Missbrauchsfall in Fluterschen
"Ich darf das als Vater"
Von Julia Jüttner, Koblenz Foto: dapdVideo: ReutersEr war der Herrscher in einem totalitären Familienregime: Vor Gericht hat Detlef S. zugegeben, mit seiner Stieftochter acht Kinder gezeugt zu haben.
Dass er sie, einen Stiefsohn und seine leibliche Tochter jahrelang missbrauchte und an Bekannte "vermietete", stritt er hingegen ab.
Detlef S. schont seine Stieftochter bis heute nicht.
Hätte er am Dienstag vor dem Landgericht Koblenz zugegeben, dass er sie jahrelang sexuell missbrauchte und an Bekannte "vermietete", hätte die 27-Jährige nicht vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Koblenz aussagen müssen. Der 48-Jährige aus Fluterschen im Westerwald verhielt sich so, wie er auch nach außen wirkte:
schwach, rückgratlos.
Versunken in einem viel zu großen bordeauxfarbenen Sakko, mit bunt gemusterter Krawatte auf einem grauen Hemd, betrat er den Gerichtssaal.
Ein schmächtiges Männchen, nur 1,63 Meter groß, mit grauem Haar, zierlicher Brille und auffallend hoher Stimme.
Sechs Monate lang hat Detlef S. seine Kinder und Stiefkinder nicht gesehen.
Seit August sitzt er in Untersuchungshaft in der JVA Koblenz.
Im Saal 128 fixiert er nun mit Blicken seine Stieftochter, als sie auf der Seite der Nebenkläger ihm gegenüber Platz nimmt.
Acht Kinder hat er mit ihr gezeugt, sie ihren Aussagen zufolge 15 Jahre lang sexuell missbraucht und gegen Geld für sexuelle Dienste an Bekannte "vermietet".
Die junge Frau weicht seinem Blick aus. Noch hofft sie, dass er ein umfassendes Geständnis ablegt, ihr eine Aussage mit allen widerlichen Details erspart.
"Das tut nicht weh"
Die Staatsanwaltschaft hat das Geschehen in der Anklageschrift rekonstruiert. Demnach vergeht sich Detlef S. in den Jahren 1987 bis 1989 an der Stieftochter und ihrem Zwillingsbruder, unmittelbar nach der Hochzeit mit der Mutter der Kinder beginnen die Übergriffe.
Er missbraucht die Kinder immer dann, wenn seine Frau nicht zu Hause ist. "Das tut nicht weh. Ihr werdet sehen, das ist gut", soll S. den eingeschüchterten Geschwistern gesagt haben.
Bis 1995 missbraucht er die Kinder laut Anklage nicht mehr, prügelt jedoch wie von Sinnen auf sie ein - mit einem Bundeswehr-Koppel, einer selbstgebastelten Peitsche oder einem Teppichklopfer.
Am zwölften Geburtstag der Stieftochter beginnt deren Missbrauch laut Anklage erneut. Die Feier ist zu Ende, die anderen Kinder fort, da zieht der Stiefvater sie in ihr Zimmer, befingert sie. "Ich darf das als Vater", sagt er dem verstörten Kind.
Drei Wochen später, im Juni 1995, schleppt er sie zu seinen Bekannten in den Nachbarort, macht sie mit mehreren Gläsern Schnaps gefügig und inszeniert eine Art Orgie: Das Mädchen muss sich ausziehen, die drei erwachsenen Männer auch, und dann hat das Kind zu parieren.
Der Stiefvater gibt einem der Freunde die Order: "Du darfst machen, was du willst!" Gegen Bezahlung. Unter Tränen wehrt sich das Mädchen heftig, stemmt sich gegen den körperlich überlegenden Mann. Dieser wirft sich auf sie, vergewaltigt sie. Detlef S. und der andere Mann befriedigen sich währenddessen selbst. Am Ende kassiert Detlef S. 40 D-Mark.
Sexuelle Dienste der Stieftochter Bekannten angeboten
Es ist der Beginn einer Art "Geschäftsidee". Denn Detlef S. ist chronisch pleite. Außer als Maurerlehrling hat er nie gearbeitet, nur von staatlicher Unterstützung gelebt.
Seit jenem Tag im Juni 1995 bringt der Langzeitarbeitslose die Stieftochter immer wieder in die Wohnung einer der Männer. Dort vergehen sie sich an ihr, auch S. selbst. Er macht Polaroid-Fotos von den Übergriffen und stellt den Bekannten die "Dienste" der Stieftochter in Rechnung. Nach 13 Jahren Ehe adoptiert Detlef S. im Jahr 2000 die vier Kinder seiner Frau und kauft ein Haus.
Wovon er das abbezahle, will der Richter an diesem Dienstag wissen. "Wir leben vom Kindergeld", so Detlef S. Mit seiner Frau hat er vier leibliche Kinder. Die sieben Kinder seiner Stieftochter, deren leiblicher Vater er ist, lebten ebenfalls bei ihm.
Drei Jahre lang, von 2000 bis 2003, arbeitet Detlef S. als Lastwagenfahrer. Vom Richter befragt, warum er danach keinen Job hatte, sagte der 48-Jährige: "Ich bin schlecht vermittelt worden."
2001, kurz nach ihrem neunten Geburtstag, nimmt Detlef S. auch eine seiner leiblichen Töchter mit in sein Schlafzimmer. Seine Ehefrau schläft seit Jahren im Erdgeschoss. Mit der Tochter fährt er in ein Waldstück und zerrt sie auf die Rückbank des Wagens.Weinend habe das Mädchen den Vater angefleht, von ihr abzulassen, sagt Staatsanwalt Thorsten Kahl.
Die Tochter habe sich gewehrt und geschrien vor Schmerzen. Detlef S. aber habe keine Gnade gekannt.
"Der Einlassung ist nichts hinzuzufügen"
Bis zum Jahr 2009, als das Mädchen einen schweren Unfall hat und sich das Becken bricht, vergeht er sich laut Anklageschrift mindestens einmal pro Woche an ihr.
Und er weitet seine perfide Geschäftsidee aus: Regelmäßig fährt er seine leibliche Tochter zu seinen beiden Kumpels in einen Schuppen, in dem die Männer das Mädchen nacheinander vergewaltigen. Detlef S. berechnet dafür jedes Mal zwischen 30 und 50 Euro.
Penibel achtet der Arbeitslose darauf, dass die Mädchen nicht von seinen Bekannten schwanger werden und er mit seiner leiblichen Tochter kein Kind zeugt.Seine Stieftochter wird acht Mal von Detlef S. schwanger.
Vor Gericht hat der 48-Jährige zugegeben, der Vater dieser Kinder zu sein, ein DNA-Test belegt dies. Die Vaterschaft an sich ist aber nicht zwingend strafbar.
Die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs bestreitet S. indes.
Mehrmals musste die Verhandlung an diesem Dienstag unterbrochen werden, weil sich Detlef S. mit seinem Verteidiger zur Beratung zurückzog. Die Nebenklägerinnen hofften, dass er gestehen oder einer Exploration seiner Person zustimmen würde. Vergeblich. Immer wieder verkündete sein Anwalt nach der Auszeit:
"Der Einlassung ist nichts hinzuzufügen."
2002 gab es ein erstes Verfahren - doch es wurde ohne Ergebnis eingestellt
Wie konnte der Missbrauch in einem 750-Einwohner-Dorf so lange geheim gehalten werden?
Die Rechtsanwältinnen der beiden Frauen sagen, der Druck, den Detlef S. auf die Familie ausgeübt habe, sei unbeschreiblich gewesen. Belegt wird dies durch ein Ermittlungsverfahren, das 2002 ins Rollen kam - und ohne Ergebnis eingestellt wurde.
2002 hatte ein Sohn des Angeklagten den sexuellen Missbrauch beim Jugendamt angezeigt. Seine Schwester sei zum dritten Mal von Detlef S. schwanger, erzählte der Sohn. Er untermauerte seinen Verdacht mit Vermutungen: "Woher sollen die Kinder sonst kommen?", fragte er. Auch habe er gehört, wie sein jüngerer Bruder gesagt habe, S. fahre sowieso nur mit der Schwester im Auto weg, um Sex zu haben. Doch untereinander schwiegen die Geschwister offenbar. Gegenseitig befragt oder gar offen gesprochen haben sie nicht.
Als es schließlich Wochen später zur Anhörung kam, bestritten alle Kinder einen sexuellen Missbrauch: "Es ist überhaupt nichts passiert. Mein Papa hat mir nichts getan, auch sonst hat mir niemand was getan", sagte die leibliche Tochter laut Vernehmungsprotokoll. Eine gynäkologische Untersuchung belegte, dass sie "keine Hinweise für physische Verletzungen" aufweise.
Die Stieftochter sagte laut Vernehmungsprotokoll damals: "Ich möchte zu den Vorwürfen keine Angaben machen." Auch der Bruder, der sich ans Jugendamt gewandt hatte, zog seine Aussage zurück. Er habe "keine eigenen Beobachtungen" gemacht, behauptete er plötzlich.
Detlef S. selbst stritt ohnehin alles ab. Die Ermittlungen wurden eingestellt.
"Ein krankes, pädophiles Stück Scheiße"
Den Fall ins Rollen bringt im Sommer 2010 schließlich ein Brief, den die leibliche Tochter an ihre Familie schreibt und den ihre Halbschwester findet. Darin kündigt sie an, die Familie verlassen zu wollen - aber nicht ohne vorher reinen Tisch zu machen.
"Euer heiß geliebter Papa ist ein krankes, pädophiles Stück Scheiße", zitierte der Vorsitzende Richter aus dem handgeschriebenen Brief.
Sie habe nur dann "etwas gedurft", wenn sie zuvor eine Gegenleistung erbracht hätte. Er habe sie "gezwungen und erpresst", "seine eigene Tochter aus Fleisch und Blut mit neun Jahren angefasst".
"Warum wollte ich nie oben bei ihm schlafen?", heißt es in dem Brief.
"Wie oft habe ich geheult, weil ich nicht wollte. Er hat mich kaputt gemacht."
Trotz der schweren Verletzungen nach dem Unfall hätte er nicht von ihr abgelassen und sie bedrängt, wann er sie wieder zu seinen Kumpels fahren könne.
"Mama, eine Frage: Was hast du dir und deinen Kindern da angetan? Als hättet Ihr nicht mitbekommen, was da abgeht!". Über Detlef S. schreibt sie: "Mit neun Jahren hat er aufgehört, mein Papa zu sein." Es tue "so weh, so groß geworden zu sein". Dennoch werde sie Detlef S. nicht anzeigen. "Mir hat niemand geholfen, wie auch? Ich habe ja nie etwas gesagt!"
"Ich will die Familie nicht kaputtmachen"
Der Brief ist ein Beweis dafür, dass die Familie einerseits von Detlef S. unterdrückt und tyrannisiert wurde. Und gleichzeitig ist er Ausdruck für die bloße Verzweiflung der Kinder, die sich nicht zu helfen wussten.
Die Anwältinnen der Opfer berichten, dass der Zusammenhalt innerhalb der Familie bis heute ungebrochen sei. Weder die beiden Frauen noch der Zwillingsbruder oder die anderen Kinder, die Detlef S.' sexueller Abartigkeit entkamen, seien wütend auf die Mutter. "Es gibt keine Hassgefühle, eher Mitleid", sagt Katharina Hellwig, die Detlef S. Stieftochter vertritt. Der Kontakt sei "innig", die Mutter kümmere sich rührend um die Enkelkinder.
"Mama, ich liebe dich trotzdem über alles", schreibt die Tochter in ihrem Abschiedsbrief. "Ich will die Familie nicht kaputtmachen. Bitte entschuldige."
Nach dem Verlesen des Briefes trat die junge Frau in den Zeugenstand, vor den Augen ihres Vaters. Die Öffentlichkeit wurde zu ihrem Schutz ausgeschlossen."
Quelle: Spiegel Online 16.02.2011
Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt