Auf nicht einmal 200 Seiten lässt Robert Seethaler den Leser an einem ganzen Leben, das sieben Jahrzehnte umfasst, teilhaben. Verschiedene Episoden, die Seethaler in den Vordergrund rückt, reichen aus, um ein einprägsames Bild von dem Protagonisten Andreas Egger zu bekommen. Setting in Ein ganzes Leben ist ein Dorf in den Alpen um das 20. Jahrhundert. Der Fortschritt ist hier noch nicht angekommen, das Leben einfach, ruhig und beschaulich.
Mit Ein ganzes Leben steht Robert Seethaler auf der Shortlist des Man Booker International Prize – einer der renommiertesten internationalen Literaturpreisen. Mit ihm wird jährlich ein ins Englische übersetztes und in Großbritannien verlegtes belletristisches Werk ausgezeichnet. In wenigen Tagen, am 16. Mai, ist die Verleihung.
Egger verliert seine Mutter im Alter von vier oder fünf Jahren, er erinnert sich kaum an sie. Das Kind wird an einen Hof des Großbauer Kranzstocker geschickt, der ihn des Geldes wegen und nicht aus Barmherzigkeit oder Güte aufnimmt. Egger muss von da an mitanpacken, auf dem Hof gibt es genug zu tun. Liebe oder Wärme sind eine Seltenheit, die anderen Kinder auf dem Hof meiden Egger, der Großbauer muss für Zucht und Ordnung herrschen und greift dazu regelmäßig zur Haselnussgerte.
„Im Grunde genommen wurde er nicht als Kind betrachtet. Er war ein Geschöpf, das zu arbeiten, zu beten und seinen Hintern der Haselnussgerte entgegenzustrecken hatte.“ (S. 26)
Einmal schlägt er zu fest zu und bricht dem Kind den Oberschenkelknochen. Der Knochen wächst nicht richtig zusammen und seitdem hinkt Egger. Trotzdem entwickelt er sich zu einem kräftigen Burschen, der seine Arbeit ohne Murren und mit Sorgfalt verrichtet. Als er stärker als Kranzstocker und seine Haselnussgerte ist, verlässt er den Hof und bekommt Arbeit bei Bittermann & Söhne. Technischer Fortschritt und beschleunigte Lebensart sind nun auch im Dorf angekommen, die Menschen beginnen zu reisen und wollen die Alpen sehen. Aus diesem Grund werden zahlreiche Seilbahnen errichtet.
Egger erweist sich als geschickt und vor allem schwindelfrei. Seine Arbeit ist gut. Überhaupt ist er ein einfacher Mensch, der das Leben nimmt, wie es ist. Mit dem technischen Fortschritt kann er sich kaum anfreunden, wie eine Szene zeigt, in der Egger nicht recht weiß, wie er sich beim Fernsehen verhalten soll. Die Natur ist ihm verbunden, viel lieber spaziert er durch die verlassenen Berge und lauscht ihrem Schweigen.
Eggers Leben verläuft ruhig und zufrieden, und auch die Liebe zu seiner Frau ist frei von Höhen und Tiefen, bis er sie bei einem Lawinenunglück verliert. Bis dahin hatte er das Dorf in den Bergen nie verlassen, erst nach ihrem Tod meldet er sich freiwillig für den Krieg. Doch Eggers Schicksal ist dafür bestimmt, in die Berge zurückzukehren ein und sein friedliches und Leben zufrieden bis ins hohe Alter fortzuführen.
„Wie alle Menschen hatte auch er während seines Lebens Vorstellungen und Träume in sich getragen. Manches davon hatte er sich selbst erfüllt, manches war ihm geschenkt worden. Vieles war unerreichbar geblieben oder war ihm, kaum erreicht, wieder aus den Händen gerissen worden. Aber er war immer noch da.“ (S. 169)
Die Ruhe der Geschichte und schlägt sich vor allem in der Sprache von Ein ganzes Leben nieder. Wie Egger selbst ist sie einfach und schlicht, und strahlt sogar eine Ruhe auf den Leser aus, sodass die Zeit um einen herum völlig zum Stillstand kommt, und man um ein Jahrhundert zurückversetzt wird – in eine Zeit, in der das Leben friedlich und ruhig seinen Lauf nahm.
Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Goldmann. München 2016. 192 Seiten. 9,99 Euro.
Siehe auch: Zwischen den Seiten
Die anderen Autoren auf der Shortlist für den Man Booker International Prize sind auf Schiefgelesen zu finden.