Ein geteiltes Land im Zentrum Europas – Belgien nach der Wahl

Fast ein Viertel der Bürger möchte das Land Belgien auf die Dauer auflösen. Das geht aus der Wahl hervor, die bei unseren westlichen Nachbarn am Sonntag stattfand. In Flandern gewann nämlich die nationalistische “neue flämische Allianz” unter ihrem Spitzenkandidaten Bart de Wever. Sie wird künftig 27 der 150 Sitze im belgischen Bundesparlament einnehmen. De Wever will durch eine Staatsreform immer mehr Befugnisse auf die Regionen übertragen und mittelfristig die belgische Ebene abschaffen. Sein Ziel ist eine selbstständige Republik Flandern, er betont aber, dass dies nur in einem zusammenwachsenden Europa möglich sei. Ein solcher Staat wäre möglicherweise sogar lebensfähig, anders sieht es in der französischsprachigen Vallonie aus. Als selbstständiges Land könnte sie nicht bestehen. Sie ist auch jetzt von den finanziellen Zuwendungen aus dem reichen Flandern abhängig. Naturgemäß haben im Süden Belgiens auch die Parteien gewonnen, die sich für den Erhalt des Gesamtstaates einsetzen, vor allem die sozialistische PS mit ihrem Spitzenkandidaten Elio di Rupo. Er könnte denn auch der nächste Ministerpräsident Belgiens werden. Zwar verfügt seine Partei nur über 26 Sitze und damit einen weniger als die flämischen Nationalisten, aber Bart de Wever hat bereits angedeutet, dass er auf den Ministerpräsidentenposten verzichte, wenn dies den Vallonen einfacher mache, seinen Forderungen entgegenzukommen. In Belgien gibt es keine landesweiten Parteien. Jeder der beiden Landesteile hat ein eigenes Parteiensystem. Zwar gibt es in beiden Regionen Sozialisten, Grüne, Liberale und Christdemokraten, aber die Zusammenarbeit der gleichgesinnten Parteien über die Sprachgrenze hinweg ist in den letzten Jahren schwieriger geworden. Im Grunde bestehtt Belgien, so sieht es auch de Wever, aus zwei Demokratien, die aneinandergekettet sind. Im Parlament haben die Flamen 88, die Vallonen 62 Sitze, die sie in nationalen Wahlen besetzen können. Es gibt kaum belgische Strukturen in der Politik. Daher ist ein Zerfall des Landes nicht auszuschließen. Allerdings wird der nicht heute oder morgen stattfinden, sagt auch Bart de Wever. Ihm geht es um eine allmähliche Staatsreform. Andere Experten glauben, dass Belgien zu kompliziert ist, um es voneinander sauber zu trennen. Denn neben Flandern und der Vallonie gibt es ja noch die zweisprachige Region Brüssel, um die sich die beiden Kampfhähne seit Jahrzehnten streiten. Eine Regierungsbildung wird daher äußerst schwierig. An Bart de Wever und Elio di Rupo kommt man nicht vorbei, und die Verfassung Belgiens schreibt vor, dass in der Regierung beide Landesteile berücksichtigt sein müssen. Zur Staatsreform bedarf es ohnehin einer zweidrittelmehrheit. So wäre eigentlich nur eine breite Koalition aus vallonischen Grünen, beiden sozialistischen Parteien, beiden Christdemokraten und de Wevers N-VA denkbar, die all diese Voraussetzungen erfüllt. Kaum vorzustellen, dass man sich da auf ein gemeinsames Programm einigen kann.

Manchmal glaube ich, König Albert und seine Familie sind die einzigen echten Belgier. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Königsfamilie wurde 1831 aus Deutschland importiert und daraufhin betrachtete sie sich als belgisch. Das bedeutet, dass alle Familienmitglieder zweisprachig aufwachsen und erzogen werden. Ob es König Albert II., der sich auch selbst als Klammer Belgiens begreift, allerdings gelingt, die wegstrebenden Flamen im Gesamtstaat zu halten, ist fraglich.

Warum, so frage ich mich, haben die Belgier sich überhaupt 1830 von den Niederlanden getrennt, wenn die Mehrheit von ihnen jetzt selbstständig werden oder zum Teil sogar zu den Niederlanden zurück will? Sicher: Vor 180 Jahren spielte die Konfession noch eine große Rolle, in Belgien war man mehrheitlich katholisch, in den nördlichen Niederlanden eher protestantisch. Aber das allein kann nicht der Grund gewesen sein. Vermutlich wurde die belgische Revolution 1830 mehrheitlich vom französisch sprechenden Großbürgertum getragen, während sich die damals arme Landbevölkerung Flanderns nicht im gleichen Maße beteiligte. Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts verlor die französischsprachige Minderheit ihre Vorrangstellung in Belgien, weil Flandern reicher und aufstrebender wurde. Darum verschoben sich auch die Interessen. Nun droht in der Mitte Europas, am Sitz von EU-Kommission und Ministerrat, ein Land zu zerfallen, dessen beide Volksgruppen sich traditionell eigentlich als eng verbunden und gute Freunde betrachten. Und das im 21. Jahrhundert.

Diesen Kommentar habe ich am 16.06.2010 bei ohrfunk.de veröffentlicht.


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