Die Vorderseite des Buches
Ihr Lieben,
in den letzten Tagen haben mich etliche Nachrichten und E-Mails erreicht, in denen mir liebe Menschen schrieben: "Lieber Werner, ich möchte gerne Dein Buch DAS ESELSKIND bestellen, ich würde aber gerne vorher einmal ein Probekapitel lesen.
Diesem Wunsch komme ich gerne nach und veröffentliche hier ein Kapitel aus meinem Buch DAS ESELKIND. Es ist eines der Kapitel, die zeigen, dass aus mir trotz aller schlimmen Erlebnisse ein fröhlicher Mensch wurde:
Gott Bacchus und die Dichterhöhle
„Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben, intensiv leben wollte ich,das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten, was nicht Leben war,damit ich nicht in der Todesstunde innewürde, dass ich gar nicht gelebt hatte.“
Henry David Thoreau
In meiner Studienzeit in Göttingen wurde eine besonders schöne Tradition begründet, die auch heute noch dort gepflegt wird. Immer pünktlich zur Nikolauszeit wurde in etlichen Hörsälen der Universität der Film „Die Feuerzangenbowle“ mit Heinz Rühmann gezeigt. Diese Filmabende gehören zu meinen schönsten Erinnerungen an meine Studienzeit. Die Erlebnisse des Dr. Pfeiffer, der, als Schüler verkleidet, noch einmal eine Schule besucht, haben uns Studenten damals zu Lachstürmen hingerissen. Besonders von der „alkoholischen Gärung“ zeigten wir uns sehr angetan.
Auch in der Gegenwart haben sich zahlreiche Kino- und Fernsehfilme in humorvoller und auch in ernster Auseinandersetzung mit dem Thema Schule beschäftigt.
Ein Film hat in diesem Zusammenhang ganz besonderes Aufsehen erregt und zwar der Film „Der Club der toten Dichter“. Der Film handelt von dem Lehrer Keating und seinen Schülern an einer sehr traditionsbewussten Schule. Lehrer Keating handelt anders als seine Kollegen. Er lässt sich von seinen Schülern mit „O Käpten, mein Käpten!“ anreden, er zelebriert Gedichte auf eine wundervolle künstlerische Art und Weise, er fordert seine Schüler nachdrücklich dazu auf, ein seiner Meinung nach unbrauchbares Kapitel zur Lyrik, nach dem sich der Wert von Gedichten mittels eines Koordinatensystems ermitteln lässt, aus ihren Büchern herauszureißen, er ermutigt sie zu selbstständigem Denken und er versucht, ihnen in der Eingangshalle vor den Bildern ehemaliger Absolventen eine neue, eine zukunftsgerichtete eigenständige Lebensphilosophie zu vermitteln: „Carpe Diem! Nutze den Tag! Macht etwas Außergewöhnliches aus Eurem Leben!“. Um den Schülern die Vorteile des möglichen Perspektivenwechsels zu verdeutlichen, fordert er sie auf, einzeln auf das Pult des Lehrers zu steigen und somit den Klassenraum aus einem anderen, einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Der Schüler Neil begreift den Wert dieser Prinzipien für die Schüler in besonderer Tiefe und verinnerlicht sie besonders stark und er entdeckt in einem alten Jahrbuch der Schule, dass der Lehrer Keating in seiner Schulzeit Mitglied im ‚Club der toten Dichter’ gewesen ist, einem „Geheimbund“, dessen Mitglieder sich in nächtlichen Sitzungen in einer Höhle fremde oder selbst geschriebene Gedichte vorlasen. Sie verstanden sich als glühende Romantiker mit dem erklärten Ziel, „das Mark des Lebens in sich aufzusaugen“.
Ich hatte das große Glück, ja fast möchte ich sagen, mir widerfuhr die große Gnade, dass wir in unserer Abitur-Abschlussklasse einen ähnlich engagierten Lehrer hatten wie Mister Keating, unseren engagierten Klassenlehrer, Herrn Bohn.
Wir trafen uns allerdings nicht in schummrigen Höhlen und auch nicht verbotenerweise, sondern unsere Dichterhöhle war der Bremer Ratskeller und hier insbesondere der dortige „Bacchuskeller“. Dieser Keller war unser bevorzugter wöchentlicher Treffpunkt und für uns ein Ort der geistigen Inspiration und des weinseligen Glücks. Dort verbanden wir das Nützliche und Ernsthafte, die Beschäftigung mit der Literatur, mit dem Angenehmen und Betörenden, der „alkoholischen Gärung“. Jede Woche trafen wir uns dort regelmäßig am späten Nachmittag zu unserer kreativen Literaturarbeits-gemeinschaft. Dazu waren alle Schüler und Schülerinnen unserer Klasse, aber auch deren Freunde und Freundinnen herzlich eingeladen.
In einer Ecke des großen Kellers, der sogenannten Schatzkammer, richteten wir mit emsiger Sorgfalt und steter Liebe zum Detail eine kleine provisorische Bühne ein, auf der wechselweise Gedichte, - eigene und klassische -, vorgetragen und kleine Theaterstücke aufgeführt wurden. Wichtig war bei den Aufführungen auf dieser kleinen improvisierten Bühne, dass jeder aus unserer Klasse seinen ureigensten Gefühlen freien Lauf lassen konnte, seinen eigenen inneren Intentionen nachgeben konnte und sich in den kleinen Theaterstücken oder beim Vortragen der Gedichte selbst verwirklichen konnte.
Und während wir den Gedichten lauschten und uns den Theaterstücken hingaben, genossen wir das ritterliche, deftige Essen und durch unsere Kehlen rann aus schweren Pokalen mancher Liter süßen Rotweins, der uns zu Kopf stieg, aber auch die Zunge löste und so manche innere Hemmungen beseitigte, was unserem Theaterspielen und den Gedichtakklamationen sehr zugute kam.
Je weiter die Stunde des Tages fortschritt, desto mehr wechselten wir von klassischen Gedichten zu Liebesoden und von klassischen Theaterstücken zu eigenen Improvisationen, indem wir freudetrunken und weinselig vor allem unsere eigenen Freundinnen anbeteten.
Bunte Kleider unserer Schwestern, die nicht mehr gebraucht wurden, dienten uns als Theaterstaffage, als Verkleidung für unsere kleinen Aufführungen. Andere Schüler brachten weiße Bettlaken von Zuhause mit, die uns, kühn um die männlichen Schultern geworfen, als römische Toga dienten, um alsbald klassische Gedichte zu deklamieren.
„Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande, ihn schlugen die Häscher in Bande. Was willst du mit dem Dolche, sprich, entgegnet ihm finster der Wüterich. Die Stadt vom Tyrannen befreien, das sollst du am Kreuze bereuen. Ich bin, spricht jener, zu sterben bereit...“ Friedrich Schillers Bürgschaft war eines, ja vielleicht sogar das Lieblingsgedicht in unserer Abiturklasse.
Unsere damaliger Deutschlehrer, Herr Udo Bohn, unterstützte unsere tiefe Leidenschaft für die Lyrik und das Theater, wo immer er konnte. Herr Bohn war ein sehr guter Deutschlehrer, der uns ungewöhnlich viel beigebracht hat und auch immer ein offenes Ohr für unsere eigenen, oft wirren Gedanken und widerstrebenden Vorstellungen besaß. Er öffnete uns helle Türen zum Verständnis der Lyrik und offenbarte uns die zeitlose Schönheit, die tiefen Gefühle und feine Erotik der Liebesgedichte.
Eines Tages, ganz unerwartet, brachte er uns ein längeres Gedicht des noch lebenden Dichters Markus Enzensberger mit. Wir Schüler bekamen nun von ihm die knifflige und unser ganzes erworbenes Wissen fordernde Aufgabe, über dieses Gedicht eine gründliche Analyse und inhaltliche Interpretation zu schreiben und dabei all das anzuwenden, was wir in den letzten Jahren im Deutsch-Unterricht dazu gelernt hatten.
Jeder von uns Schülern und Schülerinnen nahm zu Hause das Gedicht „auseinander“. Wir analysierten allein und in Gruppenarbeit sehr gründlich, was der Dichter mit diesem und jenem Worte habe aussagen und vor allem als Botschaft habe verkündigen wollen. Wir untersuchten ebenso genau, warum dieses oder jenes Wort an welcher Stelle mit welcher Absicht stand und jeder von uns brachte zum Schluss zu Papier, was der hehre Dichter seiner Meinung nach mit dem Gedicht habe aussagen wollen.
Nach 14 Tagen intensiver Beschäftigung mit dem Gedicht trugen wir unsere Ergebnisse zusammen und in einem besonderen Workshop an einem Samstagabend in dem Bacchuskeller tauschten wir uns über unsere Ergebnisse gegenseitig aus. Als Krönung des Workshops trug anschließend unser Deutschlehrer seine Ergebnisse über das auch von ihm analysierte Gedicht vor.
Das Besondere war nun dies: Der noch lebende Dichter Markus Enzensberger war wenige Wochen später in Bremen zu Besuch, weshalb unser Lehrer vorausschauend gerade ihn für diese unsere Interpretation ausgewählt hatte und es gelang unserem Deutschlehrer dank seines freundlichen Wesens und seiner Überzeugungskraft, Herrn Enzensberger in den Bacchuskeller einzuladen und unser Gast zu sein.
Wir waren auf seinen Besuch so gespannt wie ein Flitzebogen und warteten nun ungeduldig darauf, was er zu unseren, sorgsam und mit viel Mühe und in mancher Nacht ausgearbeiteten Interpretationen sagen würde.
Wir trugen ihm, um ihn nicht über Gebühr zu langweilen und seine Geduld zu strapazieren, sehr gerafft all unsere Ergebnisse und Interpretationen vor, - zuerst wir Schüler, zuletzt unser Deutschlehrer -, und wir harrten nun voll Spannung, die wie Elektrizität in der Luft knisterte, darauf, was Herr Enzensberger nun äußern würde, vor allem hofften wir, nun zu hören, was er sich denn nun bei seinem Gedicht gedacht hatte. Und so hingen wir wie gebannt an seinen Lippen und lauschten jedem Worte, das sich aus seinem Munde stahl.
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still, so fast andächtig waren alle Schüler in Erwartung dessen, was uns der Dichter Enzensberger zu sagen hatte.
Herr Enzensberger hatte ein sehr freundliches, gütig wirkendes Gesicht und er blickte hin und her in die Runde und sein milder, leicht lächelnder Blick wanderte mehrere Sekunden, die sich für mich fast zu halben Ewigkeiten dehnten, über die Köpfe von uns Schülern und Schülerinnen hin.
Endlich entspannte sich sein nachdenkliches Gesicht und es huschte ein feines Lächeln über sein Gesicht und voll innerer Spannung hörten wir ihn sagen:
„Liebe junge Freunde, es tut mir unendlich leid, ich habe mir bei dem Gedicht gar nichts gedacht, es ist mir an einem wunderschönen stillen Sommerabend einfach nur so aus der Feder geflossen.“
Ich sehe es noch, als wäre es gerade erst gestern gewesen, wie im Kopf eines jeden Schülers, einer jeden Schülerin und auch unseres Lehrers die hehren Gedankengebäude unserer „klugen“ Interpretationen zusammenstürzten und auf dem harten Boden der Wirklichkeit zerschellten.
Erst begann ein Schüler leise zu lachen, dann ein zweiter etwas lauter, dann eine Schülerin, dann eine zweite...,– das Lachen breitete sich immer weiter aus wie eine mächtige Woge und erfasste die ganze Klasse, den Dichter und unseren Lehrer, wälzte sich aus der Schatzkammer durch den Bacchuskeller und entlud sich in einem gewaltigen Lachdonner auf dem angrenzenden Marktplatz und zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich, was man unter einem „Homerischen Gelächter“ verstand.
Wir lachten und es grenzte fast an ein Wunder, dass der Ratskeller und mit ihm das altehrwürdige Rathaus nicht einstürzten wie die Mauern von Jericho.
Es war ein herrlich befreiendes Lachen.
Die Rückseite des Buches