Ein Buch nicht nur über den Jugendwerkhof in Torgau

WEIMAR. (fgw) Seit 1990 kocht in Politik und Medien immer wie­der das Thema Jugendwerkhöfe in der DDR hoch. Diese Einrichtungen der Jugendhilfe sol­len als bed­son­ders schlim­mes Beispiel für den “Unrechtsstaat DDR” die­nen. Doch Ermittlungen sei­tens bun­des­deut­scher Staatsanwaltschaften wegen angeb­li­cher Mißhandlungen in Jugendwerkhöfen, spe­zi­ell im “Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau”, konnte sol­che Denunziationen in kei­nem Fall bele­gen. Trotz öffent­li­cher Behauptungen von ehe­ma­li­gen Insassen. Als vor weni­gen Jahren unzäh­lige und unglaub­li­che Vorfälle von Gewalt und sexu­el­lem Mißbrauch in alt­bun­des­deut­schen, ins­be­son­dere kirch­li­chen Einrichtungen, publik wur­den, diese auch kon­kret nach­ge­wie­sen wer­den konn­ten, lebte das Thema Jugendwerkhöfe neu auf. Wobei grund­sätz­lich Kinderheime aller Art und die Jugendwerkhöfe mit Vorsatz “in einen Topf gewor­fen” wer­den.

jugendwerkhof Ein Buch nicht nur über den Jugendwerkhof in TorgauDer Journalist Robert Allertz machte sich daher nach Torgau auf, wo im ehe­ma­li­gen Jugendwerkhof eine “Gedenkstätte” ein­ge­rich­tet wurde. Für die Medien und die Aktivisten der soge­nann­ten Erinnerungsindustrie ist das die schlimmste Einrichtung die­ser Stadt. Im Gegensatz zu den nicht all­zu­be­kann­ten Gedenkstätten, die sich dem Wehrmachtsgefängnis und dem hier seit 1943 befind­li­chen Reichskriegsgericht wid­men. Letzteres fällte rund 1.400 Todesurteile…

“Der geschlos­sene Jugendwerkhof ist eine Disziplinareinrichtung im System der Spezialheime der Jugendhilfe. In diese Einrichtungen wer­den Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren auf­ge­nom­men, die in Jugendwerkhöfen und Spezialkinderheimen die Heimordnung vor­sätz­lich, schwer­wie­gend und wie­der­holt ver­let­zen. Der Aufenthalt darf in der Regel sechs Monate über­stei­gen.” So heißt es in der “Anordnung über Spezialheime der Jugendhilfe” des Ministeriums für Volksbildung der DDR aus dem Jahre 1964.

Es han­delt sich bei die­sem Jugendwerkhof um eine spe­zi­elle Einrichtung für straf­fäl­lig gewor­dene Insassen ande­rer Heime. Sie wurde aus Erwägungen des Innenministeriums her­aus geschaf­fen, um die Statistik zu berei­ni­gen. So lange die Grenzen in Berlin offen waren, konn­ten jugend­li­che Straftäter unge­hin­dert “in den Westen” flüch­ten, nach dem 13. August 1961 nicht mehr. Und so zeigte die Kriminalstatistik nach oben… Genaueres dazu in die­ser Schrift. Es waren nie mehr 60 Jugendliche gleich­zei­tig in die­ser Einrichtung; von 1964 bis 1989 waren es ins­ge­samt 4.046. Grundsätzlich endete bei Erreichen der Volljährigkeit, also mit 18, die Einweisung und der betref­fende Jugendliche wurde ent­las­sen.

Allertz ging u.a. der Frage nach, wer nach Torgau kam. Die Ausstellung schil­dert Einzelschicksale nach deren “Zeitzeugen-Aussagen”, blen­det aber die Gründe für deren Einweisung aus. Seine Meinung zu den Aktivisten der Erinnerungsindustrie und der DDR-Delegitimieren bringt er so auf den Punkt: Für sie ist “alles, was gegen die­sen Staat DDR ging, (war) ein legi­ti­mer Akt des Widerstandes, selbst wenn man Mopeds klaute oder auf den Kinderstrich ging.” (S. 31) Und so wür­den aus Kleinkriminellen und sozial gefähr­de­ten Jugendlichen, anders als inter­na­tio­nal üblich, poli­ti­sche Widerständler gemacht…

Zum Alltag im geschlos­se­nen Jugendwerkhof schreibt Allertz: “Dass es sich nicht um ein Erholungsheim han­delte, son­dern um eine, nun ja, Art Strafanstalt, kann ange­sichts der Vorgeschichte der Insassen nicht über­ra­schen. Und in den Selbstdarstellungen der ‘Gedenkstätte’ heißt es darum auch zutref­fend: ‘Wiederholte Fluchtversuche [aus ande­ren Heimen; SRK], Auflehnung gegen Organe der Jugendhilfe sowie Arbeitsbummelei und Schulschwänzen waren die häu­figs­ten Einweisungsgründe.’ Und die waren so poli­tisch moti­viert wie Sackhüpfen. Es steht auf einem ande­ren Blatt, ob die Bestrafung ange­mes­sen, die Unterbringung akzep­ta­bel und das sozi­al­päd­ago­gi­sche Angebot aus­rei­chend waren.” (S.43)

Und wie sieht es heute in Bundesdeutschland aus? “Wer Mopeds klaut oder die Schule schwänzt, kommt auch heute nicht unge­straft davon. Das heißt nur nicht Jugendwerkhof, son­dern ‘Warnschussarrest’ und ‘frei­heits­ent­zie­hende Maßnahme’, wenn­gleich auch deren Wirkung umstrit­ten ist.” (S.53)

Aus Sicht des Rezensenten sind jedoch die Teile der Torgauer Ausstellung, die sich mit west­deut­schen kirch­li­chen Heimen befas­sen, wesent­lich inter­es­san­ter. Da heißt es zum Thema Bestrafungen in sol­chen Heimen: “Gerechte Strafe. Die Annahme, der Mensch sei von Natur aus böse, führt in christ­li­chen Heimen der Bundesrepublik zu einem System der Bestrafung. Damit sich der Mensch dem Wirken Gottes öffne, wird sein Wille gebro­chen. Kleinste Verfehlungen sind Anlass für harte Strafen wie Arrest, Demütigungen und Schläge. Mitunter wer­den die Strafen mit reli­giö­sen Riten ver­knüpft. Dazu muss man z.B. auf Erbsen kni­end sein Gebet ver­rich­ten. Mit der Heimreform wird das Gewohnheitsrecht, Kinder schla­gen zu dür­fen, in der Bundesrepublik abge­schafft. Bayern schließt sich 1980 als letz­tes Bundesland der Regelung an.” (S. 57)

Diese lapi­dare Aussage ergänzt Allertz durch einige Beispiele aus der bun­des­deut­schen Heimwirklichkeit. Ausführliche Zitate aus Spiegel-online, Weser-Kurier, Zeit oder Kölnische Rundschau las­sen das Blut in den Adern gefrie­ren. Ebenso ein Zitat aus dem Buch “Vom Feuer in die Hölle. Meine Jugendjahre im Mädchenheim” von Sieglinde Alexander über ihren mehr­jäh­ri­gen Aufenthalt in der evangelisch-lutherischen Erziehungsanstalt Weiher in Hersburg bei Nürnberg. Zwei Sätze sol­len genü­gen: “Alles war über­wacht, alles war kon­trol­liert, sogar wie oft man aufs Klo ging, mensch­li­che Bedürfnisse blie­ben unbe­ach­tet. Aber es wurde immer gebe­tet, mor­gens, mit­tags und abends.” (S. 63) Wie sich die “barm­her­zi­gen” Nonnen beim täg­li­chen Nacktwaschen der jun­gen Mädchen auf­geil­ten, das ver­bie­tet sich hier wie­der­zu­ge­ben.

Um so schlim­mer muß daher das Geschehen in der DDR geschil­dert wer­den, frei­lich ohne jeg­lich Beleg, aber mit immer haar­sträu­ben­de­ren Behauptungen. Allertz führt hier einige Beispiele aus bun­des­deut­schen Medien an.

Und er fragt, warum es die­sen aktu­el­len Schub bei der Dämonisierung und Kriminalisierung der DDR gibt. Er stellt auch die Frage, warum es keine sachlich-fachliche Auseinandersetzung zum Thema gibt, an der sowohl west- als auch ost­deut­sche Pädagogen betei­ligt sein müß­ten.

Zusammenfassend ist sagen, daß Allertz die Ausstellung der Torgauer Gedenkstätte kei­nes­falls in Bausch und Bogen ver­dammt, denn er schreibt auch die­ses: “Selbst Hinweise auf die schänd­li­che Praxis in west­deut­schen Heimen und ande­ren Ländern fin­den sich dort. Man kann also nicht behaup­ten, die­ses him­mel­schrei­ende Unrecht werde ver­schwie­gen und die Ausstellungszuständigen mach­ten sich der Einseitigkeit schul­dig. Gleichwohl merkt man die ein­sei­tige Botschaft, die dem­ago­gi­sche Absicht, die allem zugrunde liegt, und ist darum ver­stimmt. (…) Die Aussteller arbei­ten pla­ka­tiv mit Emotionen und nicht mit politisch-historischen Zusammenhängen. Ihnen ging es weni­ger um Aufklärung, son­dern um Verurteilung, nicht um Komplexität, son­dern um Individualität. Und damit sind sie ahis­to­risch. Mitunter sind halbe Wahrheiten eben ganze Lügen.” (S. 93).

Es geht aus Sicht des Rezensenten beim Dokumentieren der schlim­men Zustände in kirch­li­chen west­deut­schen Heimen aber nicht so sehr um Objektivität, son­dern wohl eher um diese Suggerierung: “Wenn in der demo­kra­ti­schen Bundesrepublik schon solch Schlimmes üblich war, dann muß es bei den bösen Kommunisten doch noch viel, viel schlim­mer gewe­sen sein…” Denn natür­lich haben Heime in der DDR grund­sätz­lich als rechts­staats­wid­rig zu gel­ten, west­deut­sche Quälereien dage­gen nicht; zumal das ja angeb­lich nur Entgleisungen ein­zel­ner Kleriker seien.

Robert Allertz: Der Jugendwerkhof in Torgau. 96 S. brosch. Spotless in der edi­tion ost. Berlin 2012. kos­ten­lo­ser Bezug bei www.buchredaktion.de

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]

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