Ein Feiertag meines Lebens

Ich tue es ja nicht oft, aber heute lasse ich in diesem Blog die Politik vollständig ruhen und erzähle einen Schwank aus meinem Leben. Einen Schwank, der für mich zu den wichtigsten Momenten gehört.

Ich komme aus Solingen und wurde in einer Arbeiterfamilie groß, in der die Eltern pro Tag manchmal 14, manchmal 16 Stunden arbeiteten. Für uns Kinder blieb wenig Zeit. Dusche, Bad oder auch nur WC im Haus waren für mich kaum vorstellbar, warmes Wasser, durch ein Untertischgerät seit Ende der siebziger Jahre aus unserem Wasserhahn sprudelnd, war immer noch ein Wunder. Es gab einen alten Fernseher, aber die wenigen Stunden, die zwischen Arbeit und Schlaf lagen, wurden nicht immer vor der Mattscheibe verbracht. Wir waren begeisterte CB-Funker und fröhnten diesem Hobby gern. Via Funk hatten wir auch neue Freunde gefunden, eine Familie aus der Nachbarschaft Remscheid, die unter dem Namen “Blue Moon” auf den Funkwellen firmierte. Wir besuchten uns regelmäßig, und ich schloss mit ihrem Sohn Helmut, der 2 Jahre jünger war als ich, eine enge Freundschaft. Jeden Montagabend saß seine Mutter Inge bei uns. Sie war Krankenschwester und kam nach ihrer Arbeit zu uns, wo sie ihr Mann, der länger arbeiten musste, später abholte. Am 29. März 1982, dem ersten Montag der nordrhein-westfälischen Sommerferien, luden uns unsere Freunde ein, sie in ihrem Ferienhaus auf einem niederländischen Campingplatz zu besuchen. Nebenbei fiel der Satz: “Neben uns ist sogar gerade ein Häuschen frei.”

Heute vor 30 Jahren, am Sonntag, dem 4. April 1982, machten wir uns auf, diesen Besuch zu unternehmen, der mein Leben veränderte. Dabei hatte ich eigentlich gar nicht fahren wollen. Ich hing vor dem Radiogerät. Drei Tage zuvor hatten argentinische Truppen die zum britischen Empire gehörenden Falkland-Inseln im Südatlantik besetzt. Möglicherweise brach ein Krieg aus, die britische Regierungschefin, Margaret Thatcher, hatte am Vortag verkündet, die Falklands seien und blieben britisches Territorium, und keine Aggression oder Invasion könne diese einfache Tatsache ändern. Ich wollte am Radio bleiben, aber meine Mutter überredete mich, die Nachrichten mal für einige Stunden ruhen zu lassen.

Es war ein kühler, aber meistens sonniger Sonntagmorgen. Wir fuhren nur knapp anderthalb Stunden. Als wir anhielten, umfing uns vollkommene Stille. Wir stiegen aus, und ich war sofort überwältigt von der herrlichen Luft, der wundervollen Stille, dem Geruch des Waldes und der Felder in der Nähe. Wir betraten ein Büro, und eine ältere Frau empfing uns freundlich. Während sie sich mit meiner Mutter unterhielt, ihr den Weg zeigte, wo unsere Freunde ihr Häuschen hatten, und während sie von dem zweiten, dem leerstehenden Häuschen sprach, stand ich an einer alten Orgel, die leider nicht angeschlossen war. Bis heute kann ich die Tasten unter meinen Fingern fühlen. Ich bekam kaum mit, dass das Häuschen, das meine Mutter sich ansehen wollte, nur 1500 Gulden kosten sollte, rund 1250 D-Mark also.

Als wir uns auf den kurzen Weg machten, liefen wir durch Wald und auf sandigem Boden. Wärmender, alles umfassender Friede ergriff von mir Besitz, den ich schon als Kind spürte. In der nicht all zu großen Ferne quakten die Enten in einem See, vor kleinen Häuschen rechts und links des Weges begrüßten uns fröhlich Menschen, hierr und dort lief ein Radio, hier und dort klapperte Geschirr. Ganz selten fuhr ein Auto vorbei, im Schritttempo allerdings, man konnte nebenher gehen. Und dann standen wir vor dem hölzernen Gartentörchen des Hauses, in dem unsere Freunde wohnten. Und während meine Familie sich mit unseren Freunden dort um einen gemütlichen Tisch setzte und zu plaudern begann, liefen Helmut und ich die wenigen Meter zum See hinunter, versorgt mit einer Tüte Brot für die Enten, die sogleich zu uns kamen, keine Scheu hatten und sich um uns her versammelten, um gefüttert zu werden.

Schließlich sahen wir uns das Haus an. Sand führte bis zur Tür. Es war vielleicht 6 meter lang und knapp 4 meter breit. Innen war alles braun: Die Möbel, die Wände, die Vorhänge. Ein innen verkleidetes Stahlgerüst mit einer Zeltplane, mehr war es nicht. Es gab ein Sofa, 2 Sessel, einen niedrigen Tisch, ein breites Etagenbett und einen kleinen Schrank. Das Waschbecken war aus Steingut, natürlich gab es kein warmes Wasser. Eine Kochstelle konnte mit Propangas betrieben werden. Natürlich gab es kein WC. Das Haus war häßlich und für unsere ganze Familie natürlich viel zu klein. Es musste Platz für meine Eltern, meine Oma, meine Schwester und meinen Schwager mit ihren drei Kindern, und für mich bieten. Ich war mir sicher, dass meine Mutter das Haus nicht kaufen würde. Und deshalb überraschte mich ihre Ansicht vollkommen: “Ich hab 100 Gulden dabei, und das nehme ich als Anzahlung. Wir kaufen das Haus und werden schon was draus machen.”

Wie recht sie hatte!

Binnen weniger Wochen wurde es zu unserer zweiten Heimat. Unsere Freunde warteten jeden Freitag mit Kaffee auf uns, wenn sie vor uns dort waren, oder wir warteten mit Tee auf sie im umgekehrten Fall. Abende voller Gesang, leckerem Grillgut und toller Gespräche folgten. Unser Haus erhielt, selbst gebaut, einen Anbau mit Bad und WC, wir erhielten Erdgas, im nächsten Jahr wurden 2 weitere Zimmer angebaut, und wieder ein Jahr später ersetzte mein Vater, der als Möbel- und Bauschreiner früher gearbeitet hatte und sich auskannte, das alte Zelthaus durch ein größeres Holzhaus. Wir fanden viele Freunde und verbrachten jede freie Minute in den Niederlanden, auf dem Campingplatz Heelderpeel im mittleren Limburg. Helmut und ich unternahmen mit unserem gemeinsamen Freund Mark lange Spaziergänge und kleine Abenteuer, wir liebten die Abende am Lagerfeuer oder am Grill, und wir haben so manchen Streich ersonnen.

Nach und nach begann ich auch, mich für die Niederlande als ganzes zu interessieren, für ihre Politik, ihre Musik, ihre Sprache, ihre Gesellschaft.

24 Jahre lang blieben wir dort. Doch nach dem Tod meines Vaters und unseres Freundes, der uns hier her gebracht hatte, nach dem Weggang seiner Familie und anderer Freunde, darunter auch Marks Eltern, und nach dem Tod meiner Mutter konnten meine Liebste und ich das zunehmend verfallende Haus nicht mehr halten. Die Reparaturen waren zu teuer, und plötzlich war niemand mehr da, wie früher, der mal eben aushalf. Sie waren alle nicht mehr dazu gekommen, uns beim Erhalt unseres Hauses zu helfen, als Dank für die vielen hundert Stunden, die mein Vater ihnen bei dem Erhalt ihrer Häuschen geholfen hat. Als unser Häuschen abgerissen werden musste, war es, als risse man mir die Heimat aus meinem Herzen. Doch das war nur vorübergehend. Inzwischen fahren wir wieder hin, zwei bis drei mal im Jahr, mieten ein kleines Häuschen, so klein, wie unseres damals war, und trotz der wenigen Tage im Jahr, die wir dort sind, ist es für uns wie eine Heimkehr. Und schon haben wir neue Freunde gefunden, neue Kontakte geknüpft, genau wie heute vor 30 Jahren.


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