Ein Fraktionsquorum: Vermeidung des Fraktionszwangs durch neue Abstimmungsregeln

Von Hauke Laging Der Konflikt zwischen Gewissensentscheidung und Stabilität der Regierungsmehrheit soll aufgelöst werden, indem die heutige parlamentarische Realität dadurch formell ins Auszählverfahren übernommen wird, dass eine große Mehrheit innerhalb einer Fraktion als einstimmige Fraktionsentscheidung gezählt wird (so dass Beschlüsse auch mit einer Minderheit an Einzelstimmen gefasst werden können).

Einer der wesentlichen Gründe für das schlechte Image der Parlamente dürfte sein, dass jedenfalls die normalen Abgeordneten kaum als individuelle Persönlichkeiten wahrgenommen werden, weil ihr entscheidendes politisches Wirken – Wie stimmen sie ab? – aus Sicht des Bürgers im voraus feststeht: Der Abgeordnete stimmt so ab, wie es ihm seine Fraktion vorgibt. Ausnahmen sind selten. Dafür gibt es das unschöne Wort Fraktionszwang, manchmal verharmlost zu Fraktionsdisziplin. Alle fänden es toll, wenn der einzelne Abgeordnete immer seinem Gewissen folgen könnte, aber wie soll man – zumal bei knappen Mehrheiten – regieren, wenn ständig unklar ist, ob die eigene Mehrheit steht? Unerklärlicherweise ist das Gewissensproblem bei Abstimmungen nämlich sehr asymmetrisch: Es tritt immer nur bei den Regierungsfraktionen auf. Oppositionsabgeordnete können es anscheinend immer mit ihrem Gewissen vereinbaren, einem Gesetz nicht zuzustimmen. Es gibt zwar die Forderung nach Abschaffung des Fraktionszwangs, etwa durch die Piratenpartei, aber diese Forderung krankt bisher daran, dass sie ohne Lösungsvorschlag für das zugrunde liegende Problem daherkommt.


Um den Nutzen der im folgenden beschriebenen Änderung korrekt zu beurteilen, muss man sich klar machen, in welche Kategorie das Problem und deshalb auch die möglichen Lösungen fallen. Es handelt sich beim Fraktionszwang nicht um ein rechtliches Problem im engeren Sinn, sondern um ein mehrschichtiges Problem der politischen Kultur. Dementsprechend kann man das Problem auch nicht rechtlich lösen. Kulturelle Effekte kann man aber nicht beschließen, die müssen sich durch wohlwollendes Verhalten der Betroffenen einstellen. Man kann lediglich die Rahmenbedingungen formal ändern. Die vorgeschlagene Änderung ist zwar rechtlicher Natur, aber als solche nur eine indirekte Maßnahme, weil eine direkte Eingriffsmöglichkeit wahrscheinlich nicht besteht.

Inzwischen hat sich fast die gesamte Bundesrepublik in eine Fünf-Parteien-Landschaft verwandelt. Neben dem in der Öffentlichkeit sehr präsenten Problem der Koalitionsbildung folgt daraus ein zweites, kaum beachtetes: Abgesehen von einer großen Koalition wird es viel öfter nur noch knappe Mehrheiten geben. Wie man seinerzeit in Thüringen sehen konnte, reicht eine Mehrheit – nach Einschätzung derjenigen, die sie haben – an sich noch nicht aus, weil sie womöglich nicht ausreichend groß erscheint. Dadurch wird die Regierungsbildung schwieriger und hin zu der großen Koalition verschoben, die nach den Äußerungen aller Beteiligten domokratiehygienisch bedenklich ist. Ist es erstrebenswert, ist es hinnehmbar, dass vorhandene Mehrheiten an praktischen Überlegungen scheitern, nicht einmal eine Chance bekommen?
Das Problem der Mehrheitserhaltung ohne Fraktionszwang lässt sich leicht lösen, wenn man sich auch formal von der praxisfernen Vorstellung verabschiedet, dass im Bundestag eine "irgendwie zusammengewürfelte Mehrheit" von Abgeordneten (statt der gemeinsam dominanten Fraktionen) etwas beschließt, sondern auch (grund-)gesetzlich davon ausgeht, dass im Bundestag in erster Linie Fraktionen abstimmen. Die zweite Prämisse, die man anerkennen muss, ist, dass es wegen der genannten Gewissensasymmetrie nicht geboten erscheint, für jeden Beschluss die Mehrheit der realen Stimmen zu fordern. Dafür muss (bezogen auf den Bundestag) möglicherweise das Grundgesetz (Artikel 42) geändert werden; das hängt davon ab, wie viel Interpretationsspielraum beim Zurechnen abgegebener Stimmen das Bundesverfassungsgericht akzeptiert.

Der Fraktionszwang dürfte einer der wichtigsten Gründe dafür sein, dass die Bevölkerung dem politischen Betrieb nur ein geringes Maß an Ehrlichkeit attestiert. Diese Geringschätzung dürfte wiederum ein wesentlicher Grund für die Politikverdrossenheit und die niedrigen Wahlbeteiligungen sein. Deshalb sollte dieser Ansatz auch bei der Erhöhung der Wahlbeteiligung behilflich sein.

Realisierung

Für die meisten (etwa Wahlen ausgenommen) oder sogar alle Abstimmungen sollte ein zweistufiges (Gegenstimmen und Enthaltungen) Zustimmungsquorum festgelegt werden, bei dessen Erreichen die Fraktion in voller (anwesender oder sogar maximaler, siehe unten) Stärke gezählt wird und nicht nur die konkreten Stimmen. Es geht dem Verfasser nicht um die konkrete Höhe dieses Quorums, sondern nur um das Prinzip. Die im folgenden verwendeten Werte dienen nur der Illustration. Es ist auch vorstellbar, für alle Arten von Abstimmungen ein solches Fraktionsquorum einzuführen, es aber unterschiedlich hoch anzusetzen.
Das Quorum könnte so aussehen, dass 85% der Anwesenden zustimmen müssen und maximal 5% dagegen stimmen dürfen. Dadurch würde die Unterscheidung von Gegenstimme und Enthaltung aufgewertet. Der Abgeordnete könnte sich entscheiden, ob er nur die Zustimmung verweigert, sich aber ggf. einer großen Fraktionsmehrheit unterwirft, oder ob er dagegen stimmt und sich dadurch ggf. nur einer deutlich größeren Mehrheit unterwirft. Wenn er selbst das inakzeptabel findet, kann er aus der Fraktion austreten, wodurch seine Stimme dann klassisch einzeln gezählt würde (und möglicherweise die Fraktion bzw. die Koalitionsfraktionen ihre Mehrheit verlieren).

Beispiele

dafür dagegen Enthaltungen Blockzählung

85% 5% 10% ja

85% 10% 5% nein

94% 6% 0% nein

79% 0% 21% nein

 

Konsequenzen

Mit folgenden positiven Effekten ist zu rechnen:

  1. Das Regieren wäre stressärmer, weil einzelne wackelnde Abgeordnete nicht gleich das aus für eine Gesetzesvorlage bedeuten. Dadurch wären dann auch Koalitionen möglich, auf die man sich heute nicht einlässt, weil man die knappe Mehrheit als unsicher empfindet.
    Es wird zudem die Situation vermieden, dass quasi der Schwanz mit dem Hund wedelt, weil ein einzelner Abgeordneter meint, seinen 300 Kollegen erklären zu können, wo es langgeht.
    Man könnte dadurch auch Fälle wie den "Heidemörder" verhindern, wenn man die Regelung auf Wahlen ausdehnt. Die aktuelle Situation, dass jemand alleine und zum großen persönlichen Vorteil eine Wahl sabotieren kann, ohne sich dafür je vor den Wählern rechtfertigen zu müssen (die dann sogar noch eiskalt belogen werden), muss man nicht demokratisch vorbildlich finden. Insbesondere bei der Wahl einer Regierung bzw. des Regierungschefs kann nun denkbar wenig mit dem Gewicht des Gewissens der einzelnen Abgeordneten argumentiert werden: Eine ganze Partei (nicht nur Fraktion) stimmt mit typischerweise 95+% zu, aber an dem einzelnen Abgeordneten, der nun zu seinem großen Bedauern doch kein Ministeramt bekommt, soll es hängen?
  2. Da durch einzelne Abweichler nicht mehr so viel auf der Kippe steht, nimmt der Druck auf die Abgeordneten drastisch ab, entsprechend der Fraktionsmehrheit abzustimmen. Es werden also viel häufiger Abgeordnete ihrem Gewissen folgen und anders abstimmen als ihre Fraktionsmehrheit. Man darf sogar davon ausgehen, dass es nicht eines derart existenziellen Drucks wie eines Gewissenskonflikts bedarf; auch Unmut über einen womöglich als tragbar, aber schlecht empfundenen Kompromiss kann so realiter zum Ausdruck gebracht werden, was der politischen Ehrlichkeit dienlich wäre. Dieser Gedanke wird von den Erfahrungen mit großen Koalitionen gestützt, bei denen es vergleichweise viele Abweichler bei Abstimmungen gibt. Sicherlich nicht nur deshalb, weil es innerhalb von Schwarz-Rot mehr inhaltliche Spannungen gibt als bei Rot-Grün oder Schwarz-Gelb, sondern einfach deshalb, weil es ohne großen Krach möglich ist. Das wird die politische Kultur, den Umgang mit Abweichlern, insgesamt positiv verändern, weil Abweichen dann nicht mehr den Ruch der Sabotage hat, sondern den einer ehrlichen politischen Auseinandersetzung. Wenn das gelegentlich dazu führt, dass das Quorum nicht erreicht wird und die Vorlage deshalb durchfällt, ist das völlig in Ordnung, weil es ihr dann offenbar an dem Rückhalt in der Fraktion mangelt, den man erwarten darf.
    Und natürlich kann auch das Wunder geschehen, dass die Opposition den Sinn eines Abgeordnetengewissens entdeckt, weil es plötzlich nicht mehr "erforderlich" ist, geschlossen gegen die Regierungsfraktionen zu stimmen, was der erste Schritt hin zu echten inhaltlichen Mehrheiten wäre.
  3. Die einzelnen Abgeordneten werden wahrscheinlich als bürgernäher wahrgenommen. Wenn nein und Enthaltung reale Optionen sind, dann lohnt es sich, mit einem Abgeordneten über den richtigen Weg zu diskutieren. Bisher muss man leider erwarten, dass einem nur "erklärt" wird, weshalb der Kanzler / Minister / Parteichef / Fraktionsvorsitzende wider Erwarten recht hat.
  4. Das Gewicht eines Abgeordneten – gemessen an seiner Möglichkeit, eine Vorlage (gemeinsam mit anderen) durchfallen zu lassen – wäre nicht mehr vom Zufall (der Größe der Mehrheit) abhängig, wie es heute der Fall ist. Ob eine Fraktion sich zwei, vier oder zehn Abweichler erlauben kann, ist im Moment nur vom zufälligen Wahlergebnis abhängig. Das politische Gewicht eines Abgeordneten sollte aber keine Frage des Zufalls sein.
    In dem oben beispielhaft gewählten Szenario wäre dieses Gewicht immer etwa gleich, nämlich bei 5%/15% für Gegenstimmen/Enthaltungen (was, bezogen auf die Enthaltungen, ungefähr der Situation in einer großen Koalition entspricht).

Auf den ersten Blick erscheint es so, dass die Stellung eines Abgeordneten dadurch untergraben wird. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Seine Handlungsmöglichkeiten werden (bezogen auf die Folgen) erweitert:

  1. EnthaltungDer Abgeordnete will nur zum Ausdruck bringen, dass er dem Gesetz nicht zustimmt. Er akzeptiert, dass er vergleichsweise leicht (kleines Quorum gegen Enthaltungen) überstimmt wird.
  2. GegenstimmeDer Abgeordnete will deutlich zum Ausdruck bringen, dass er dem Gesetz nicht zustimmt. Er akzeptiert nicht, dass er leicht überstimmt wird, beugt sich aber der überwältigenden Mehrheit der Fraktion(en).
  3. FraktionsaustrittNatürlich hat ein Abgeordneter nach wie vor die Möglichkeit, aus seiner Fraktion auszutreten, womit sie insgesamt an Stimmgewicht verlöre. Dieses Szenario entspricht der heutigen Situation, dass ein Abgeordneter bereit ist, eine Koalition platzen zu lassen, um seinen Willen durchzusetzen).
    Die Variante, dass er die Fraktion verlässt, entspricht aus mehreren Gründen besser einer demokratischen Kultur:
    1. Vermutlich ist zumeist bei Abweichlern nur das Bedürfnis vorhanden, einer Vorlage nicht zuzustimmen, nicht aber das, eine Koalition zu beenden; dass das droht, ist ein (nicht gewünschter) Nebeneffekt. Wenn es einem Abgeordeten nicht reicht, gegen eine Vorlage zu stimmen, wenn er nicht akzeptiert, dass es in aller Regel sowieso "Zufall" ist (Größe der Mehrheit, Anteil der Abweichler), ob seine Entscheidung Auswirkungen hat, sondern er unbedingt nachhaltigen Schaden anrichten will, dann ist es sachgerecht, wenn dieser Schaden primär bei ihm sichtbar wird. Wer die Solidarität mit seiner Fraktion derart aufkündigt, hat keinen Anspruch darauf, weiter Mitglied dieser Fraktion zu sein. Eine Gewissensentscheidung ist als solche zu akzeptieren; aber das bedeutet nicht, dass sie für denjenigen keine Folgen haben darf, zumal dieses Risiko beim Zerbrechen einer Koalition über Neuwahlen und die absehbare Nichtwiederaufstellung sowieso gegeben ist, dann aber stärker die Parteiführung als die Abweichler trifft.
    2. Nicht die Fraktion hat die Koalition aufgekündigt, sondern ein einzelner Abgeordneter hat sich entschieden, seiner Fraktion nicht mehr zu folgen. Es kann durchaus sein, dass die Fraktionskoalitionen auch ohne diesen Abgeordneten immer noch eine Mehrheit haben. Ein einzelner Abgeordneter hat keinen politischen Anspruch darauf, über Wohl und Wehe einer Koalition zu entscheiden.
    3. Es wird ein Ausgleich zwischen der Eigenständigkeit des Abgeordneten und dem Wählerwillen erzeugt. Den meisten Wählern ist eine stabile Regierung wichtiger als der Einzelwille eines Abgeordneten. Der Austritt aus einer Fraktion ist politisch kaum zu begründen, ganz im Gegensatz zu einer Enthaltung oder Gegenstimme bei einer Einzelentscheidung. Selbst in Hessen, wo deswegen immerhin eine Regierung (im Vorfeld) gescheitert ist, haben die vier Abweichler weder Fraktion noch Partei verlassen.
    4. In eine Fraktion kann man wiedereintreten (wenn die das möchte). Dieser Schaden ist sehr viel leichter zu beheben als eine beschädigte oder zerbrochene Koalition.
  4. Antrag auf Aufhebung des FraktionsquorumsWenn es politisch geboten erscheint (warum auch immer), kann ein Abgeordneter (oder eine Gruppe von Abgeordneten) vor einer Abstimmung beantragen, das Fraktionsquorum für diese Abstimmung auszusetzen. Das wäre das formale Pendant der heutigen "Aufhebung des Fraktionszwangs", die sich erstaunlicherweise, aber eben nur selten ereignet, obwohl es doch gar keinen Fraktionszwang gebe... Das mag dann am häufigsten passieren (analog zur heutigen Situation), wenn mehrere Fraktionen (also auch aus der Opposition) dies tun. Es ist aber obendrein denkbar, dass dieses Mittel von einer einzelnen Fraktion oder den Koalitionsfraktionen gemeinsam genutzt wird, um fallweise ein politisches Zeichen zu setzen. Oder eben von einem einzelnen Abgeordneten, um innerparteilich ein solches Zeichen zu setzen. Wenn Entscheidungen in einer bestimmten Form strittig sind (und insbesondere die Koalition nicht auf dem Spiel steht), mag eine Fraktion auch von ihrer Partei dazu aufgefordert werden, für die fragliche Abstimmung auf das Fraktionsquorum zu verzichten.

Was in diesem Modell allerdings nicht funktioniert, ist die Kombination von Obstruktion und Anonymität. Wenn jemand aus einer Fraktion austritt, ist das offensichtlich. Allerdings ist das kein politisches Manko. Wie demokratisch ist es, dass jemand nur deshalb erneut aufgestellt wird, weil die Gremien seiner Partei nicht wissen, wie er abgestimmt hat?
Kritik: zu wenig Veränderung
Von mehreren Seiten wurde kritisiert, dass nur eine Abschwächung des Fraktionszwangs erreicht werde, nicht aber dessen vollständige Überwindung: Auf Grund rein sachlicher Erwägungen mögen sich im Parlament fraktionsübergreifend irgendwelche Mehrheiten finden.

Erwiderung des Verfassers

Mehr zu wollen als dieser Vorschlag bieten kann, ist in keiner Weise ein Argument gegen die Umsetzung dieses Vorschlags, weil dieser Vorschlag einem weiteren Ziel nicht im Weg steht. Es ist im Gegenteil sehr fraglich, wie ohne so einen Kompromiss als ersten Schritt eine radikal andere Situation erreicht werden soll. Konkrete Vorschläge für ein realistisches Szenario bleiben die Kritiker bisher schuldig.
Kritik: nur Kosmetik

Ein Verfassungsrechtler gab zu bedenken, dass diese Maßnahme die Abstimmungsergebnisse nicht ändere und deshalb womöglich nur etwas für die Optik sei – wofür man dann aber kaum die für eine Verfassungsänderung nötige Unterstützung bekäme.

Erwiderung des Verfassers

Man kann durchaus den Standpunkt einnehmen, dass dies eine rein kosmetische Maßnahme sei. Das ist aber kein Problem, im Gegenteil: Wie oben bereits erläutert, stehen "handfeste" Alternativen nicht zur Verfügung, da es sich nicht um ein formelles, sondern ein kulturelles Problem handelt.
Dass sich die Abstimmungsergebnisse im großen und ganzen nicht ändern, ist kein Nachteil des Vorschlags, sondern ein wesentliches Argument dafür: Er soll Freiheiten schaffen, ohne gleichzeitig das Ergebnis zu ändern, denn das hieße ja, die Regierungsmehrheit zu verfehlen. Diese Veränderung soll Widerstand erleichtern, was aber über eine (Um-)Gewöhnung, also nur im Zeitablauf erfolgt. Auch wenn – wie vorgesehen – im Einzelfall die Regierungsmehrheit wegbricht (oder durch eine Gruppe von Oppositionsabgeordneten gerettet wird), wird man nicht mit Sicherheit sagen können, ob die jeweilige Vorlage im heutigen System angenommen worden oder gescheitert wäre.
In zwei Punkten wäre dieses Verfahren keinesfalls nur kosmetisch: Die Abgeordneten werden es nicht als Kleinigkeit, sondern als erhebliche Änderung empfinden (was mehr oder weniger Voraussetzung für eine Änderung der politischen Kultur sein dürfte), und die Bürger werden dem politischen Betrieb ein höheres Maß an Ehrlichkeit attestieren – auch wenn sich die Ergebnisse überwiegend nicht ändern. Schon letzteres allein wäre ein erheblicher Gewinn für das Land, insbesondere im Bemühen um höhere Wahlbeteiligungen.

Erweiterung auf die absoluten Fraktionsgrößen

Wenn man nicht nur die Anwesenden, sondern (ggf. über ein (zusätzliches) Anwesenheitsquorum) die ganze Fraktionsstärke zählt: Dem Parlament bleiben Lächerlichkeiten der Art erspart, dass der Ausgang einer Abstimmung davon abhängig ist, ob gerade Abgeordnete krank oder aus anderen Gründen an der Anwesenheit gehindert sind.
Wenn so viele anwesende Abgeordnete dafür stimmen, dass dies 85% der gesamten Fraktion entspricht, und inklusive der Abwesenden höchstens 5% der Gesamtfraktion dagegen stimmen (können), dann wird bei der Blockzählung die gesamte Fraktionsgröße angesetzt. Da es wenig realistisch ist, dass die Abwesenden alle dagegen stimmen, mag man das Quorum für die Erfassung der vollen Fraktionsstärke erleichtern.

Beispiele mit einer Fraktionsstärke von 75 (von 149) Abgeordeten (Prozentwerte bezogen auf die Anwesenden)

Anwesende Anwesenheitsquote dafür dagegen Enthaltungen Blockzählung Anwesende Blockzählung alle

75 100% 85% 5% 10% ja ja

64 85% 100% 0% 0% ja nein

72 96% 89% 0% 11% ja ja

72 96% 89% 1% 10% ja nein

72 96% 87% 0% 13% ja nein

Bei der Zählung der ganzen Fraktion ist kommt es darauf an, ob beide Fraktionsquoren erfüllt werden, wenn man annimmt, dass alle fehlenden Abgeordneten mit nein gestimmt hätten. Wenn dadurch die Zustimmung unter 85% fällt oder der nein-Anteil über 5% steigt, werden nur die anwesenden Abgeordneten im Block gezählt.

Erweiterung auf Fraktionsgemeinschaften

Es ist außerdem zu überlegen, ob man (vor allem in kleinen Parlamenten) diese Zählweise nicht nur auf einzelne Fraktionen anwendet, sondern auf die Fraktionsgemeinschaft einer Koalition. Wenn man das nicht tut, handelt man sich durch die Rundungsprobleme (5% bei neun Abgeordneten) Probleme ein, die in der Sache nicht begründet sind.
Ein Marginalisierungsrisiko für kleine Koalitionsfraktionen entsteht dadurch nicht, weil auch eine kleine Fraktion immer mehr als 5% der Koalitionsstimmen hat. Der Form halber könnte aber die Fraktionsmehrheit dieses Verfahren für einzelne Abstimmungen aussetzen.


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