In diesen Tagen zeigt sich der Weltöffentlichkeit ein anderes Pakistan als üblicherweise. Weltweit bekannt sind die ständig wiederkehrenden Bilder eines fanatischen islamischen Mobs, der randalierend durch die Straßen zieht, Zerstörungen anrichtet, Andersdenkende bedroht und gewalttätig angreift, Bilder islamischer Terroristen, die Bomben explodieren lassen und Attentate verüben.
Ein Kommentar von Walter Otte
Malala Yousufzai
Nun sieht man die Bilder eines anderen Pakistans: Menschen aller Gesellschaftsschichten, Schüler und vor allem Schülerinnen, aber auch fromme Muslims und verschleierte Frauen, die gegen die terroristischen Taliban protestieren und den Mordversuch an der 14-jährigen Malala Youfsani verurteilen. Mit Slogans wie „Malala – wir sind bei Dir.“ ziehen Mädchen im Alter von 14/15 Jahren durch die Straßen, Schulkinder demonstrieren mit Bildern der Schülerin. In den Moscheen wird für das Leben und die Genesung des Mädchens gebetet. Allein in Karachi demonstrierten am Wochenende mehrere 10.000 Menschen für Malala, die als „Friedenbotschafterin des Swat-Tals“ landesweit gerühmt wird, und gegen den religiösen Terror.
Die Wut auf die religiösen Fundamentalisten hat einen landesweiten Proteststurm ausgelöst, der von Kinderrechtlern und Frauenrechtlerinnen bis tief in religiöse Kreise hineinreicht. Der Versuch, ein junges Mädchen zu ermorden, ist auch nach muslimisch-religiöser Auffassung ein schweres Verbrechen.
Auf Malala war am Dienstag der letzten Woche auf dem Heimweg von der Schule gezielt von einem Attentäter geschossen worden; seitdem befindet sich das Mädchen schwer verletzt im Krankenhaus, wo ihr – nach einem Kopfdurchschuss – in einem mehrstündigen Eingriff eine Kugel aus dem Bereich der Halswirbelsäule entfernt werden musste. Mittlerweile soll sich ihr Zustand stabilisiert haben, sie muss aber weiter künstlich beatmet werden; ob sie das Bewusstsein wiedererlangt hat, ist öffentlich nicht bekannt.
Die Taliban, die unmittelbar nach der Tat die Verantwortung für den feigen Mordanschlag übernommen hatten, haben bereits angekündigt, sollte das Mädchen wieder gesunden, erneut gegen sie vorzugehen, um sie zu töten. Für die religiös-fundamentalistischen Taliban, die bekanntlich in Afghanistan bereits ein mehrjähriges Terrorregime ausgeübt haben, ist Malaba ein „Symbol der westlichen Kultur“, die sie – gegen den Islam – propagiere; wer – so ein Sprecher der Fundamentalisten – gegen den Islam sei, müsse nach islamischem Recht getötet werden. Deshalb bleibe Malaba, wie auch ihre Familie, weiterhin auf der Taliban-Zielliste und werde getötet werden. Das Vorgehen gegen Malaba solle auch als Warnung an alle anderen jungen Menschen verstanden werden, die ähnliche Ziele verfolgten wie die Schülerin.
Die todeswürdigen „Verbrechen“ der Schülerin bestehen darin, dass sie seit ihrem 11. Lebensjahr ihr Recht und das Recht aller anderen Mädchen, eine Schulausbildung zu erhalten, verteidigt und propagiert hat. Malala, im Swat-Tal lebend, begann im Internet (zunächst anonym) nach der Schließung der Schulen für Mädchen durch die Taliban im Jahr 2009 über die Verbrechen der Taliban zu berichten und trat auch nach der Befreiung des Swat-Tals durch die pakistanische Armee mit ihren Forderungen für das Recht auf Bildung von Mädchen landesweit öffentlich auf. Bereits damals wurde sie von den Taliban gewarnt, sie solle besser schweigen. Als sie im Dezember 2011 den damals erstmalig verliehenen Friedenspreis der pakistanischen Regierung erhielt, wurde sie von den religiösen Fundamentalisten auf deren Todesliste gesetzt.
Die fanatischen Fundamentalisten wollen jeden aus dem Wege räumen, der den von ihnen verkündeten „Gotteslehren“ nicht folgen will und sich ihren kruden Anordnungen widersetzt, dabei machen sie auch vor Minderjährigen nicht halt. Dem fanatischen Männerbund ist insbesondere die Schulausbildung von Mädchen ein Dorn im Auge. Ziel der pakistanischen Taliban ist ebenso wie das ihrer afghanischen Glaubensgenossen, politische Verhältnisse durch Gewalt- und Terrorakte herbeizuführen, unter denen dann Mädchen jegliche Bildung verwehrt wird. Bislang ist es ihnen gelungen, in einigen Teilen Pakistans etwa 200 Schulen zu zerstören.
Die abscheuliche Tat der Gotteskrieger hat erhebliche Proteste in Pakistan hervorgerufen, die in den letzten Tagen angehalten haben, und mit denen die Mordgesellen womöglich nicht gerechnet haben. Proteste und Demonstrationen für Menschenrechte, für die Bildung von Mädchen, gegen den Terror selbsternannter religiöser Besserwisser: das zeigt, dass entgegen den bislang in den Medien immer wieder vermittelten Eindrücken aus diesem Land durchaus ein anderes Pakistan, ein humanes, ein auf Wissensvermittlung und Ausbildung auch für Mädchen gerichtetes, ein an individuellen Rechten und Chancen orientiertes, existiert. Und dass eine Gesellschaft vorhanden ist, deren Mitglieder nach den Werten der allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechte leben wollen, auch wenn ihr Wollen teilweise in religiösen Begriffen formuliert wird.
Diese Kräfte dürfen von Humanisten und Säkularen in den westlichen Staaten nicht allein gelassen werden. Es ist nötig, dass in den demokratischen Staaten des Westens die Differenziertheit der pakistanischen Gesellschaft zur Kenntnis genommen und nicht weiter ein einseitiges Bild Pakistans (als Hort fanatischer Gotteskrieger und tumber Fanatiker) vermittelt wird. Zusammenarbeit mit den an den Menschenrechten orientierten Kräften und ihre Unterstützung ist angesagt. Immer nur dann zu reagieren, wenn ein islamistischer Mob gegen die in provokatorischer Absicht von fundamenta- listischen Christen und westlichen Rassisten verbreiteten Videos und Slogans randaliert, ist falsch und könnte als kulturelle Überheblichkeit gewertet werden; ein Dialog auf gleicher Augenhöhe (auch mit religiösen Kräften, die die Menschenrechte bejahen) ist erforderlich, zumal um zu zeigen, dass man mit Fundamentalisten und Rassisten im Westen nichts gemein hat.
Zu hoffen ist, dass Malala Yousafzani möglichst bald wieder vollständig gesundet und zu ihrer Familie und zu ihren Freunden zurückkehren kann. Derzeit melden die Presseagenturen, dass möglicherwei- se eine weitere medizinische Behandlung außerhalb Pakistans erforderlich sein könnte, neben anderen Ländern wird als eventuelles Behandlungsland auch die Bundesrepublik Deutschland genannt. Nach letzten Berichten soll Malala in England medizinisch weiterbehandelt werden. Die Bundesregierung hätte, sollten diese Berichte zutreffen, es (mal wieder) versäumt, durch umgehende entsprechende Zusagen für eine Behandlung des Mädchens in Deutschlandals weltweit ein Zeichen dafür zu geben, dass dieses Land aus der Vergangenheit – als der Tod als ein Meister aus Deutschland bezeichnet wurde – gelernt hat, und heute in führender Position sich um Menschen kümmert, die wegen ihres Engagements für Menschenrechte der Hilfe bedürfen.
Seit einiger Zeit bereits ist Malala wegen ihrer Aktivitäten für den Internationalen Friedenspreis für Kinder nominiert. Dieser Preis wird jährlich von der KidsRights Foundation, einer internationalen in Amsterdam ansässigen Kinderhilfsorganisation vergeben. Eine Verleihung dieses Preises an Malala wäre eine Anerkennung ihres unermüdlichen und unerschrockenen Kampfes für die Rechte von Mädchen auf Bildung, den sie – im Kindesalter – trotz der Bedrohung mit ihrer Tötung immer fortgeführt hat, die Verleihung wäre ein Signal an die Feinde der Bildung von Mädchen, der Feinde von Frauen schlechthin, dass die zivilisierte Menschheit an der Seite von Kämpferinnen wie Malala steht. Die Verleihung dieses Preises wäre – jetzt nach dem Mordanschlag – zudem eine herausragende Würdigung des Martyriums von Malala Yousafzani.
Hierzulande sollte künftig genauer hingesehen werden, welche mädchenverachtenden , frauenverachtenden Vorstellungen von jenen propagiert werden, die als islamische Fundamentalisten die durch die demokratische Gesellschaft garantierten gestellten Rechte auf Meinungsfreiheit, auf Religionsfreiheit für ihre Ziele (aus-)nutzen. Und ihnen sollte unmissverständlich durch die Gesellschaft und den deutschen Staat klargemacht werden: keine (Meinungs-)Freiheit für die Feinde der Menschenrechte, keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!
Auffällig ist jedem Beobachter der Szenerie, dass plötzlich all jene von der Bildfläche verschwunden sind und offenbar ihre Stimme verloren haben, die in Deutschland vor wenigen Wochen noch meinten, wegen der „Beleidigung“ ihrer Religion durch ein primitives Video aus den USA auf die Straße gehen und lauthals protestieren zu müssen. Wenn es um das Leben eines jungen Mädchens geht, das seiner humanen Ziele wegen aus religiösen Gründen zu Tode gebracht werden soll, dann sind diese Leute stumm, dann tauchen sie ab, dann haben sie nichts zu sagen. Der Mordversuch an einem 14jährigen Kind aus religiösen Gründen und die schon jetzt angekündigte Ermordung nach der Genesung sind für sie kein Grund zu protestieren; es ist wie immer bei religiösen Fundamentalisten: der lebendige Mensch in den wenigen Jahrzehnten seiner Existenz ist für sie ohne Bedeutung – wichtig für sie sind allein ihre religiösen Vorstellungen, ihr eigenes Beleidigtsein, immer wenn andere ihre Auffassungen nicht teilen und ihnen widersprechen. Wichtig sind religiösen Fundamentalisten ausschließlich Formeln und Rituale, wie die deutsche Gesellschaft derzeit auch in anderem Zusammenhang zur Kenntnis zu nehmen gezwungen ist.
Der Zentralrat der Muslime in Deutschland schweigt zu dem Mordanschlag, er ist im Moment damit beschäftigt, sich darum zu kümmern, gegen die Menschenrechte von Kindern das archaische Ritual der Vorhautamputation bei Knaben zu verteidigen. Das ist ihm offenbar wichtiger. Die Kollegen Religionsfunktionäre von den anderen abrahamitischen Religionen schweigen ebenfalls, das mag verschiedene Gründe haben. Aber ihr jetziges Schweigen macht deutlich, was ihnen wichtig ist und was nicht.
Das letzte Wort jedoch soll nicht den menschenfeindlichen Fundamentalisten, sondern Malala Yousafzani gebühren, die jetzt um ihr Leben kämpft: alsbaldige vollständige Genesung und alles Gute für ihr weiteres Leben, das wünschen und hoffen weltweit alle, die für die Achtung der Menschenrechte eintreten, jetzt in Gedanken bei Malala sind und zu ihrem Engagement nur eines zu sagen vermögen: Danke.