Ein blühender Apfelbaum

Von Hillebel

Als Reinhard eine Vernissage besucht, flammt leidenschaftliche Liebe zwischen ihm und Betty, der Malerin, auf. Er bittet seine Frau Ute, die ihn und die Kinder verliess, um die Scheidung. Aber Ute besinnt sich und kehrt zu ihm zurück …
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Reinhard trat auf die Strasse und sah auf die Uhr. Die Besprechung mit seinem Kunden hatte sich als einfacher erwiesen als angenommen. Ihm blieb noch genügend Zeit vor seinem Rückflug nach Hamburg, um einen Bummel über den Kurfürstendamm zu machen. Auf dem kurzen Weg dahin kam er an einer Gemäldegalerie vorbei - und blieb wie angenagelt stehen. Diese zarten und dennoch eindringlichen Farben, mit denen die Blumenpracht eines Gartens gemalt war, erinnerte ihn an ein grossformatiges Bild in seinem Wohnzimmer, einen von der Morgensonne beschienenen Apfelbaum auf einer Wiese, dessen Zweige sich unter der Last der Blüten fast bis zur Erde neigten. Es brauchte kaum die Bestätigung von Bettys schwungvoller Signatur, damit er wusste, dass es ihre Bilder waren, die in dieser bekannten Galerie ausgestellt waren.
Betty! Er sah sie so lebendig vor sich, als sei es gestern gewesen. Ihre üppige Haarpracht, ihr schönes, ausdrucksvolles Gesicht. Er glaubte, die Wärme ihres Körpers zu spüren, wenn sie sich an ihn lehnte, um aus ein paar Schritten Entfernung mit schiefgelegtem Kopf das Bild zu betrachten, an dem sie gerade arbeitete.
Ohne nachzudenken betrat er die Galerie. Eine Frau mittleren Alters kam ihm entgegen und fragte lächelnd, ob sie ihm behilflich sein könnte.
“Würden Sie so freundlich sein und mir die Adresse der Künstlerin mitteilen?” Seine Stimme war rauh, so bewegt war er.
Die Frau zögerte. Man sah ihr an, dass sie dem hochgewachsenen Mann mit den blauen Augen, der so sympathisch wirkte, gern den Gefallen getan hätte, aber dann schüttelte sie den Kopf: “Das ist leider nicht möglich. Bitte, haben Sie Verständnis dafür. Wenn Sie dagegen eine Nachricht hinterlassen möchten, werden wir sie gern übermitteln.” Hilfsbereit schob sie ihm ein Blatt Papier, einen Kugelschreiber und einen Umschlag zu.
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Im Haus war es still. Die zwanzigjährige Julia studierte in München, Malte verbrachte ein Jahr in Amerika bei seiner Mutter. Reinhard hatte sich ein Glas Whisky eingeschenkt und betrachtete Bettys Apfelbaum. Er war mit seinen Gedanken allein. Seinen Gedanken und der Vergangenheit …
Zehn Jahre war es schon her. Es war das erste Mal, dass er zu einer Vernissage ging, einfach weil ihm das Bild auf der Einladung - ein stiller, schilfbewachsener Teich - so gut gefallen hatte. Das nette au-pair-Mädchen, das sich um die Kinder kümmerte, hatte seinen freien Tag gehabt, also hatte er Julia und Malte, damals zehn und neun Jahre alt, mitgenommen.
Es war ein warmer Sommerabend gewesen. In der kleinen Galerie hatte eine wohltuend herzliche und heitere Atmosphäre geherrscht. Er hatte sich auf den ersten Blick in den blühenden Apfelbaum verliebt und das Bild kurzentschlossen gekauft.
Die Galeriebesitzerin hatte ihn daraufhin mit der Künstlerin bekannt machen wollen: “Elisabeth Krüger. Herr …”
“Erwaldt. Reinhard Erwaldt”, hatte er lächelnd ausgeholfen. Er hatte der jungen Malerin gesagt, wie sehr ihre Bilder ihn beeindruckten. Betty hatte ihm mit einem bezaubernden Lächeln für das Kompliment gedankt und sich dann den Kindern zugewandt, die sich sichtlich langweilten: “Möchtet ihr zwei mir helfen, die Gäste zu bewirten?” Die beiden waren sofort Feuer und Flamme gewesen. Sie waren Bettys Charme genauso erlegen wie ihr Vater.
Ein paar Tage später hatte Reinhard Betty zum Essen ausgeführt. Er hatte ihr viel mehr über seine Ehe erzählt, als es eigentlich seine Art war: “Ute und ich haben uns während des Studiums kennengelernt und sehr schnell geheiratet. Auch die Kinder kamen sehr schnell. Es waren Wunschkinder. Wir lebten wie viele Studenten-Ehepaare, bemühten uns, alles unter einen Hut zu bekommen. Aber als Julia und Malte sieben und sechs Jahre alt waren, verspürte Ute plötzlich das Bedüfnis auszubrechen. Sie überliess mir die Kinder und ging nach Amerika. Scheiden lassen wollte sie sich nicht, sie bat mich, Geduld zu haben. Das ist jetzt drei Jahre her. Wir stehen locker in Verbindung. Also”, schloss er ernst, “ich bin verheiratet, aber seit drei Jahren nur auf dem Papier.”
“Lieben Sie Ihre Frau noch?” hatte Betty gefragt.
“Ich weiss es nicht. Weiss es nicht mehr. Vielleicht haben wir zu früh geheiratet, aus den falschen Gründen …”
Später hatte er sie im Wagen nach Hause gebracht, und sie hatte ihn zu einem Espresso in ihre kleine Atelierwohnung eingeladen. Ihre Hände fanden sich, dann ihre Lippen, und eine Woge von Liebe und Leidenschaft hatte sie davongetragen …
Betty verbrachte immer mehr Zeit mit Reinhard und den Kindern im schönen Erwaldtschen Familienhaus. Julia und Malte vergötterten sie. Und dann gab es wie ein Geschenk Reinhards und ihre Liebe zueinander. In dieser Zeit entstanden wunderbare Bilder. Betty malte jeden Winkel des grossen Gartens. Im Winter die hohen Bäume mit ihren kahlen Ästen, im Frühling den von Krokusblüten übersähten Rasen; die Malven und Sonnenblumen im Sommer und die leuchtenden Gelb- und Rottöne des Herbstes. Sie malte auch die Kinder. Jedem von ihnen schenkte sie ein Bild. Sie hingen noch in ihren Zimmern. Ute hatte genau so wenig daran gerührt wie an dem Apfelbaum.
Denn Ute war zurückgekommen. Reinhard hatte ihr von Betty geschrieben und sie um die Scheidung gebeten. Als Antwort kündigte sie ihre Rückkehr an.
Er wollte sie anrufen und ihr sagen, dass es zu spät sei, aber Betty hatte ihn davon abgehalten. “Ute ist Julias und Maltes Mutter. Es ist an mir, zu gehen.”
“Aber sie hat die Kinder verlassen! Du bist es, die sich in den letzten beiden Jahren um sie gekümmert hat. Ich liebe dich. Die Kinder lieben dich auch!”
“Ihr werden mir auch fehlen”, hatte sie mit Tränen in den Augen geantwortet, “aber ich wusste von Anfang an, dass du verheiratet bist.”
Betty hatte all ihre Sachen und ihre Bilder mitgenommen. Nur die beiden Porträts der Kinder und der blühende Apfelbaum blieben zurück.
Ute hatte die drei Gemälde lange betrachtet. Schliesslich hatte sie genickt: “Sie gefallen mir.”
Dann nahm sie energisch alles wieder in die Hand: die Kinder, Reinhard, das Haus, den Garten. Sie wuchsen wieder zu einer Familie zusammen, aber tief in Reinhard blieb die Sehnsucht nach Betty zurück.Einmal kam er an ihrer Atelierwohnung vorbei. Das Verlangen, sie wiederzusehen, wurde übermächtig. Er läutete. Ein unbekannter junger Mann öffnete ihm. Er wusste nicht, wo die Vormieterin hingezogen war …
Vor einem Jahr war Malte volljährig geworden. Ute hatte liebevoll eine grosse Party für die Familie und die zahlreichen Freunde ihres Sohnes vorbereitet. Am Tag nach der Party hatte sie Reinhard und den Kindern angekündigt, dass sie nach Amerika zurückginge. Später, als Reinhard und sie allein waren, sagte sie ihm, dass sie jetzt mit der Scheidung einverstanden wäre, wenn er es wünschte.
Die Scheidung war seit einigen Wochen perfekt. Er war frei.
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Betty malte in ihrem Garten, als der Postbote am Zaun erschien: “Post für Sie, Frau Krüger!”
Sie nahm die drei Briefe entgegen. Einer von ihnen trug als Absender die Galerie in Berlin, in der sie gerade ausstellte. Rasch öffnete sie den Umschlag und zog das Blatt heraus. Das Herz stockte ihr, als sie Reinhards Schrift erkannte. Er schrieb ihr, dass er frei sei, dass er sie noch immer liebe. Und er fragte sie, ob er sie besuchen dürfe.
Alles Blut wich aus ihrem Gesicht. Zu spät, hämmerte es in ihrem Kopf. In diesem Augenblick klappte die Gartenpforte. Eine warme Männerstimme rief fröhlich: “Für heute mache ich Schluss. Soll ich Flora vom Kindergarten abholen, Schatz?” Sie spürte Jans Arme um sich, sein Atem war wie eine Liebkosung an ihrem Ohr: “Ich bin so glücklich, dass du mir endlich dein Jawort gegeben hast”, flüsterte er.
Das war am Abend zuvor gewesen. Sie hatten gemeinsam die sechsjährige Flora zu Bett gebracht und noch ein Glas Wein in Bettys Garten getrunken. Sie wusste, dass er sie seit langem liebte. Sie erinnerte sich an ihre Ankunft vor sechseinhalb Jahren in diesem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide. Jan war sofort aus dem Nachbarhaus herüber gekommen und hatte gefragt, ob er ihr helfen könne. Er hatte die Möbel ins Haus getragen, hatte ihr geholfen, es neu zu streichen und den Garten in Ordnung zu bringen. Und sechs Monate später hatte er sie, als die Wehen einsetzten, in die Kreisstadt ins Krankenhaus gefahren. Vom ersten Tag an hatte er Flora als seine Tochter betrachtet. Sie hatte ihm von Reinhard, Floras Vater, erzählt. Sie wusste nicht, dass sie schwanger war, als sie ihn verliess. Sie wollte vor allem nicht, dass er es erfuhr. Deshalb war sie aus Hamburg fortgezogen, hatte sich hier dieses kleine Haus gekauft. In den folgenden Jahren hatten ihr Talent und ihr Fleiss sich ausgezahlt: Die grossen Galerien in Berlin, in Düsseldorf und Hamburg stellten jetzt ihre Bilder aus. Nun wollte sie endlich auch privat zur Ruhe kommen. Sie hatte gedacht, dass sie für sich keinen liebevolleren Mann und für Flora keinen besseren Vater finden könnte. Deshalb hatte sie Jan ihr Jawort gegeben. Jetzt raubte ihr das entsetzliche Gefühl, den grössten Irrtum ihres Lebens zu begehen, wenn sie Jan heiratete, fast den Atem. Aber sie konnte doch ihr Wort nicht zurücknehmen, das hatte Jan nicht verdient. Plötzlich drehte sich alles um sie …
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Als das Telefon klingelte, riss Reinhard den Hörer von der Gabel und meldete sich. Seit Tagen hoffte er auf den Anruf von Betty. Zu seiner Enttäuschung hörte er jetzt eine Männerstimme: “Könnte ich Sie sprechen, Herr Erwaldt? Mein Name ist Jan Henning. Es geht um Betty.”
“Wo sind Sie?”
“Ich stehe vor Ihrem Haus.”
“Ich komme”, erwiderte Reinhard kurz.
Er bat den Mann mit dem sympathischen Gesicht herein. Jan wollte nichts trinken. Nachdem er tief Atem geholt hatte, begann er, von Betty zu erzählen, von der kleinen Flora. Und dass Betty ihm endlich ihr Jawort gegeben hätte.
“Ich komme also zu spät.” Tiefe Verzweiflung spiegelte sich in Reinhards Zügen wieder.
“Es ist an Betty, das zu entscheiden.” Jans ruhiger Stimme waren die inneren Kämpfe, die er mit sich ausgefochten hatte, nicht anzuhören.
“Aber Sie haben ein Kind. Flora.”
“Flora ist Ihr Kind.”
Reinhard starrte ihn ungläubig an.
“Betty hat erst nach der Trennung von Ihnen gemerkt, dass sie schwanger war.”
Reinhard fühlte eine jähe Freude in sich aufsteigen, sofort gefolgt von einem fast unerträglichen Schmerz. Warum hatte Betty ihm nichts gesagt? Schwerfällig erwiderte er: “Ich nehme an, dass ich Ihnen zu danken habe, sich so selbstlos um Betty und Flora gekümmert zu haben.”
“Das brauchen Sie nicht. Es war keine Selbstlosigkeit, es war Liebe”, sagte Jan ehrlich. “Aber ich werde Betty nicht heiraten.”
“Wie soll ich das verstehen?”
“Ich bin nicht egoistisch genug, um das Leben mit einer Frau verbringen zu wollen, die einen anderen liebt. Betty hat nie aufgehört, Sie zu lieben, das weiss ich jetzt. Meinen Heiratsantrag hat sie nur aus Dankbarkeit - und vielleicht auch Zuneigung -angenommen.”
“Aber … woher wissen Sie von mir?”
“Betty hatte mir gleich am Anfang von Ihnen erzählt, und vor drei Tagen hat Sie Ihren Brief bekommen, den die Galerie ihr zugeschickt hat. Sie hielt ihn in der Hand, als ich von meinem Haus herüberkam, und plötzlich ist sie ohnmächtig geworden. Der Brief fiel zu Boden. Ich gestehe, dass ich ihn gelesen habe, ich wollte den Grund ihrer starken Gemütsbewegung wissen. Später haben wir darüber gesprochen.” Jan stand auf und reichte ihm die Hand: “Fahren Sie zu ihr. Ich übernachte heute bei Freunden hier in Hamburg.”
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Betty wunderte sich. Den ganzen Tag hatte sie Jan nicht zu Gesicht bekommen. Als sie Motorengeräusch hörte, ging sie beunruhigt in den Garten. Eine Autotür klappte. Jemand kam auf die Gartenpforte zu und rief ihren Namen.
Es war Reinhard! Sein Haar war etwas grau geworden, aber seine blauen Augen hatten die gleiche zwingende Gewalt wie früher. Wie kam er hierher? Was wollte er? Sie wollte ins Haus zurückflüchten, aber Reinhards Blick hielt sie fest, sie las alle Zärtlichkeit, alle Liebe der Welt in ihm. Langsam ging sie zur Pforte, öffnete sie, und dann lagen sie sich in den Armen und küssten sich selbstvergessen. Plötzlich riss sie sich los, stemmte beide Hände gegen seine Brust: “Es geht nicht, Reinhard”, stiess sie hervor. “Du musst wieder fortfahren. Bitte!”
Da erzählte er ihr von Jans Besuch, seinem grosszügigen Verzicht: “Alles wird gut werden Betty”, sagte er eindringlich, “vorausgesetzt, du willst mich noch.”
Ein kleines Mädchen kam aus dem Haus gelaufen. Als es den fremden Mann sah, blieb es wie angewurzelt stehen.
Reinhard ging in die Hocke und sagte leise: “Flora.” Das Kind und der Mann sahen sich an. Sie hatten die selben blauen Augen. Langsam kam Flora, die sonst Fremden gegenüber so scheu war, auf ihn zu und lachte ihn an.
“Flora, das ist dein Papa”, sagte Betty leise. “Du weisst doch, ich habe dir von ihm erzählt. Jetzt ist er da, und er bleibt bei uns.”
Reinhard nahm Flora behutsam hoch, und das Mädchen schlang die Arme um seinen Hals.
„Darf ich deine Mama küssen?“ fragte er.
Flora nickte ernst, und er küsste Betty zart auf die Lippen. Dann gab er Flora einen liebevollen kleinen Kuss auf die Wange und bemerkte jetzt erst, dass sie alle drei unter einem blühenden Apfelbaum standen …
ENDE