Es gibt Theaterabende, die brennen sich ins Gedächtnis ein. Nicht, weil die Ausstattung so großartig war, nicht weil das Ensemble umwerfend gespielt hat und auch nicht, weil die Geschichte so spannend war. Sondern aus einem simplen Grund: Weil der Theatermacher, der selbst auf der Bühne stand, ein sympathischer und zugleich charismatischer Mann ist, der es verstand, wunderbare Geschichten zu erzählen. Vor sechs Jahren durfte ich an einem solchen Theaterabend teilnehmen. „Dit is mejn vader“ des Niederländers Ilay den Boer erfüllte alle diese Kriterien und blieb in den darauffolgenden Jahren mein unangefochtener Theater-Favorit.
Nun darf ich ein zweites Highlight in meine Rezensions-Memoiren aufnehmen.
Die Wiener Festwochen bescherten dem Publikum im Schauspielhaus mit der Produktion „By heart“ des portugiesischen Theatermachers Tiago Rodrigues ebenfalls einen unvergesslichen Abend. Rodrigues, in seiner Heimat durch sein subversives und poetisches Theater gleichermaßen bekannt ist, schreibt seine Stücke selbst und greift dabei auch immer wieder auf persönlich Erlebtes zurück. In „By heart“ ist es die Geschichte seiner Großmutter Candida, die 1919 geboren, ihr ganzes Leben lang eine begnadete Köchin war. Das Studium blieb ihr verwehrt, aber die Liebe zu Büchern trugt sie zeitlebens in sich.
In der Produktion, in der kein Satz dem Zufall überlassen ist, die aber so locker und flockig über den Bühnenrand kommt als sei Rodrigues der perfekteste improvisierende Showmaster, bittet er insgesamt zehn Leute aus dem Publikum zu sich. Sie sollen im Laufe des Abends das Sonett Nr. 32 von William Shakespeare auswendig lernen. Unter der humorigen Androhung, dass die Vorstellung erst dann enden würde, wenn der Text auch wirklich säße.
By heart (c) Magda BizarroHumor ist eine der Stärken von Tiago Rodrigues. Neben einer unglaublich intelligenten Dramaturgie, die mit vielen Höhepunkten und Erholungsphasen aufwartet, sind es immer wieder seine augenzwinkernden Sidesteps, die den Abend so unterhaltsam machen. Wer glaubt, dass es sich dabei aber um eine seichte Revue handelte, der irrt. Die Botschaft, die Rodrigues am Herzen lag, könnte sich einmal, wie auch schon öfter in der Vergangenheit geschehen, als subversive Handlungsanleitung zum Widerstand erweisen. Das Auswendiglernen von Büchern und literarischen Texten wurde, seit es Geschriebenes gibt, immer auch dafür verwendet, Verbotenes weiterzugeben. Diese Kernaussage verzahnte der Theatermann auf höchst kunstvolle Weise mit seiner Suche nach einem Buch für seine Großmutter. Kurz vor ihrer gänzlichen Erblindung bat sie ihn, ihr ein Buch zu bringen, das sie auswendig lernen konnte. Diese verzweifelte Suche nach dem einen, dem richtigen und so wichtigen Buch, verknüpfte Rodrigues mit Beispielen aus der Literaturgeschichte in denen es ebenfalls um das Auswendiglernen von Literatur und dessen Wirkungen ging. Anhand dieser wurde klar, dass es kein Regime auf dieser Welt gibt, keine Besatzung, keine Diktatur, die es schafft, einmal auswendig Gelerntes aus den Köpfen der Menschen wieder zu entfernen.
Zwischen all den spannend vorgetragenen Beispielen, begonnen von Ossip Mandelstam über Boris Pasternak oder Ray Bradbury, widmete sich der Autor und Regisseur in Personalunion immer wieder den 10 Freiwilligen, um mit ihnen gemeinsam das Sonett einzuüben. Ein Sonett, das am Ende der Vorstellung den Reigen zu Boris Pasternak schloss, von dem ganz zu Beginn des Abends die Rede war. Mit einer Finte gelang es dem russischen Autor in den 30er Jahren Stalins Häschern zu entkommen. Das Sonett Nr. 32 von Shakespeare, das Pasternak ins Russische übersetzt hatte, wurde bei einem Journalistenkongress auswendig von den Teilnehmern rezitiert als er an die Reihe für ein Statement kam. Dazu reichte, dass Pasternak die Zahl 32 aussprach. Egal, was er sonst gesagt hätte, es wäre ihm so ausgelegt worden, dass er inhaftiert worden wäre. Dass auch Rodriguez Großmutter Shakespeare in den letzten Monaten auswendig lernte, verdankte sie ihrem Enkel, der ihr die Sonette als letzte Lektüre vor ihrer sicheren Erblindung ans Herz legte.
Ein Buch sich so einzuverleiben, dass man auch im Fall einer gänzlichen Erblindung immer wieder darauf zurückgreifen konnte, war ein Akt des Widerstandes von Rodrigues Großmutter. Nicht nur gegen den Verlust ihres Augenlichts, sondern auch gegen jenen eines langsam verlöschenden Geistes. Das Auswendiglernen von Literatur, wie es an diesem Abend so exemplarisch anhand mehrerer wunderbar ausgewählter Beispiele aufgezeigt wurde, kann aber auch genauso gut ein Akt des politischen Widerstandes sein. Beide Ebenen in einen spannenden, humorvollen und unglaublich berührenden Abend einzubringen, ist große Kunst. Eine Kunst, die der Portugiese perfekt beherrscht. Hut ab vor Tiago Rodrigues und seiner Art Theater zu machen und hoffentlich bis ganz, ganz bald wieder!