Spannende Romane, faszinierende Geschichten, Figuren, die sich den Leserinnen und Lesern einprägen – ohne die Möglichkeiten des Self-Publishing wären vielleicht viele literarische Schätze nach wie vor verborgen geblieben. Aber seit einigen Jahren ist die Auswahl jenseits der Verlagswerke größer geworden – und das interessante, breit gefächerte Angebot in Eigenregie publizierender Autoren wird, wie z.B. die Bestsellerlisten bei Amazon zeigen, mit Begeisterung angenommen. Einigen dieser Autorinnen und Autoren aus der Self-Publisher-Szene habe ich einen Fragenkatalog vorlegt. Ich fragte, was mich als Leser oder als Kollege interessierte. Diese so entstandenen „Interviews“ werde ich in loser Folge auf meinem Blog veröffentlichen.
Ich danke allen, die sich meinen Fragen gestellt haben und so allen Interessierten einen Blick hinter die Buchstaben ihrer Bücher gewähren.
Ralf Boscher
Heute zu Gast auf Boschers Blog: Florian Tietgen
Hallo Florian, schön, dass ich Dich auf meinem Blog begrüßen darf!
Hallo Ralf, schön, hier zu sein.
Um gleich einzusteigen: Was siehst Du als Deinen bisher größten schriftstellerischen Erfolg an?
Selbst, wenn es sich dort leider nicht gut verkauft, sehe ich es als größten Erfolg, wenigstens ein Buch bei Droemer Knaur untergebracht zu haben.
Wer ist Dir die liebste Figur in einem Deiner Romane oder in einer Deiner Geschichten?
Wer ist Dir die liebste von Dir nicht erschaffene Figur in einem Roman oder einer Geschichte?
Schwer zu sagen. Nach Kolja in Dostojewskis „Der Idiot“ habe ich mal einen Kater benannt, weil ich mich beim Lesen in ihn verliebt hatte, aber der Freiheitsdrang von Huck Finn berührt mich mindestens ebenso.
Der für Dich gelungenste erste Satz einer Deiner Geschichten?
„Ich habe mich vergessen – irgendwo zwischen aufkeimender Wut und glühendem Zorn habe ich mich stehen gelassen, während ich gelaufen bin – immer hinter ihm her.“
Wenn Du nicht Schriftsteller, sondern Musiker wärst – welche Musik würdest Du machen?
Ich hatte als junger Mann zwischen 17 und 25 ein paar Auftritte als Sänger, teilweise als Songwriter mit Gitarre, teilweise in einer Rockband. Hat beides Spaß gebracht. Im Moment arbeite ich gerade an einem Roman, für dessen Trailer ich vielleicht mal ein Lied aufnehmen und bei Youtube hochladen werde.
Was macht einen Menschen zum Schriftsteller? Das Schreiben oder das Gelesen werden? Oder…?
Ich weiß es nicht. Mich selbst sähe ich vielleicht als Schriftsteller, wenn endlich die Feuilletons der großen überregionalen Zeitungen von meinen Büchern schreiben. Und ich bin nicht sicher, ob ich dann endlich glaube, ein Schriftsteller zu sein. Für andere mag ich es nicht beurteilen. Ich hänge glaube ich noch an dem Gedanken, erst Schriftsteller zu sein, wenn ich davon leben kann. Aber das ist noch in weiter Ferne.
Deine Einschätzung: Ist es förderlicher für eine gute Schreibe, mit seiner schriftstellerischen Arbeit seine Brötchen zu verdienen oder einem anderen Brotberuf nachzugehen?
Es schadet nicht, andere Brotberufe zu kennen und ausprobiert zu haben. Es schadet auch nicht, geregelten Arbeitsalltag in allen Variationen über lange Zeit erfahren und gelebt zu haben, Respekt davor zu bekommen, wie viel Energie er raubt und wie viel Kraft vor allem für die Auseinandersetzungen darin verschwendet wird. Aber ich brauche diese Energie beim Schreiben wirklich für die Bücher und Geschichten. Ich muss das Schreiben eines Romans als Arbeit begreifen, für die ich mich von 8 bis 16 Uhr an den Schreibtisch setze, sicherlich ein paar kurze Pausen einlege, aber grundsätzlich dort auch bleibe und schreibe. Ich brauche diese Disziplin.
Von der Grundidee zur fertigen Geschichte: Ist das bei Dir ein gerade Weg oder passiert es Dir, dass Du Dich weit von der Grundidee entfernst?
Es kann passieren, dass die Geschichte mich in eine andere Richtung lenkt und drängt. Und da ich mich als deren Diener betrachte, ist es ratsam, ab und zu auf die Geschichte zu hören.
Welcher Art sind die Szenen, die für Dich die größten Herausforderungen stellen?
Actionszenen, Prügeleien, Schießereien. Alles, was mit viel Tempo zu tun hat. Da muss ich enorm aufpassen, dass es schnell wird, Spannung enthält und sich vor allem die Körperteile nicht selbstständig machen.
Was bereitet Dir die größte Freude beim Schreiben?
Eine Szene beendet zu haben, die ich als anstrengend empfinde. Oder wenn ich an einem Text nach einem Jahr immer noch kaum etwas auszusetzen habe. Wenn ich zwischen lauter Kompromissen plötzlich das Wort entdecke, das auf den Punkt trifft. Aber grundsätzlich hat Schreiben für mich weniger mit Freude als mit Notwendigkeit zu tun.
Der für Dich wertvollste Schreibtipp, den Du erhalten hast?
Den wertvollsten Tipp gibt es glaube ich nicht. Oft wünschte ich mir, es hätte schon sehr viel früher diesen Austausch gegeben, von dem junge Menschen heute profitieren können. Wertvoll waren für mich am Ende die Tipps, durch die ich mich zu Beginn am stärksten in meiner künstlerischen Gestaltung beschnitten sah. Und für immer eingebrannt hat sich die Aussage in einem ganz alten und in der Gestaltung altmodischem Schreibratgeber: “Natürliche Sprache ist der Feind der Natürlichkeit.” Das war auf Theaterstücke und Drehbücher bezogen und es war gemeint, dass gerade in Dialogen, die geschrieben wären, wie man spricht, dem Schauspieler die Möglichkeit fehlt, über die Satzmelodie authentisches Gefühl zu entwickeln. Aber das lässt sich auch wunderbar in Romanen beobachten, wie abgehackt und hart „natürliche“ Dialoge oft wirken und wie unnatürlich das dadurch tatsächlich beim Lesen oder beim Vorlesen wirkt.
Manchmal noch Papier und Stift? Oder nur noch Schreiben am Rechner?
Gedichte und Liedtexte meist eher noch mit Stift und Papier, Prosa nur noch am Rechner.
Welches Schreibprogramm nutzt Du?
Auch, wenn es mir Schläge einbringt, ich schreibe mit Word und möchte auch nichts anderes.
Schreibzeiten: Wann schreibst Du? Schreibst Du an festgelegten Uhrzeiten oder setzt Du Dir zum Beispiel pro Tag eine Zeichenmenge?
Ich bin ein morgenkreativer Mensch. Wenn ich bis 9 nicht angefangen habe, schreibe ich den Tag kaum noch etwas.
Wie viel Zeit verwendest Du am Tag für das Marketing? Und welche Kanäle nutzt Du für die Werbung?
Oh, die Frage hätte ich beinahe übersehen. Ich mag kein Marketing, nutze zwar ein bisschen g+ und Facebook dazu, aber ungern. Den Bereich würde ich, so ich es mir leisten könnte, sofort outsourcen. Ich kann mich da einfach nicht überwinden, weil es mir auch andersherum auf die Nerven geht. Jede Facebook-Einladung, eine Seite mit „gefällt mir“ zu markieren, nervt mich, macht mich manchmal sogar richtig wütend.
Die „Thomas Mann“-Frage: Du schreibst, Deine Frau oder Freundin kommt herein oder ein guter Freund ruft an oder Dein Kind möchte etwas von Dir wissen – verbittest Du Dir die Störung, weil Du schreibst, oder lässt Du Dich auf die „Planänderung“ ein?
Wer mich mit dem Telefon aus einer Geschichte reißt, denkt, ich habe sie nicht alle. Ich reagiere dann wortkarg und geistesabwesend. Aber ich lasse mich auf Planänderungen ein. Auch, wenn ich je nachdem, wer mich zu was ruft, ab und an darüber richtig derbe schimpfe.
Die „Charles Bukowski“-Frage: Hältst Du Alkohol für eine sinnvolle Stimulanz beim Schreiben?
Ich habe das Glück, den Geschmack von Alkohol nicht zu mögen, insofern stellt sich die Frage nicht. Früher habe ich beim Schreiben viel geraucht. Inzwischen bin ich Nichtraucher und habe immer wieder das Gefühl, seitdem brauche ich noch länger.
Du gehst schlafen, liegst bereits im Bett, das Licht ist aus – da kommt Dir eine Schreibidee in den Kopf: Stehst Du auf und notierst Dir die Idee?
Ich notiere es in der Form nur, wenn mir nachts auffällt, dass eine Stelle so, wie ich sie geschrieben habe, nicht funktioniert, weil ihr ein Denkfehler zugrunde liegt. Aber Ideen, die ich am nächsten Morgen vergessen habe, waren es auch nicht wert, festgehalten zu werden.
Hast Du mit einer Geschichte abgeschlossen, wenn Du unter sie ein „Ende“ gesetzt hast?
Ich habe noch niemals „Ende“ unter eine Geschichte geschrieben. Vielleicht habe ich auch deshalb so selten mit einer Geschichte wirklich abgeschlossen?
Vielen Dank Florian, dass Du Dir die Zeit genommen hast, diesen „Blick hinter die Buchstaben“ zu ermöglichen!
Als Autor beschäftige ich mich mit der Seele des Menschen, mit den Auswirkungen, die ungewöhnliche und traumatisierende Ereignisse auf das Weiterleben haben (Quelle).
Tietgen sagt von sich: „Das Glas halb voll betrachtet, steckt in meinem Lebenslauf viel Erfahrung. Erfahrung, die ein Leben auf feste Beine stellt“ (Quelle), Erfahrungen als Briefzusteller, Lebensmittel- und Getränkehändler, Bäcker, Lastkraftfahrer, Supporter und Tester für Software… (Quelle). Erfahrungen als „Schauspieler, Inspizient, Regieassistent […] (Quelle), Erfahrungen, die in seine Schreibe einfließen: „Dabei helfen der Blick auf das Alltägliche und die Fähigkeit, wie ein Schauspieler zu schreiben, sich also in die Rolle eines Protagonisten zu versetzen, sie zu fühlen und aus ihr heraus die Geschichte zu entwickeln. (Quelle)
Seit 2003 veröffentlicht Florian Tietgen Geschichten und Bücher, vor allem Gesellschaftsromane und Bücher, die sich an Jugendliche richten.
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