Ein Leben für die Drogen

Ich übernehme Verantwortung für meine Kunden. Das bedeutet nicht, dass ich ihnen alle Verantwortung abnehmen, aber … ich schaue für sie. Auch, damit sie sich nicht selbst schaden.

Drogenabhängige sind dabei … schwierig. Auf der Suche nach dem, von dem sie denken, dass es ihnen guttut (dem nächsten Kick) stossen sie oft an Grenzen, die wir sonst vielleicht gar nicht wahrnehmen. Denn Medikamente sind reguliert. Die Einnahme wird vorgeschrieben. Wer über die verordneten Dosierungen hinausgeht, schadet erst mal sich selber – und dann seiner Umwelt. Durch sein Verhalten: klauen, lügen, betrügen. Es entsteht rasch ein Vertrauensverlust. Durch die schlechte Gesundheit braucht man noch mehr Medikamente, muss man zum Arzt, ins Spital … und versucht dort natürlich an mehr Stoff zu kommen.

Als Apothekerin steht man in so einem Fall oft schnell mittendrin. Der Süchtige versucht mit allen Mitteln an seine Mittel zu kommen – beim Arzt ein Rezept zu erhalten, mit dem Rezept (oder einem gefälschten oder verfälschten oder gelegentlich auch ganz ohne) in der Apotheke sein Mittel zu bekommen.

Da wird alles versucht und gesagt. Da wird von gebettelt bis gelegentlich geschrien. Da wird gelogen, was das Zeug hält.

Bei all dem ist es nicht ganz einfach, dem Patienten gegenüber neutral zu bleiben. Aber ich habe eine Aufgabe zu erfüllen und dazu gehört auch die richtige Abgabe von Medikamenten.

Bis zu einem gewissen Grad habe ich Verständnis für obiges Verhalten. Und ich verzeihe Lügen und bis zu einem gewissen Grad sogar Betrugsversuche … solange der Süchtige es schafft, nicht persönlich beleidigend zu werden.

Herr Sauber ist einer unserer Stammkunden und er ist süchtig.  Seinen Hauptkick besorgt er sich auf der Gasse. Weil er sich Sachen spritzt, die … ich sag jetzt mal – nicht sehr rein sind (ehrlich, wer weiss schon was in dem Dreckszeug alles drin ist?), hat er reichlich kaputte Venen und auch offene Beine. „Offenes Bein“ nennt man diese chronischen Wunden an den Beinen, die kaum mehr zuheilen wollen. Auch Wundheilung braucht eben eine genügende Durchblutung.

Wenn er mal wieder im Spital gewesen ist, scherzt er immer mit uns, dass sie kaum eine Vene gefunden haben, wo sie einen Zugang legen konnten. Er ist – sagt er fast stolz- eine echte Herausforderung für die Schwestern. Wegen der offenen Beine läuft er auch im Winter mit Sandalen herum. Und die Füsse – die sind knatschblau.

Herr Sauber bekommt von uns Medikamente abgegeben. Am Anfang war es noch täglich, mit Einnahme unter Aufsicht. Was bedeutet: wir schauen zu, wie er seine Tagesdosis schluckt. Inzwischen darf er es einmal wöchentlich holen kommen.

Gelegentlich versucht Herr Sauber an mehr zu gelangen. Die Ausreden kennt man schon.

Wenn er es schafft, seinen Arzt zu überreden – und wir von ihm die Bestätigung bekommen, dann bekommt er (etwas) mehr. Ansonsten nicht. Da sind wir fest – aber freundlich. Und er weiss das und drängt da auch nicht mehr als nötig.

Vom Arzt bekommt er einzig sein Ritalin persönlich mit – und das deponiert er gelegentlich bei uns in der Apotheke, damit es ihm auf der Gasse nicht abhanden kommt. Das ist eine harte Welt da draussen. Diebstahl und Raub und Erpressung und Gewalt. Dagegen sind wir in der Apotheke praktisch ein sicherere Hafen.

Irgendwann kam dann die Nachricht, dass Herr Sauber sich „da draussen“ etwas aufgefangen hat. Hepatitis – dann Probleme mit der Bauchspeicheldrüse.

Er magerte ab – dick war er nie, aber jetzt … wurde er immer weniger. Er musste Medikamente nehmen. Mittel gegen Viren, Mittel gegen Entzündung. Es schien nicht besser zu werden.

Dann ein geplanter Spitalaufenthalt.

Bevor er ging, hat er sich noch bei uns verabschiedet und sich bedankt.

„Wissen Sie, Sie haben mich immer wie einen Menschen behandelt, wenn ich hier war. Sie haben immer gemacht, was sie konnten. Für sie war ich nicht nur ein Problem. Dafür wollte ich mich bedanken!“

.

Er ist nicht mehr zurück gekommen vom Spital.

Und ich bin traurig.


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