Ein ganz gewöhnlicher 1. Mai

Von Bertrams

Heute ist der 1. Mai. Vor vielen Jahren habe ich mal an einer Maikundgebung der Gewerkschaft teilgenommen, es war 2003. Da habe ich über Behindertenthemen gesprochen. Vor 4 Jahren habe ich mit einem guten Freund für unseren Sender eine tolle Sendung mit dem schönen Titel “Maibowle” produziert und ausgestrahlt. Aber eigentlich erinnere ich mich am 1. Mai immer an jenen vor 29 Jahren.Der Morgen war kühl, aber die Sonne schien. Ein frischer Wind kam durch die Tür zu meiner Linken direkt in den Wohnraum hinein, die Sonne schien mir auf die Oberschenkel. Ich saß auf einer Couch, über die eine Wolldecke gelegt war, vor mir stand ein niedriger Tisch. Rechts von mir, ebenfalls auf der Couch, stand ein Radiorekorder, aus dem ich via Mittelwelle den westdeutschen Rundfunk empfing. Dort wurde die Maikundgebung des deutschen Gewerkschaftsbundes übertragen, und erstmals hörte ich bewusst die Stimme des DGB-Vorsitzenden Ernst Breit. Auch ein Kassettenkoffer mit Musikkassetten stand dort. Durch den Raum gingen meine Eltern. An der Wand mir gegenüber war ein steinernes Waschbecken angebracht. Es diente zum Waschen und spülen, es war das Einzige im Haus. Natürlich gab es auch nur kaltes Wasser. Zum Spülen musste das Wasser auf dem Gasherd heiß gemacht werden. Der Tisch vor mir wurde von meiner Mutter für das Frühstück gedeckt, mein Vater entzündete die Gasflamme und stellte den Kochkessel darauf. Ernst Breit sprach über Arbeitnehmerfragen, und ich dachte an meinen besten Freund, der an diesem Tag nach Hannover umzog, und den ich wohl nur noch selten, vielleicht nie wieder, sehen würde. Ich war 13, es war der 1. Mai 1982.

An diesem Morgen fühlte ich mich wohl und hatte keine Sorgen. Obwohl mein Vater schwer herzkrank war, obwohl meine Oma unter zunehmender Vergesslichkeit litt, obwohl ich mich in meiner Internatsschule nicht besonders wohl fühlte, hier und heute ging es mir gut.

Rechts von der Couch, auf der ich saß, erstreckte sich ein brauner Vorhang über die ganze Breite des Zimmers und trennte den Schlafbereich vom Wohnbereich ab. Ein riesiges Etagenbett stand an der linken Wand, und für etwas Anderes blieb kaum noch Platz. Der Kleiderschrank war sehr klein.

Ich weiß, dass ich Ernst Breit eine Weile interessiert zuhörte. Natürlich wusste ich auch schon mit 13, was eine Maikundgebung des DGB war, auch in den vergangenen Jahren hatte ich immer wieder in den Nachrichten davon gehört. Aber jetzt erlebte ich sie zum ersten mal live. Und das nur, weil ich die Mittelwellensender des WDR hörte. Normalerweise war das nicht nötig, ich lebte im Einzugsgebiet des WDR, aber heute war das anders. Und um WDR 2 hören zu können, musste ich die Mittelwelle benutzen. – Denn ich war nicht in Deutschland.

Obwohl: Hätte ich ein wenig intensiver gesucht, wie ich es später selbstverständlich tat, hätte ich den WDR auch auf UKW noch gefunden, dann hätte ich aber die Maikundgebung verpasst, die nur auf Mittelwelle live ausgestrahlt wurde. Deutschland war nur 20 Kilometer von mir entfernt, ich hatte nur einen kleinen Hüpfer über die deutsch-niederländische Grenze getan. Vor 4 Wochen hatte meine Mutter sich bei einem Besuch unserer Freunde auf einem Campingplatz in den Niederlanden entschlossen, das Haus neben dem Haus unserer Freunde für rund 1000 Mark zu kaufen. Vor 2 Wochen hatten wir den Kauf perfekt gemacht. Letzte Woche waren meine Eltern ohne mich nach Holland gefahren, denn ich hatte überraschend die Masern bekommen. Deshalb war ich auch nicht in die Schule gegangen und hatte mich von meinem besten Freund in seiner letzten Schulwoche nicht verabschieden können. Gestern nun, am 30. April 1982, hatte ich meine Eltern in unser neues Feriendomizil begleitet und meine erste Nacht hier verbracht. Und nun gab es mein erstes Frühstück in meiner neuen zweiten Heimat.

Es war ein schöner Morgen. Vögel flatterten und sangen in den Sträuchern um das kleine Häuschen herum. Über das Dach aus Zeltplane liefen die Eichhörnchen und spielten mit Nüssen und Eicheln. Und noch hatte ich nicht das herrliche Geräusch des Regens auf dem Dach gehört. Freundliche Menschen grüßten im Vorübergehen, und fast war es warm genug, auf dem Platz vor dem Haus zu frühstücken.

Es war ein Haus von knapp 6 Metern Länge und 4 Metern Breite. Es gab kein warmes Wasser und kein WC. Hinter dem Haus war ein Schuppen, in dem wir ein chemisches Camping-WC aufstellten. Aber all das kannte ich schon, und es schreckte mich nicht. Ich war in einer Siedlung ohne heißes Wasser und mit echtem Plumsklo hinter dem Haus aufgewachsen, voller Gestank und mit pfeifendem Wind. Für mich war der fehlende Luxus nur Normalität. Und natürlich sollte sich das alles ändern. Aus den knapp 30 Quadratmetern des Häuschens wurden in den nächsten Jahren weit über 60, und das kleine Zeltplanenhaus mit Stahlgerüst wurde durch ein echtes Holzhaus ersetzt. Meine Eltern bauten alles selbst, und Freunde und Nachbarn halfen uns dabei.

An diesem Morgen, dem 1. Mai 1982, kam ich in meiner neuen zweiten Heimat an, die in meinem Gefühl eigentlich schon die erste Heimat wurde. Hier verbrachte ich meine Freizeit, hier fand ich gute Freunde, hier lernte ich niederländisches Radio und niederländische Sprache kennen und lieben, hier schrieb ich meine besten eigenen Geschichten und Texte, hier lebte meine Familie so friedlich, wie es nur eben ging. 9009 Tage lang, bis meine Liebste und ich kapitulierten und das Haus, das meine Eltern gebaut hatten, zum Abriss freigaben und es für immer verließen. Ich werde es wohl nie ganz verwinden können.

Gestern, am 30. April 2011, besuchte die niederländische Königin Beatrix bei ihrer traditionellen Geburtstagsreise die Städchen Thorn und Weert. Wie gern wäre ich dort gewesen, wenige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem ich 24 Jahre meines Lebens in vollen Zügen genossen habe, wann immer es ging. Doch in drei Wochen werde ich da sein, für 12 Tage, wenn auch nur als Gast im Urlaub.

Zum Frühstück schaltete ich die Gewerkschaftskundgebung ab. Der Mittelwellenempfang wurde auch schlechter, das Rauschen war ungewohnt laut. Stattdessen konnte ich nun die Geräusche von draußen hören. Der ferne Knall einer Vogelscheuche, die dazu da sind, Vögel von den Feldern zu verjagen, das Jubeln der Kinder auf dem Platz und am See hinter unserem Haus, das Lachen der Nachbarn, das Zwitschern der Vögel, das Rauschen des Windes in den Eichen hinter dem Haus und natürlich das Rennen und Spielen der Eichhörnchen. Ich begann nur langsam zu ahnen, wie viel mir dieser Ort bedeuten sollte.