Es ist kein Privat-, kein Fernsehsender - RTL ist mehr: es ist ein Lebensgefühl. Mein RTL, nennt sich das dann. Wie der Springer-Konzern in seinem täglichen Blatt, so spiegelt auch RTL seiner Kundschaft einen Mikrokosmos vor. Bei Springer ist es die nationale Wut auf das Ausland, das Deutschland vermeintlich nichts gönnen will, ein "eingeschnapptes Lebensgefühl". Bei RTL Television ist es eine Mischung aus Spektakel und Freak-Show, aus wöchentlich präsentierten TV-Highlights des Jahres, zu Sensationen mutierte Sensatiönchen und emotionalen Aufdringlichkeiten.
Happy Nation, living in a happy nation...
"Über diesen Mann spricht morgen die ganze Nation" - diese oder ähnliche unbescheidene Sätze leiten manches RTL-Spektakel ein. Wenn jemand Billardkugeln schluckt beispielsweise - oder sich vor eine Jury aus eitlen Affen zum Affen macht. Man ist bei RTL bescheiden genug zu glauben, dass die gesamte Nation RTL guckt. Tagsdrauf berichtet freilich Springer darüber. Durch diese unheilige Allianz glaubt der RTL-Zuschauer, der manchmal auch BILD-Leser ist, dass RTL wirklich die einzig amtierende Realität abbildet. Gestern noch gesehen, heute schon darüber gelesen - Bertelsmann und Springer machen sich ihre Wirklichkeit, generieren Belanglosigkeiten, die zum Gegenstand ernster Diskussionen erkoren werden. Bertelsmann und Springer sind, so scheint es, die ganze Nation. Der Zuschauer soll den Eindruck erhalten, exklusiv dabei zu sein, wenn es der Nation den Atmen verschlägt, wenn sie lacht oder weint, wenn sie wütend wird oder trauert.
Eine Nation unter Spott
Die Welt des RTL Television ist ein Hort seltsamer Gestalten, die Frauen suchen oder wahlweise Schwiegertöchter, in denen Restaurants getestet und verspottet werden, in der nachmittäglich Laiendarsteller die Drehbücher laienhafter Autoren abspulen, in der auf Aufmerksamkeit abgerichtete Gecken Journalisten sein dürfen, in der Banalität Dokumentation oder Bericht heißt. Nachrichtenformate, in denen neben den üblichen News, die auch andernorts verbreitet werden, die reichen Schönen und die schönen Reichen ihre armselige Hässlichkeit oder hässliche Armseligkeit nach außen stülpen dürfen. Neue Botoxlippen werden zur Nachricht. Oder die Kinder, die sich Pitt und Jolie bei einer Afrikanerin oder Asiatin besorgen. Ein Bauer fand die Liebe seines Lebens, irgendeinen städtischen Bauerntrampel, und schon ist es Nachricht, über die freilich mindestens die ganze Nation spricht. Und übermorgen die ganze Welt...
RTL ist in diesem kuriosen Weltbild nicht nur Kameramann, fängt nicht nur Bilder ein. RTL ist Spender, galanter Helfer, Anreger - kurz, ein weiser Weltenlenker, der seine Schäfchen bei der Hand nimmt oder auf die Finger schlägt, je nachdem. Man hilft beim Finden von Lebenspartnern, beim Ausbau der Wohnung, beim Führen von Restaurants. Dafür blamiert man die Beteiligten nicht selten bis auf die Knochen - aber wer hilft, der darf auch spotten, ist die Maxime des Senders. Man führt Spendenmarathons durch, brüstet sich der Millionen, die der Bertelsmann-Konsument, vulgo: RTL-Zuschauer, ausschüttet und läßt die Milliarden von Bertelsmann und/oder RTL ruhig auf dem Konto schlafen. Der Sender ist die selbsternannte moralische Schule der Nation, in der es ganz besondere Leitsätze gibt. Blamiere Deinen Nächsten, ist so nur einer davon.
Drehbücher für die Liebe
Da suchen regelmäßig Bauern Frauen. RTL ist überhaupt der Sender der Frauen- oder Partnersuche. Bauern, Muttersöhnchen, Großstadtsingles, Auswanderer - RTL gibt vor, die Zweisamkeit für sie zu buchen. Nach Script natürlich. Dem Zuschauer gaukelt man vor, alles sei besonders real, alles sei genau so geschehen. Die Dialoge klingen dabei so, als kämen sie vom Papier - das stört aber offenbar niemanden. Der Zuschauer will gar keine Menschen sehen, die frei über sich und ihre Gefühle verfügen, er will das "Produkt: Liebelei" bestaunen. Produkt ist überhaupt alles, was bei RTL geschieht. Heesters, den man boulevardesk hofierte, war kein in die Jahre gekommener, unmodern gewordener Operettenschmalzus aus den Vierzigerjahren, auch seine Geschichte nahe am KZ Dachau blieb unerwähnt, er war das "Produkt: fröhlicher Methusalem", irgendein entpersonalisiertes besonders altes Alterchen, das seriös nicht erklärbar war, über dessen quersitzende Fürze man aber seriös tuend berichtete. Und dann das "Produkt: Freak-Show", erschreckend seltsame Männer, die Schwiegertöchter für ihre Mütter suchen und bei denen man manchmal glaubt, RTL habe das Casting hierzu in einem Caritas-Heim für behinderte Erwachsene durchgeführt - das ist nicht mal flapsig gemeint, sondern tatsächlich schon mehrmals beanstandet worden.
RTL, der Weltenlenker des Nationalfernsehens, engagiert sich natürlich nur Angestellte, die das RTL-Helfersyndrom mit dem Hang zum Spott kultiviert haben. Dümmlich grinsende Herrschaften tun so, als seien sie integer, anständig und meinten es nur gut. Vera Int-Veen, die sich stets als "Vera aus dem Fernsehen" vorstellt - oder Inka Sonstwie, die in Latzhose und Karohemd den Solidaritätskurs zu ihrer Klientel, den Bauern, fährt und ernsthaft erzählt, durch ihre Sendung sei den Menschen in Deutschland (wir wissen ja, die ganze Nation guckt mit), der Beruf des Landwirts wieder nähergebracht worden. Flirten, Ausdruckslosigkeiten, Peinlichkeiten, notgeile Bauern und amnötigtstengeile Weiber: sieht so der Beruf des Landwirts aus? Die Vera aus dem Fernsehen dringt indes in Wohnungen ein, spioniert nach, lauert Menschen auf, tut das aber nur, weil sie helfen will - Menschen, die unter Helfersyndrom leiden, stalken und spionieren, ihre Gutherzigkeit wird zum Zwang, scheint es fast. So gesehen ist RTL der passende Therapeut für die Fernseh-Vera, dort kann sie ihren Helferzwang ausleben und wird dafür auch noch bezahlt.
Trinitätsdogma - oder: die heilige Dreieinigkeit
Helfer und Götter. Letztere zieren die Jurys von Mein Casting-RTL. Der ewige Bohlen natürlich, der unter "Dieter, Dieter"-Rufen, die ein Anheizer anheizt, das Studio betritt. Vorzugsweise nicht per pedes - auf Elefanten, in Cabrios oder auf heißen Öfen. Bohlen ist das fleischgewordene Klischee eines frauenfleisch- und motorengeilen Typen. In dieser Rolle gefällt er sich und den Zusehern. Niedlich, wie der Dieter sabbert, wenn er halbbedeckte Titten sieht - neben ihm eine weibliche Jurorin, gekleidet wie die Rosi, die unterZwounddreißig Sechszehn Acht zu erreichen ist, die argwöhnisch spöttelt, wenn Dieter Brüste als Alleinstellungsmerkmal einer Kandidatin unterstreicht und ihn nicht abstraft, sondern verliebt den Oberarm tätschelt. Die Jurorinnen sind indes auch Göttinnen neben diesem Obergott, auch ihre Namen werden rufend zelebriert, wenn sie dazu schreiten, das unterirdische Mittelmaß, das dort auftritt, zur Sensation zu erheben.
Dort bekommt jeder seine fünf Minuten Berühmtheit. Auftritte von stilisierten Lebensverlierern, die eine verkrebste Mutter pflegen oder die dreiundneunzigjährige Oma verloren haben und daher orientierungslos und verheult durch ihren Tag irren. Bis sie auf die Bühne taumeln, dort nicht allzu schief singen oder muszieren und für ihr Schicksal in Form von inszinierten standing ovations entschädigt werden. Wie diese durch Trauer und Schicksalsbeutelungen fast lebensunfähigen Leute die Kraft aufbrachten, sich dort zu bewerben, dorthin zu kommen, das erklärt einem keiner. RTL ist auch dort der Geber, der Helfer, spendet Hoffnung, spendiert einen Neuanfang. Und die Götter entscheiden, wen sie durchwinken, wen sie loben und dem Glück naheführen. Dreimal Ja!, sagen sie - das bedeutet soviel wie: Lebensziel erreicht. Dass am Ende diese Dreimal Ja! nicht bindend sind und zwischen allen, die Dreimal Ja! gehört haben, neuerlich sortiert wird, stört da auch nicht weiter. Die göttliche Dreieinigkeit, die sich im einigen, dreieinigen Ja zeigt, sie ist der größte Augenblick im Leben dieser Kandidaten. Der sonst so schnodderige und brutale Bohlen gibt hierbei das personifizierte Mitleid. Zwischen Titten- und Motorenspleen strahlt der "Mensch Bohlen" hervor. Treten Kinder, Kranke oder Behinderte auf, so ist er lammfromm und läßt auch mal Talentfreiheit als Talent zu - neulich dann sein Statement zu einem Gehbehinderten: Wenn er schon was kann, soll man ihn auch in die nächste Runde schicken. Wenn er schon was kann, dieser Behinderte - das klingt wahrlich freundlich. Nobel geht die Welt zugrunde...
In sich gleichgeschaltet
Erstaunlich abgestimmt ist das gesamte Konzept des Senders. Die Inhalte werden sendungsübergreifend thematisiert. Was mittags bei der lispelnden Dauerwelle in Punkt 12 erzählt wird, wird bei RTL aktuell aufgewärmt - inklusive Promiklatsch. Was bei der scripted reality geschieht, ist Grundlage für sich seriös gebende Magazine. Was Bohlen und seine Helferlein auswählen, füllt die Magazine des Senders natürlich sowieso. Die Darsteller von Soaps sitzen in Abendsendungen oder tanzen um die Wette - und mancher Dauergast bei Punkt 12, das indes wiederum nur das Morgenmagazin des Senders wiederholt, landet im Dschungel oder manchmal als Einspieler in der Chartshow, wo er erzählen darf, dass er Loco in Acapulco von den Four Tops schon als Kind gehört habe und es "echt supertoll und geil" fand; hernach darf er noch tremolieren: Loco in Pukipulko... hmhmhm lalala - nebst Gesumme, versteht sich. Und ohne Frage, das Personal aus den nachmittäglichen scripted realities erscheint auch zum Casting - vermutlich wurde das damals, als man für Mitten im Leben unterschrieb, gleich noch vertraglich festgehalten: ...der Kandidat verpflichtet sich, auch beim Supertalent aufzutreten.
Kein deutscher Sender ist in sich so geschlossen, wie es RTL ist. Keiner hat eine derart übergreifende Konzeption. RTL schafft sich einen Mikrokosmos, der rund um die Uhr, quer durchs Programm, in jeder Sparte erhalten bleibt. Selbst Jauch, den man als RTL-Intellektuellen verkauft, kennt die Namen der GZSZ- oder DSDS-Figuren. RTL ist eine abgeschlossene Welt - die dort verbreitete Wirklichkeit ist konzipiert und verbindlich für alle Sendungen. Und die ganze Nation nimmt daran teil - jeder, der nicht RTL schaut, gehört einfach nicht zur RTL-Nation. Es gibt kein Entrinnen, die RTL-reality durchzieht Soaps und "Dokus", WWM und Stern TV, Nachrichten wie Boulevard-Magazine. RTL ist kein Sender, in dem zufälligerweise Sendekonzepte verschiedener Art ausgestrahlt werden - die Sendungen sind aufeinander abgestimmt, die Inhalte sind die Inhalte aller Konzepte. Bei keinem anderen Sender scheint die Abstimmung so radikal. RTL ist in sich gleichgeschaltet; News werden durchgereicht, werden in Dokus eingebaut und in Drehbücher verwurstet. Das Weltbild, das RTL verkündigt, es ist in sich stimmig und wird von keiner Seite innerhalb des Programms auch nur zwischen den Zeilen in Zweifel gezogen.
Die Ambivalenz der Anderen
Was bei Stern TV oder Life wahr ist, ist auch für RTL aktuell wahr, für Punkt 12 wahr und bleibt zwischen den schief gesungenen Noten auch irgendwo beim Castingkonzept wahr. Widerrede gibt es nicht. Im Ersten gibt es, bei aller Kritik, noch Abwechslung. Zwar hält dort Jauch der Kanzlerin Karteikärtchen hin und macht damit Seibert den Posten als Regierungssprecher streitig - aber gleichzeitig gibt es Panorama, Monitor oder es kramt Christoph Lütgert höheren Interessen im Wege herum. Zwar treten die stets grinsenden Tietjen und Hirschhausen ihre banale Talk-Illustrierte im NDR breit - aber auch das Magazin Zapp ist dort heimisch. Die Ambivalenz ist dort überall Programm. Derart unabgestimmte Sendeformate, die sich nicht aufeinander beziehen oder sich sogar noch diametral entgegen stehen, wären bei RTL undenkbar. Zwar ist eine RTLisierung auch bei Sendern wie Sat 1 oder Pro 7 sichtbar, aber in dieser Perfektion ist das dort bislang noch nicht gelungen.