Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Treffen mit dem Gesichtslosen. Er war anders als alle Traumgestalten, die ich bisher getroffen hatte. Nicht nur wegen seiner Gesichtslosigkeit. Auch andere Menschen waren gesichtslos, denen ich in meinen Träumen begegnete. Aber auch wenn sie gesichtslos waren, so kannte ich sie doch, oder wusste zumindest, dass ich sie kannte. Nicht so bei diesem Gesichtslosen. Er war ein völlig Unbekannter, so fremd, wie nur einer sein konnte, der aus einer anderen Welt stammte. Einer, der keine Verbindung zur Wirklichkeit hatte, einer der nur in den Träumen lebte.
Vorgestern traf ich ihn wieder unten am Fluss.
„Ich habe auf dich gewartet“, sprach mich der Gesichtslose an.
Etwas verkrampfte sich ihn mir. Es war nicht mein Magen oder ein anderes mehr oder weniger bekanntes Stück meines Körpers, es war vielmehr etwas in mir, das ich noch nicht kannte. Ein Traumorgan vielleicht. Ich war im höchsten Masse alarmiert.
„…du hast auf mich gewartet?“, fragte ich. „Wieso? Was willst du von mir?“
Er hustete, anstatt wir sofort zu antworten und ich fühlte mich von ihm gemustert. Ohne Zweifel, in diesem Nichtgesicht, hinter diesem blassen, verwaschenen Flecken, mussten zwei unsichtbare scharfe Augen sitzen, die mich beobachteten. Schließlich sagte er:
„Ich will nichts von dir, aber du willst etwas von mir.“
„Nicht, dass ich wüsste.“
Er schwieg wieder eine Weile. Die Stille war kaum auszuhalten, sie war wie ein Schatten, der meine Gedanken verdunkelte.
„Ich kann nicht länger dein Traumbegleiter sein.“
Der Schock saß tief und eine Weile war ich unfähig darauf zu antworten. Als meine Gedanken wieder klarer wurden, sagte ich:
„Du hast mich gut durch die Traumwelten geführt und warst immer ein gern lieber Begleiter, wieso lässt du mich jetzt alleine ziehen? Mit dir habe ich mich nie im Labyrinth der Träume verloren und bin immer wieder in der Wirklichkeit aufgewacht.“
„Aufgewacht bist du wohl. Doch warst du immer sicher, in der Wirklichkeit aufzuwachen? In der richtigen Wirklichkeit, in deiner eigenen und nicht in einer von unzähligen anderen? Und woher willst du wissen, dass du nicht einfach vom einen Traum in den anderen gegangen bist und dein Aufwachen nichts als Illusion war?“
Diese Fragen hatte ich mir schon selbst gestellt. Ein unheimliches Gefühl beschlich mich. Dieser Traum war kein gewöhnlicher, vielleicht gar nicht mein eigener. Es wurde höchste Zeit, aufzuwachen. Ich konzentrierte mich, dachte an mein Schlafzimmer, an meine Katze, die sicher bereits auf ihr Futter wartete und mir deswegen schon bald in den großen Zeh beißen würde. Ich schlug die Augen auf.
Nichts geschah, der Gesichtlose war immer noch da, genauso wie der breite Fluss, der sich unergründlich dunkel und träge einem Meer im Nirgendwo zuwälzte.
„Du kannst noch nicht aufwachen“, sagte der Gesichtslose. „Denn du hast noch nicht akzeptiert, in Zukunft alleine unterwegs zu sein.“
Er hatte Recht. Ich hatte diese Nachricht verdrängt. Genauso wie die Katzen nicht wahrnehmen wollten, was ihnen nicht in den Kram passte.
Ich setzte mich konsterniert ins Gras der Uferböschung. Der Gesichtslose setzte sich wie selbstverständlich neben mich. Ich bemerkte, dass er Jeans und Sandalen trug. Seine nackten Füße sahen aus wie die meinen. Also doch ein Teil von mir? Geboren aus meinem Unterbewusstsein? Meine Gedanken begannen sich wieder zu verknoten.
Der Gesichtslose kramte in seiner braunen, abgewetzten Jacke und zog eine Packung Zigaretten hervor. Ich schaute ihm zu, wie er sich drei Zigaretten aufs Mal in sein Nichtgesicht steckte und wie sie sofort zu glimmen anfingen. Hatte er nicht vor einiger Zeit das Rauchen aufgegeben? Immerhin steckte er sich nicht mehr die ganze Packung in den Mund.
„Ich bin Parallelraucher“, sagte er, als wüsste ich das nicht. „Es ist intensiver und weniger anstrengend als das Kettenrauchen.“
Ich blickte auf seine Hände. Wie sehr sie doch meinen ähnelten.
„Ich kann nicht mit dir kommen. Dein Leben gehört der Wirklichkeit und wenn ich dich weiter begleite, entfernst du dich immer mehr von ihr, bis du eines Tages nicht mehr zurückfindest.“
„Du bist nichts als eine Traumgestalt und sobald ich aufwache, hörst du auf zu existieren.“ Ich sagte es wie eine Beschwörungsformel, in der heimlichen Hoffnung, dass er sich samt dem Fluss in Nichts auflösen würde. Ich wollte zurück in meine Welt.
Meine Welt?
Er zuckte die Schultern und sog unbeeindruckt an seinen Zigaretten. Aus seinem Nichtsgesicht löste sich ein großer Rauchkringel und trieb über den Fluss. Er schien nicht vergehen zu wollen. Ob er das andere Ufer erreichen würde?
„Wirst du mich ein letztes Mal begleiten?“, fragte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
„Ja, wohin du auch willst. Hier am Fluss oder oben in den Bergen. Es ist dein Traum. Doch morgen werde ich nicht mehr da sein.“
„Ich möchte, dass du mich in die Wirklichkeit begleitest.“
Ich spürte einen leichten Schmerz in meinem rechten großen Zeh. Meine Katze, dieser fette nimmersatte Psychokater, hatte mich gebissen. Mit einem sanften Fusstritt beförderte ich ihn aus dem Bett.
Die Wirklichkeit schien mir an diesem Morgen so konkret wie immer. Misstrauisch beobachtete ich die Katze beim Fressen. Der Hund des Nachbarn bellte wie immer, und auch der Regen war so nass, wie er sein sollte. Ob ich dem Gesichtslosen nächste Nacht tatsächlich nicht mehr begegnen würde? Ob er in meinem Traum weiter existierten würde, wenn ich ihm nie mehr begegnete? Was er wohl den ganzen Tag über tat, wenn ich mich im Geschäft in die Buchhaltung vertiefte?
„Buchhaltung?“ Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Wirklichkeit. Ich war doch kein Buchhalter. Oder war ich immer einer gewesen, ohne es zu wissen? Und überhaupt: sollte es nicht Winter sein? Verwirrt starrte ich auf die Kühe auf dem Feld mit den blühenden Kirschbäumen jenseits des Gartens.
„Gefällt dir diese Wirklichkeit“, hörte ich eine Stimme aus der Küche.
Der Papagei draußen lebt immer noch und seine Stimme ist auch nicht erkältet. Der Winter scheint ihm in dieser Wirklichkeit zu gefallen. Euer Traumperlentaucher