Ein Leben für die Literatur

Reich-Ranicki-Mein-LebenSelten schaffe ich es, ein Buch binnen weniger Tage durchzulesen, indem ich es wie Luft einatme, darüber Reflektiere und auch noch beschließe eine kleine aber feine Rezension darüber zu schreiben. Noch seltener kommt man sicherlich nur dazu, eine Kritik bzw. Rezension über das Werk eines Kritikers zu verfassen, der die Literatur so maßgeblich verändert hat wie der 2013 verstorbene Marcel Reich-Ranicki. Die Jenigen, die glaubten, dass dieser Mann nur kritisieren kann, solle sich seine Autobiographie “Mein Leben” durchlesen, und selbst feststellen, dass dieser Mann nicht nur lesen und urteilen konnte, sondern auch selbst so famos des Schreibens mächtig war, dass  er seinen Lesern sein schicksalhaftes und vor allem von Glück geprägtes Leben so auftischen kann, wie als wenn man live dabei gewesen wäre.

Aber nun zum Anfang: Marcel Reich wurde am 2.Juni 1920 als Sohn eines polnischen Juden und einer Deutschen geboren. Mit nur 13 Jahren wird er aufgrund der schlechten finanziellen Verhältnisse seiner Eltern zu seinem Onkel nach Berlin geschickt, um hier später das Abitur zu machen. Sein Traum Kritiker zu werden wird jedoch bereits nach dem Schulabschluss 1939 unweigerlich zerstört, als er mit vielen weiteren Juden nach Warschau deportiert wurde. Sein altes Leben hinter sich lassend, versucht Reich sich und seine Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten, bis er eine feste Anstellung als Übersetzer im Judenrat des Warschauer Gettos. Auch lernt er in dieser Zeit seine zukünftige Frau Teofila (Tosia) kennen, die er kurze Zeit später zur Frau nimmt, um sie vor der Deportation nach Treblinka und der Vergasung zu bewahren. Nach dem Abzug der Eltern in eben jenes Todesziel, gehen er und Tosia in den Warschauer Untergrund, um sich mit den Geldern des Judenrats die Flucht aus dem Getto zu ermöglichen.

Nach dem Krieg gelingt es Marcel Reich für den polnischen Geheimdienst in London zu arbeiten, hier erstmals unter dem Namen Ranicki. Zwei Jahre später kehrt er mit seiner Frau und seinem in London geborenen Sohn Andrew zurück nach Polen, bevor er zurück nach Deutschland flieht und die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, um hier eine Karriere als Kritiker in Frankfurt am Main (bei der FAZ) und in Hamburg (bei der Zeit) aufzubauen, und erstmals den Doppelnamen Reich-Ranicki zu verwenden.

M.R.R.Die Autobiographie ist geprägt von vielen Anekdoten aus Reich-Ranickis Leben im literarischen Umfeld Westdeutschlands. Nicht nur Schriftsteller wie Günter Grass oder Ingeborg Bachmann, Kritiker wie Theodor W. Adorno, Literaturwissenschaftler wie Walter Jens und weitere Literaten der “Gruppe 47″ werden lobend wie auch kritisch beäugelt, sondern auch wichtige Menschen im Verlagswesen jener Zeit – wer sich gerne mit der deutschen Nachkriegsliteratur (ganz gleich ob Ost oder West) beschäftigt, wird in diesem Buch nicht nur spannende Anmerkungen, sondern auch ein praktisches Nachschlagewerk finden. Aus diesem Grund lässt sich das Buch wahrscheinlich auch für “Leute vom Fach” deutlich einfacher lesen als für den unliterarischen Laien. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei dem Buch um genau eines – nicht nur um die Liebe Reich-Ranickis zu seiner Frau Teofila, die auch in größter Not nicht von seiner Seite gewichen ist, sondern auch die Liebe zur Literatur, die ihn in vielen, auch schweren, Situationen seines Lebens stets begleitet hat. Vielleicht liest sich dieses Buch genau aus diesem Grund so fabelhaft lesen – man merkt dem Autor in jeder Zeile an, dass er das liebt, wovon er auf über 500 Seiten schreibt.

Es lässt sich einfach keine Zeile finden, die auf irgendeine Weise undurchdacht oder falsch wäre – nein, dieser Kritiker, der die deutsche Literaturwelt über 50 Jahre förmlich auf den Kopf gestellt hat, und medienpräsenter denn je gemacht hat, schaffte es 1999 auf vielleicht auch eine humoristische Art sich selbst in ein neues, vielleicht auch sympathischeres Licht zu Rücken. Dieser Mann hat gezeigt, dass man auch mit nichts als einem unbenutzen deutsch-polnischen Wörterbuch zu einem Ansehen gelangen kann, von dem manch ein Z-Promi heute träumen würde.



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