"Bücher waren sowieso weniger gefährlich als andere Menschen."
"Der Ozean am Ende der Straße" ist mein erster Neil Gaiman. Und ich bin ganz hingerissen. Die Kurzgeschichte, die sich zum Roman ausgewachsen hat, wie der Schriftsteller im Nachwort gesteht, ist einfach ein traumhaftes Stück Poesie.
Ein Mann mittleren Alters kehrt für eine Beerdigung in seine kleine Heimatstadt im englischen Sussex zurück. Nach der Beerdigung irrt er durch den Ort und landet an jenem Ententeich, den seine Freundin aus Kindheitstagen einen Ozean nannte. Hier erinnert er sich an den siebenjährigen Jungen, der er einst war und der sich im Dunkeln fürchtete, Bücher verschlang und keine Freunde hatte. Bis er Lettie Hempstock begegnete. Es ist eine fantastische Geschichte, die das kindliche Ich zum Besten gibt. Und eine wahnsinnig anrührende. Neil Gaiman hat eine glaubwürdige kindliche Perpektive erschaffen. Man meint wirklich die Welt durch die Augen eines Siebenjährigen zu betrachten. Es ist einiges, was dieser Junge verdauen muss. Sein Kätzchen wird überfahren, der Untermieter seiner Eltern bringt sich um, sein Vater hat eine Affäre und versucht, seinen Sohn zu ertränken. Der Junge muss lernen, dass Erwachsene nicht allwissend sind, dass hinter manchen Dingen mehr steckt, als seine Kinderaugen sehen. Zum Glück trifft er Lettie. Das Mädchen, ihre Mutter und Großmutter helfen ihm durch diese Zeit. Sie geben ihm ein Stück der Geborgenheit zurück, die eigentlich zur Kindheit gehört, die einem eigentlich die Familie bieten sollte. Doch Eltern und Geschwister sind auch nur Menschen, sie sind nicht unfehlbar. Auch mit dieser Erkenntnis müssen Kinder klarkommen. Das ist hart und bedeutet das Ende der Unschuld.
Gaimans wunderbarer Roman ist aber nicht nur einer über die Kindheit, sondern auch eine Fabel über die Macht der Fantasie, die ein ganz anderes Verstehen der Welt ermöglicht, solange sie nicht von der auf Realitätssinn geeichten Vernunft erdrückt wird. Die Fantasie lässt den Jungen jene Monster erkennen, die in die menschliche Welt eindringen. Es sind gefährliche Ungeheuer. Aber sie beschert ihm auch Wunder wie einen orangen Himmel und ein Ententeich, der ein machtvoller Ozean ist. Und die Fantasie überwindet den Tod. Wie gesagt, dieser Roman ist einfach atemberaubend. Ich freue mich schon auf meinen nächsten Gaiman. Bestellt ist er bereits.
Doch nicht nur inhaltlich ist das Buch ein Traum, der Eichborn Verlag hat sich sehr viel Mühe mit der Gestaltung gegeben. Das Hempstock-Haus steht auf dem Cover im titelgebenden Ozean. Auf den Einbandseiten sind Auszüge aus dem handschriftlichen Manuskript zu sehen. Zudem gibt es einige Illustrationen, die vermutlich aus dem englischen Original stammen. Alles in allem ist es eine liebevoll gestaltete Ausgabe, die man gern zur Hand nimmt.
Neil Gaiman, Der Ozean am Ende der Straße, Eichborn VerlagDieser Eintrag wurde veröffentlicht in und getagged gelesen England, Fantasie, Gegenwartsliteratur, Roman, Sussex. Bookmarken: Permanent-Link. oder ein Trackback hinterlassen: Trackback-URL.