“Hin und wieder begegne ich ihr im Supermarkt”, sagte meine Mutter. “Sie geht aufrecht, schaut sich kaum um, als kämpfe sie trotzig gegen die ganze Welt an.” Ich wusste nicht, ob diese Beschreibung Bewunderung ausdrücken sollte, aber sie tat mir weh. “Die Leute bilden eine Gasse und lassen sie an der Kasse vor, sie wird immer als erste bedient”, fuhr meine Mutter fort, und mein ungutes Gefühl verstärkte sich. “Mit lauter, durchdringender Stimme sagt sie dann: “Ich bin Mevlyde Genç!””, sagte meine Mutter schließlich. In diesen wenigen Sätzen kommt jener Zwiespalt zum Ausdruck, der meine Heimatstadt Solingen bis heute prägt. Seit 25 Jahren gibt es diese Mischung aus Scham, der Bewunderung für die Familie Genç und dem Wunsch, nicht allein Schuld zu sein an diesem schrecklichen Anschlag, der fünf Frauen und Mädchen das Leben kostete, heute vor 25 Jahren, am 29. Mai 1993.
Ich war nicht in Solingen an diesem Pfingstwochenende 1993, als 4 Jugendliche und junge Erwachsene in der Nacht zum Pfingstsamstag das Haus in der unteren Wernerstraße 81, das von 2 türkischen Familien bewohnt wurde, anzündeten und damit 5 Menschen ermordeten und 14 zum Teil lebensgefährlich und lebenslang verletzten. Ich lebte damals schon in Marburg und hörte den ganzen Tag kein Radio. Ich lebte damals mitten in einer Depression nach dem Tode meines Bruders vor einem Jahr, und ich nahm nur sehr selten an den Angelegenheiten der Welt teil. Es war ein heißer Tag, und ich hatte Kopfschmerzen. Als ich am frühen Abend den hessischen Rundfunk einschaltete, hörte ich die Stimme des Chefredakteurs unseres solinger Lokalradios Radio RSG, Jörg Bertram, der kurz zusammenfasste, was bislang bekannt war. 5 Menschen waren einem rechtsradikalen Anschlag in Solingen zum Opfer gefallen, die ganze Republik war geschockt, ein Täter war bislang gefasst. Ich war fassungslos und stellte mir die bange Frage, ob ich persönlich wohl einen der Täter kannte? Denn anders als es in jenen Tagen oft behauptet wurde, hatte Solingen damals eine recht große faschistische Jugendcommunity, zu der auch entfernte Mitglieder meiner Familie gehörten. Die älteren Semester mochten mehrheitlich SPD wählen, aber an Schulen in Ohligs und rund um das Bärenloch, in dessen Nähe der Anschlag stattgefunden hatte, gab es recht große rechtsradikale Gruppen. Und jetzt hatten sie Menschen umgebracht. – Es dauerte eine ganze Weile, bis ich allein diese Tatsache verarbeitete.
Damals gab es viele ausländerfeindliche Anschläge in Deutschland, und die Politik reagierte darauf, indem sie im Grundgesetz das Grundrecht auf Asyl massiv einschränkte. Es war aber im Gegensatz zu heute auch eine Zeit, in der die demokratische Mehrheitsgesellschaft in Form von Lichterketten und Rock-gegen-Rechts-Konzerten ihre Meinung deutlich sicht- und hörbar machte. So hoffte ich denn auch, in Solingen werde die Bevölkerung ein Zeichen setzen, um zu zeigen, wie abscheulich dieses Verbrechen war. Das hat nur teilweise funktioniert.
Für mich war mit dem Entsetzen über diese Bluttat die Sache aber nicht beendet. Als ich erfuhr, dass am Pfingstmontag, dem 31. Mai 1993, ein Benefiz-Konzert stattfinden sollte, auf dem bis zu 50.000 Menschen erwartet wurden, beschloss ich spontan, ebenfalls nach Solingen zu fahren. Zusammen mit einer Freundin wollte ich mich auf den Weg machen. Wir waren beide vollblind, und ich kannte mich in der solinger Innenstadt nicht besonders gut aus, also wollte ich meinen Cousin fragen, ob er Lust habe, mit uns zu kommen. Doch meine Tante blockte meine Bitte ab: “Wir wollen damit nichts zu tun haben, da wird es bestimmt Randale geben”, erklärte sie. Mein Onkel war Polizist und versuchte immer, seine Familie aus allem herauszuhalten, was auch nur irgendwie nach Politik aussah, aber es steckte auch eine sehr konservative Einstellung dahinter. Stattdessen machte sich meine Tante Sorgen, wie wir als Blinde mit dem Zug nach Solingen kommen würden, wir sollten das doch lassen. Das quittierte ich nur mit einem Lachen. Zugfahren gehörte für mich nun wirklich zum Alltag.
Also machten Mirien, meine Freundin, und ich uns allein auf den Weg. Wir wussten nicht, was uns erwartete.
Leider hatten sich in Solingen nach den ersten Solidaritätskundgebungen die Ereignisse zugespitzt: Wütende türkische Mitbürger, einige davon in organisierten rechten Gruppen wie den grauen Wölfen, lieferten sich kleinere Scharmützel mit der Polizei, mit deutschen Autonomen und mit kurdischen Aktivisten. Die Wut kochte hoch, und der Konflikt um die Kurden in der Türkei, die PKK und die Unterdrückung ihres Freiheitskampfes schlugen bis nach Solingen durch. Es hatte in der ersten Nacht nach dem Brandanschlag einige Randalierer und einige Plünderungen gegeben, und die Stimmung war gereizt und gespannt, wie Jörg Bertram immer wieder berichtete.
In dieser Stimmung kamen wir am Montag Mittag auf dem ohligser Bahnhof an und fuhren in die Innenstadt. Schon an der Bushaltestelle am Bahnhof war es voll. Hinter uns unterhielten sich einige Männer: “Da sind zwei Blinde. Unverantwortlich, die auf die Straße zu lassen, wo sind denn deren Betreuer?” Ich war zu verletzt und wütend, um ihnen zu antworten. Als wir in den Bus stiegen, sagte eine Stimme, die ich zu kennen glaubte: “Stört euch nicht dran, die sind hier immer so.” Durch einen unglaublichen Zufall hatte ich einen alten Schulkameraden getroffen, der in Solingen bei den Stadtwerken arbeitete und nach hause fuhr. “Das ist der letzte Bus”, erklärte er, “dann wird alles eingestellt. Sie erwarten Probleme.”
Der Bus war voll und fuhr nur bis zum Mühlenplatz, dort stiegen alle aus. Wir schlossen uns dem Strom der Menschen an, der uns sicher zum Konzertgelände führte. Es war ein heißer Tag, wir standen in der prallen Sonne, und eine richtige Stimmung kam nicht auf. Statt der 50.000 erwarteten Besucher waren es vielleicht 15.000, die das Areal nicht ganz füllten. Vorne an der Bühne drängten sie sich, aber wir weiter hinten hatten viel Platz.
Es hätte ein recht ereignisloser Nachmittag werden können: Die Musik war nichts Besonderes, aber wir zeigten Solidarität und waren mit vollem Herzen dabei. Doch plötzlich erscholl eine Durchsage von der Bühne her: “Jens Bertrams wird dringend gebeten, zur Bühne zu kommen.” Ich bekam einen riesigen Schreck. Was mochte geschehen sein, dass man mich öffentlich ausrief? Wer wusste, dass ich hier war? Alle möglichen Dinge schossen mir durch den Kopf: War meiner Mutter etwas passiert?
Mühsam kämpften wir uns durch die dichter werdende Menschenmenge bis zur Bühne vor. Es war wirklich schwierig, obwohl die Menschen uns halfen, doch es war voll, und ich habe in dicht gedrängten Menschenmassen seit meinen heftigen Erlebnissen am Tag der deutschen Einheit große Probleme. Schließlich schafften wir es, und da stand meine Tante und hielt den Fortgang des Konzerts auf. Sie wolle nur wissen, dass wir heil in Solingen angekommen seien, weil wir ja schließlich blind seien. Das habe ihr keine Ruhe gelassen, drum sei sie extra gekommen, obwohl sie 40 Grad Fieber habe. Mir fiel nichts mehr zu sagen ein. All das war so absolut widersinnig, dass ich nur den Kopf schütteln konnte. Ihrem Sohn, der immerhin schon 22 war, wollte sie nicht erlauben, uns zu begleiten. Sie traute uns nicht zu, selbstständig in einen Zug zu steigen und ihn am richtigen Bahnhof wieder zu verlassen, aber in einer durch und durch verknoteten Menschenmenge zur Bühne zu finden, schien sie uns doch zuzutrauen. Das war schließlich auch, was ich ihr sagte: “Es war leicht, mit dem Zug nach Solingen zu kommen. Schwer war nur, dich hier an der Bühne zu treffen.” Sie verstand mich nicht und zog ab.
Das Konzert war für uns gelaufen. Nach der Begegnung mit meiner Tante waren wir gedrückter Stimmung. Am Schluss verkündete man, es werde eine Solidaritätsdemonstration zum Tatort geben, und wir überlegten, ob wir uns anschließen sollten. Es war der Moment, an dem in der Ferne die ersten aggressiven Sprechchöre zu hören waren. Wieder schlossen wir uns dem Strom von Menschen an, der das Gelände verließ.
Und dann fanden wir uns unmittelbar in bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen wieder. Der Übergang kam so schnell, dass wir es kaum fassen konnten. Wir gingen, glaube ich, die kölner Straße hinunter, der Menschenstrom hatte sich aufzulösen begonnen. Plötzlich kam uns eine Frau entgegen und sagte: “Da vorne werfen sie mit Steinen!” Langsam, uns immer an der Häuserwand haltend, gingen wir weiter. Dann hörten wir vor uns Gebrüll, das Laufen von Füßen, und dann schlug ein Stein recht nahe bei uns auf die Straße auf.
Von da an hörte das Schreien, das Klatschen von Steinen auf die Straße, auf die Motorhauben von Autos oder an die Häuserwände, das Splittern von Glas, das Intonieren unverständlicher Sprechchöre und Wutschreie nicht mehr auf. Ein paar Trillerpfeifen waren zu hören, eine größer werdende Menschenmenge sammelte sich vor uns an der Kreuzung, und auch hinter uns drängten Randalierer nach. Es roch beißend nach Feuer und Rauch. Das war der Zeitpunkt, zu dem ich Angst bekam. Die Steine flogen jetzt von hinten und von vorn, aber außer uns gab es noch andere Menschen, die an der Wand Schutz suchten. Plötzlich sagte einer: “Da hat eine Pizzeria offen”, und zog uns hinein. Hinter uns wurde die Tür verschlossen und verriegelt.
Erst viel später habe ich darüber nachgedacht, wie traurig und beschämend es war, dass ein solches Zeichen der Solidarität für sinnlose Gewalt missbraucht wurde. Die Solinger, die tatsächlich ursprünglich hatten helfen wollen, mussten nun ihre Türen verbarrikadieren. Das hat sie in der Folgezeit wütend gemacht. “Die Türken und Kurden und die blöden Randalierer, die von außen kamen, haben das Verhältnis zwischen uns und den Türken hier in der Stadt zu vergiften versucht”, sagte meine Mutter später immer und fügte hinzu: “Aber bei uns in der Siedlung ist ihnen das nicht gelungen.”
Über all das dachte ich viel später nach, jetzt war ich erst einmal froh, in einem Haus zu sein. Andererseits war die Eingangsfront aus Glas, und natürlich konnten Steine fliegen. Der Laden war abgeschlossen worden, wir wurden mit Essen und Getränken versorgt und konnten so lange bleiben, bis sich draußen alles beruhigt hatte. Doch das Radio sagte uns, dass es sich nicht beruhigte. Die Innenstadt wurde abgesperrt, zig Verletzte hatte es gegeben, Straßenschlachten waren in vollem Gange. Wir hörten das Brüllen, das Glas und die Pfeifen und Rufe in unserer Nähe, wir steckten mittendrin. Niemand verließ in den kommenden 5 Stunden das Lokal, die Tür blieb verschlossen. Im Radio verkündete man, die GSG9 sei in der Stadt. Und ich versuchte, meinen Herzschlag unter Kontrolle zu bringen.
Gegen halb 10 Uhr abends verließen wir die Pizzeria und fuhren im Taxi zu meiner Mutter. Einige Straßen waren wieder freigegeben, die Krawalle für den Abend abgeflaut, in der Nacht wurden Plünderungen und Zusammenstöße erwartet.
Meine Mutter hatte die Pfingsttage in unserem Ferienhäuschen in den Niederlanden verbracht und war erst eine Stunde vor uns angekommen. Sie freute sich natürlich, dass es uns gut ging. Hier am Stadtrand, am Berghang über der Wupper mit Blick auf die Müngstener Brücke und die auf dem gegenüberliegenden Hang liegende Stadt Remscheid, hörte man nichts von den Krawallen. In unserer Stadtrandsiedlung herrschte Ruhe. Demonstrativ grüßten sich Türken und Deutsche freundlich, verurteilten gemeinsam den Anschlag, trafen sich in Grüppchen auf den engen Straßen ohne Bürgersteig und sprachen lange miteinander.
Doch dies alles geschah tagsüber. Jetzt, am Abend, herrschte fast gespenstische Stille. Hubschrauber mit Suchscheinwerfern kreisten am Himmel, ob von der Presse, der Polizei oder der GSG9, konnten wir nicht feststellen. Die Nacht war von ihrem Lärm erfüllt, sie kreisten auch über unserer dunklen, stillen Siedlung. Die halbe Nacht hörten wir Radio und verfolgten die weiteren Krawalle, hörten die Polizeisirenen in weiter Ferne und lauschten dem Knattern der Hubschrauber.
“Fast wie im Krieg, wenn man auf die Bomber wartete”, erzählte meine Mutter und fügte hinzu: “Die Innenstadt sieht auch schrecklich aus.”
Die Krawalle, die Wut, die Gewalt, all das hat das Klima in Solingen zerstört. Hinzu kam die herbe Versöhnungspolitik der Mevlyde Genç, die in der Stadt blieb, an ihrem Leben aber nicht teilhaben konnte, weil das Trauma sie bis heute verfolgt. Die Schande, die Scham, die Schuld, die in der Stadt verblieben, die nicht einfach verschwanden, haben die unterschiedlichsten Reaktionen hervorgerufen. Ich höre mit Schmerzen immer wieder meine Mutter über Mevlyde Genç sprechen.
Inzwischen habe ich meiner Heimatstadt größtenteils den Rücken gekehrt. Ich weiß nicht, wie die Stimmung heute ist. Ich weiß nur, dass ich teilweise dieselbe Verdrängung und Schuldumkehr beobachtet habe, wie es sie nach dem zweiten Weltkrieg gegeben hat. Fragen wie die, ob Frau Genç im Supermarkt eine Vorzugsbehandlung erhält, können da plötzlich sehr wichtig werden und die Volksseele hochkochen lassen. All das nur, damit man nicht der grauenhaften Fratze von Menschenhass, Faschismus und Rassismus ins Auge schauen muss.
Es stimmt: Solange meine Mutter lebte, haben die meisten Deutschen in unserer Stadtrandsiedlung ein freundliches Verhältnis zu unseren türkischen Mitbewohnern gepflegt. Ob das heute noch so ist, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass schon zu Beginn des Jahrtausends die Spannungen zugenommen haben. Meistens ging es dabei um junge, türkische Mädchen, die in aller Öffentlichkeit versuchten, sich gegen ihre strengen Eltern durchzusetzen und die Sympathie der deutschen Nachbarn genossen. Trotzdem: Der Hass lässt sich wohl nie ganz ausrotten, auch wenn tapfere Menschen wie Mevlyde Genç es mit aller Kraft, Entschlossenheit und Geduld versuchen.
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