1901 erblickt in Brooklyn die kleine Frances Nolan das Licht der Welt. Ein Jahr später folgt Bruder Neeley. Ihre Eltern Katie und Johnny sind jung, viel zu jung! Sie geben ihr Bestes, doch die Zeiten sind schlecht und immer ist zu wenig Geld da. Deswegen erzählt aber Ein Baum wächst in Brooklyn keine düstere Geschichte. Traurige Szenen kommentiert die Autorin mit lustigen, manchmal sarkastischen Worten und findet insgesamt einen sehr stimmungsvollen, einen heiteren Ton. Und genau so beginnt diese Geschichte: “Heiter” war ein Wort, das auf Brooklyn, New York, passte. Zumal im Sommer 1912 … zumal an einem Samstagnachmittag im Sommer. Am Spätnachmittag schien die Sonne schräg in den vermoosten Garten, der zu Francie Nolans Haus gehörte (Seite 9).
Hier sitzt Francie gern. Mit Blick auf diesen Baum. Auf dem Schoß ein Buch und unter dem Po einen kleinen Teppich, außerdem – für die Bequemlichkeit – ein Sitzkissen im Rücken. Sie nennt das ihre Feuerleiterlesezeit. Vorher war sie noch schnell in der kleinen schäbigen Bücherei mit der mürrischen Bibliothekarin. Francie liebt den Bücherduft, dieses Gemisch aus abgewetzten Ledereinbänden und Bücherkleister. Sie will alle Bücher lesen, die sich dort in den Regalen befinden. In alphabetischer Reihenfolge.
Dass das kleine Mädchen eine solche Liebe zu den Büchern entwickelt, hat sie ihrer Großmutter zu verdanken, welche der 18-jährigen Katie empfohlen hatte, der Tochter täglich vorzulesen. Damit das Kind später kein allzu hartes Leben hätte. Das Geheimnis läge im Lesen und Schreiben.
Doch geht es in diesem Roman nicht ausschließlich um die bücherbegeisterte Francie, sondern um das von Armut und Entbehrung geprägte Leben der kleinen Familie Nolan in Williamsburg. Betty Smith erzählt von harter Fabrikarbeit. Vom Sparen jeden Pennies. Und von dem bunten Gemenge in den Brooklyner Gassen und Strassen, wo alle eng beieinander wohnen. Iren, Juden, Italiener, Chinesen …
So nimmt dieser, im Original 1943, erschienene Roman mich mit auf eine kleine Zeitreise. Auf eine ganz spezielle und wundervolle Zeitreise. Gefühlt ist hier alles Schwarz-Weiß wie auf alten Postkarten. Die alten Gassen, die Pferdekutschen, der Hudson –
Diese Bilder aus dem alten New York wirken sehr authentisch, und das liegt sicher daran, dass die Autorin das, was sie beschreibt, erlebt hat. Die Erfahrungen ihrer Kindheit müssen denen von Frances sehr ähnlich gewesen sein. Betty Smith ist 1896 geboren und aufgewachsen als Tochter deutscher Immigranten in Brooklyn. Deshalb fühle ich mich beim Lesen an Romane wie Glasglocke von Sylvia Plath und Carol. Salz und sein Preis von Patricia Highsmith erinnert. Auch diese beiden Autorinnen schreiben in der Zeit, in der sie leben. Bücher wie diese haben eben einen ganz eigenen Zauber und Glanz.
Dank der großartigen Neuübersetzung von Eike Schönfeld, in welcher sich moderne Sprache und alter Stil vermischen, liest sich Ein Baum wächst in Brooklyn großartig und bleibt ein unvergessliches Leseerlebnis.
Als die mittlerweile 18-jährige Francie am Ende der Story im Haus gegenüber ein kleines lesendes Mädchen auf einer Feuertreppe entdeckt und leise ein paar Worte flüstert (die ich hier nicht verrate), da möchte ich sofort zurück gehen zum ersten Satz. Möchte erneut den Zauber dieser Geschichte spüren, welcher sich ganz langsam entfaltet, dann aber mit Wucht. Bis zum letzten großartigen Satz.
Betty Smith. Ein Baum wächst in Brooklyn. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Insel Verlag. Berlin 2017. 622 Seiten. 25 €