pflasterung, die wunderschönen Azulejos, mit denen die untere Partie der Hauswand gekachelt war und die üppige Pflanzenpracht, die sich an Wänden und Säulen emporrankte.

Als sie wieder draussen standen und zur streng wirkenden Fassade emporschauten, die derartige Wunder in sich barg, sagte Luis leise und inbrünstig: “Eines Tages werde ich diesen Palais zurückkaufen. Für dich!”

An diesem Abend schliefen sie zum ersten Mal zusammen, und Luis liebte sie so innig und leidenschaftlich, dass Anna bis ins Innerste erschüttert war. Jetzt war sie ganz sicher: Dies war der Mann, der ihr vom Schicksal bestimmt war.

Aber das Ende der Ferien näherte sich unausweichlich. Wie sollte es weitergehen mit ihnen? Beiden schien eine Trennung unmöglich, aber Luis lebte in Sevilla, Anna in Hamburg. Luis sprach es aus, als sie die letzte Nacht einer in den Armen des anderen lagen: “Ich liebe dich, Anna. Ich liebe dich mehr als mein Leben. Würde es dir recht sein, wenn ich mit nach Hamburg komme?”

Jähe Freude erfüllte sie: “Natürlich, Luis. Wir werden beide bei mir wohnen, wir werden glücklich sein!”

“Ich habe ein paar Ersparnisse, und dann hoffe ich, schnell in Deutschland Arbeit zu finden.”

Und jetzt waren sie hier. Würde er Arbeit finden? Sie verdiente genug für zwei, aber sie wusste, dass sein Stolz es nicht zulassen würde, finanziell von ihr abhängig zu sein. Und dann: Würde Luis Liebe zu ihr stark genug sein, um dem Herbst in Deutschland, dem Regen, dem langen kalten Winter, der bald hereinbrechen würde, standzuhalten? Er bewegte sich im Halbschlaf, sie fühle seine Arme um sich, und endlich konnte sie wieder einschlafen.

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Der Novemberregen schlug gegen die Fensterscheiben. Luis hatte die endlosen Behördengänge hinter sich gebracht. Er hatte einige Gitarrenschüler gefunden, aber Anna spürte, dass ihm die öffentlichen Auftritte fehlten.

Eines Tages kam er freudestrahlend nach Hause: Ein Nachtklubbesitzer hatte ihn engagiert. Viel würde er nicht verdienen, aber es war ein Anfang, meinte er zuversichtlich.

Anna begleitete ihn ein paarmal in den Nachtklub. Das Herz tat ihr weh, als sie sah, dass viele Gäste nicht einmal ihre Unterhaltung unterbrachen, wenn Luis auftrat. Niemand verstand seine wunderbaren Texte, und seine Musik schien die Verpflanzung in den grauen Norden nicht zu vertragen. Als sie Luis angespanntes Gesicht sah, begriff sie, dass er zum selben Schluss gekommen war und darunter litt.

Er veränderte sich. Er hatte seine Sonnenbräune verloren, selbst seine dunklen Samtaugen schienen heller geworden zu sein. Die seltenen Momente des Zusammenseins, die ihnen ihre Arbeit gestattete, waren überschattet von seiner Melancholie. Das machte sich auch in der Liebe bemerkbar. Sie fanden immer seltener zur Ekstase, schliesslich vermieden sie es ganz, sich zu berühren. Anna sah mit Mitleid und Schrecken, dass etwas dabei war, in Luis zu zerbrechen.

Tatsächlich fühlte er sich wie ein Klotz an ihrem Bein. Seine Ersparnisse waren aufgebraucht, er verdiente nicht viel. Er konnte Anna nicht mehr mit Blumen, mit Geschenken und Restaurantbesuchen verwöhnen. Und die Hoffnung, eines Tages sein Elternhaus zurückkaufen zu können, schrumpfte mit jedem Tag …

Als er eines Morgens von der Arbeit nach Hause kam, setzte Anna sich im Bett auf und sagte: “Ich habe nachgedacht, Luis. Es ist besser, wenn du wieder nach Andalusien zurückgehst.”

Er sah aus, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen. Sie musste sich zusammennehmen, um ihm nicht zu sagen, dass sie ihn liebte wie zuvor, dass sie es nur nicht ertragen konnte, ihn hier so unglücklich und frustriert zu sehen.

Schliesslich sagte er leise: “Gibst du mir etwas Zeit?”

“Soviel du willst”, erwiderte sie warm. “Ich verstehe, dass du Vorbereitungen treffen musst.”

Von da an schlief er auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie gingen sich aus dem Weg. Manchmal, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, hörte sie einige Notenklänge, aber sie verstummten sofort. Ihr brach es fast das Herz, als sie sah, was er alles für sie tat: Stets war die Wohnung ordentlich und sauber, er kochte mit Liebe das Abendessen und duldete nicht, dass sie hinterher die Küche aufräumte. Und doch bestand diese unüberbrückbare Entfernung, die Luis Stolz zwischen ihnen errichtet hatte.

Schliesslich hielt Anna diese Trennung nicht mehr aus. Sie wollte ihn wieder spielen hören. Weil er es zu Hause nicht mehr tat, jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart, beschloss sie, in den Nachtklub zu gehen.

Das erste, was Anna dort auffiel, war, dass es mäuschenstill war. Und dann begriff sie, warum: Luis sang auf Deutsch. Auch seine Musik hatte sich geändert. Es blieben gerade noch genug andalusische Anklänge, um dem innigen Liebeslied eine stolze Färbung zu geben. Denn es war ein Liebeslied. Er besang darin die Frau, die er bis zu seinem letzten Atemzug lieben würde. Er besang sie!

Anna stürzten Tränen in die Augen. Sie konnte sich nicht rühren. Als der letzte Akkord erstarb, herrschte einen Augenblick Totenstille. Anna zitterte für Luis, es durfte nicht sein, dass er für dieses wunderbare Lied keinen Applaus bekam. Aber dann brach er los. Luis verbeugte sich strahlend. Zum ersten Mal seit langer Zeit sah er glücklich aus. Anna wollte zu ihm laufen, aber jemand anders kam ihr zuvor. Atemlos sah Anna, wie die fremde, attraktive Frau lächelnd etwas zu ihm sagte, und Luis ebenfalls lächelnd antwortete. Die Frau legte die Hand auf seinen Arm, und sie gingen zusammen zu einem Tisch. Sie steckten die Köpfe zusammen, ihre Gesichter waren ganz nah. Es war vor allem Luis warmes, fröhliches Lachen, das Tina ins Herz schnitt. Sie hatte ihn schon so lange nicht mehr lachen gehört …

Sie wusste nicht mehr, wie sie nach Hause gekommen war. Wie dumm war sie gewesen, anzunehmen, dass das Lied ihr galt! Sie hatte ihn zurückgestossen, hatte gewollt, dass er nach Andalusien zurückging. Jetzt hatte er eine andere gefunden. Diese Frau hatte ihm seine Lebensfreude wiedergegeben und ihn zu diesem wunderbaren Lied inspiriert. Sie, Anna, hatte kläglich versagt! Irgendwann weinte sie sich in den Schlaf …

Als der Wecker klingelte, war Luis immer noch nicht zurück. Sie stand auf, wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser und trug Make-up auf. Aber als sie abends müde die Tür aufschloss, kam Luis ihr entgegen. “Da bist du ja endlich, Anna. Ich habe eine grosse Neuigkeit für dich.” Dann sah er sie besorgt an: “Du bist doch nicht krank?”

“Ach, ich weiss, was du mir sagen willst: Du hast eine neue Frau kennengelernt.”

Er sah sie verwirrt an: “Wie kommst du auf so etwas?”

“Wer war diese Frau gestern, in der Nachtbar?”

“Du warst da?”

“Ich wollte dich endlich wieder spielen hören. Das Lied war wunderschön. Ich wollte zu dir gehen, um dich zu beglückwünschen, aber sie … sie kam mir zuvor!”

Luis brach in Gelächter aus. Am liebsten hätte sie ihn erwürgt. Dann fasste er sie um beide Schultern und schüttelte sie sanft: “Anna, ich habe das Lied für dich geschrieben!”

“Für mich?”

“Die Frau meines Liedes ist blond und hat grüne Augen. Die Frau, die mich angesprochen hat, hat dunkles Haar.”

“Hm, ja. Sie hat dich also angesprochen. Du kanntest sie nicht?”

“Nicht im Geringsten. Stell dir vor, sie ist Impresario und will mich unter Vertrag nehmen. Sie glaubt derart an mich, dass sie mir einen Scheck mit einem königlichen Vorschluss ausgeschrieben hat. Nachdem wir uns getrennt haben, bin ich in der Stadt herumgelaufen, bis die Bank aufmachte. Weisst du, als du mir angeboten hast, nach Andalusien zurückzugehen, ist mir klargeworden, dass ich auf dem besten Weg war, aus Stolz und Frust und sogar grässlichem Selbstmitleid unser Glück zu zerstören. Dabei bin ich doch nur dort glücklich, wo du bist. Egal, wo es ist. Ich habe beschlossen, heimlich diese Liebeserklärung an dich zu schreiben, auf Deutsch. Gestern habe ich sie zum ersten Mal gesungen. Als ich den Applaus hörte, wusste ich, dass ich endlich auf dem richtigen Weg war, um das Herz des deutschen Publikums zu erobern. Anna, natürlich kann ich dir nicht versprechen, reich und berühmt zu werden, vielleicht ist es dir immer noch lieber, wenn ich nach Andalusien zurückgehe?”

“Idiot”, sagte sie zärtlich.

Er zog ein Päckchen aus der Tasche und überreichte es ihr. Sie öffnete es, und ihre Augen wurden gross, als sie den wunderschönen Ring darin entdeckte. Sie nahm ihn aus der Schatulle und streifte ihn über den Finger. Er sass wie angegossen.

“Luis, das ist aber nicht vernünftig”, stöhnte sie.

“Bitte, zieh dich um. Ein Kleid für dich liegt auf deinem Bett, ich habe es in einer Boutike entdeckt.”

Als sie fertig angezogen zurückkam, sagte er: “Du siehst umwerfend aus. Ich liebe dich, Anna. Es ist, als wären wir schon verheiratet und würden im Patio meines Elternhauses unsere Gäste empfangen.”

Das erinnerte ihn daran, dass er sich selbst noch umziehen musste. Aus dem Schlafzimmer rief er: “Ich habe einen Tisch in unserem Lieblingsrestaurant reservieren lassen. Endlich kann ich dich wieder ausführen!” Dann sah er sie ernst an: “Ich weiss, dies alles ist vielleicht nicht sehr vernünftig, aber dieser Tag soll etwas ganz Besonderes werden. Danach, das verspreche ich dir, geht’s an die Arbeit!”

Sie ging zu ihm. Er sah grossartig aus. Langsam band sie seine Fliege wieder auf, ebenso langsam öffnete sie Knopf für Knopf sein Hemd.

“Das war eigentlich als Abschluss gedacht”, lächelte er, aber seine Stimme war dunkel vor Verlangen.

“Ich möchte auch einen Vorschuss”, verlangte sie und küsste ihn.

Es war wie am Anfang. Nein, noch schöner, denn ihre Liebe hatte die erste Feuerprobe bestanden.

Als sie mit einer Stunde Verspätung Hand in Hand das Restaurant betraten, lächelte sogar der sonst so streng aussehende Maître d’Hôtel, als er sie zu ihrem Tisch führte …

ENDE