Willy Brandt ist allgegenwärtig. Gerade erst hat sein Nachfolger auf dem SPD-Parteivorsitz, Sigmar Gabriel, das Mitgliedervotum zur Großen Koalition auf Brandts großes Credo bezogen: "Mehr Demokratie wagen". Fast alle Redaktionen haben sich in den vergangenen Wochen ausführlich der Persönlichkeit und der Politik des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers gewidmet, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. Wenige kannten ihn aber wie sein politischer Berater und persönlicher Freund Egon Bahr.
Brandt und Bahr: Politsche Weggefährten und persönliche FreundeAls Pressechef, Chefdenker und Vertrauter hat Bahr den übergroßen Sozialdemokraten vom Berliner Rathaus bis ins Bonner Bundeskanzleramt begleitet. Mehr noch: Seine Erinnerungen an den Freund (wie er immer wieder sagt) sind eigentlich autobiografische Notizen zum Fall B. - einem politischen Doppelleben: Denn Egon Bahr und Willy Brandt verschmelzen in dieser Erzählung zu einem einzigen Protagonisten, dessen Bühne die Neue Ostpolitik war. An Unstimmigkeiten oder auch nur an zwei Meinungen kann sich Egon Bahr nicht erinnern:
Ist der Kanzler einmal nicht erreichbar, verhandelt Egon Bahr in seinem Namen; er überbringt seinen Gesprächspartnern im Osten Botschaften von Brandt, die der erst im Nachhinein erfährt und mit einem zufriedenen Schmunzeln abnickt. Anekdoten wie diese machen Bahrs Erinnerungen , die bei Hörbuch Hamburg erschienen sind, zum unterhaltsamen Ohrenschmaus. Sie zeigen aber auch, dass Egon Bahr eine erfrischende Brise Nüchternheit in den allmählich ermüdenden Personenkult um Willy Brandt streut - selbstverständlich ohne dessen historische Größe anzuzweifeln: Ihm geht es nicht um die Familien-, Frauen- und Frustgeschichten seines mittlerweiler mystifizierten Chefs. Bahr beschränkt sich diesbezüglich auf humorvolle Sticheleien, wenn er etwa Brandt mit dem Sowjetführer Leonid Breschnew vergleicht:
Die beiden haben sich auf Anhieb verstanden. Wein, Weib und Gesang hätten Sie beide nicht abgelehnt. Und wenn der Arzt gesagt hätte. ihr müsst vorsichtiger sein, hätten beide sofort beschlossen: "Wir hören auf zu singen!"
Egon Bahr hat anderes im Sinn: Ihm geht es um die diplomatische Kärrnerarbeit hinter den Parolen "Wandel durch Annäherung" und "Mehr Demokratie wagen". Diese Kärrnerarbeit hat zu großen Teilen er selbst geleistet. Deshalb sind seine Erinnerungen an Brandt eher die Erinnerungen an die gemeinsame Politik, die Brandts Namen und Bahrs Handschrift trägt. Der Hörer pendelt mit dem Chefunterhändler der sozial-liberalen Koalition zwischen Bonn und New York, Berlin und Moskau hin und her: Immer auf der Suche nach einem neuen Miteinander im Kalten Krieg und immer bestrebt, den Deutschen in Ost und West die politische Teilung menschlich zu erleichtern. Detailgetreu (teilsweise im Wortlaut) geschilderte Verhandlungssituationen vermitteln das Gefühl, mit an Tisch zu sitzen, wenn der Archtitekt der Neuen Ostpolitik um Grenzen, Transitabkommen oder auch nur um die richtigen Vokabeln ringt. Darüber scheint der Baumeister Brandt, der an diesen Arbeitsgesprächen nicht teilnimmt, manchmal aus dem Sinn zu geraten. Aber dieser Eindruck trügt, denn Brandt und Bahr sind zunehmend ein Herz und eine Seele. Die Memoiren des Einen schließen den Anderen stets mit ein. Immer wieder gewährt Bahr Einblicke in sein nahezu symbiotisches Verhältnis zu Brandt: Es rührt ihn, dass Brandt ihn auf dem Sterbebett als Freund benennt; er rechnet mit dem gemeinsamen Parteifeind Herbert Wehner ab; er ist stolz darauf, dass Brandt ihm sagt, er habe Anteil am Nobelpreis. Selbst die auf den ersten Blick oberflächliche Deutung, wonach Brandt ein Träumer mit Bodenhaftung gewesen sei erklärt sich besser, wenn man den bodenständigen Bahr erzählen hört.
Fazit: "Das musst Du erzählen..." - Diese Aufforderung von Willy Brandt an Egon Bahr ist Titel und Programm seines Hörbuchs. Zwar fällt der Name des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers nicht so oft, wie es der Untertitel erwarten lässt ("Erinnerungen an Willy Brandt"). Allerdings erzählt Egon Bahr die Biografie der Marke Brandt und seiner Neuen Ostpolitik unterhaltsam und lehrreich. Dass der mittlerweile über 90 Jahre alte Autor seine Erinnerungen selbst liest, machen das (gekürzte) Hörbuch zu einem zeitgeschichtlichen Zeugnis ersten Ranges. Das sieht übrigens auch die Jury des Deutschen Hörbuchpreises ähnlich: Bahrs Erinnerungen sind soeben für die der Kategorie „Bestes Sachhörbuch“ nominiert worden...
Egon Bahr
Das musst du erzählen...
Erinnerungen an Willy Brandt
Erschienen bei Hörbuch Hamburg im Juni 2013. 4 CDs (276 Minuten Laufzeit) kosten 19,99 €.