Ein Abend unter Piraten, Teil 3: Nachklapp

Von Stefan Sasse
Von Martin Eitzenberger, Vorsitzender der Piratenpartei Stuttgart:
Daten
Die Fälle der U-Bahn-Schläger sind ein gutes Beispiel. Die Täter wurden nämlich nicht anhand der Videoaufzeichnungen identifiziert, sondern aufgrund der darauf folgenden schnellen Reaktion der Polizei. Auf den Videos konnte man die Täter nichtmal zweifelsfrei identifizieren. Aus philosophischer Sicht sollten wir uns die Frage stellen: Wollen wir, dass sich jemand "richtig" verhält, weil er keine Wahl hat, oder wollen wir, dass sich Menschen aus eigenem Antrieb heraus "richtig" verhalten? ... Typisches Erziehungsbeispiel: Wer zu hause zu gut behütet ist (unter der allumfassenden Kontrolle seiner Eltern steht), der hat später im Leben eher Schwierigkeiten mit eigenverantwortlichem Handeln, als jemand, der die Chance erhält, die Dinge selbst richtig zu machen, mit dem Risiko eben Fehler zu begehen - und aus diesen Fehlern zu lernen. Die andere philosophische Frage ist: Wollen wir uns hier ein wenig gefühlte Sicherheit auf kosten der Freiheit erkaufen? Da keule ich ganz gerne: Totalitäre Regime treffen auch viel zügiger politische Entscheidungen, allerdings auf Kosten der Freiheit. Dieses Bewusstsein fehlt im Bezug auf moderne Technologien noch bei den meisten Menschen, da diese noch relativ neu sind und großflächiger Missbrauch v.a. noch außerhalb des Wahrnehmungshorizontes der Menschen stattfindet (etwa in China). Natürlich könnte die Polizei mehr leisten, wenn sie etwa jederzeit anlasslos und ohne weiteres die Wohnung von jedem insgeheim durchsuchen könnte, man denke etwa an Drogendelikte. Hier hat man allerdings bereits historische Erfahrungen. Unsere Sorge ist es, dass uns diese Lernkurve bei modernen Technologien erst noch bevor steht, wenn wir nicht frühzeitig deren Einsatz zum Eingriff in die Privatsphäre der Menschen zumindest angemessen regulieren.
Die Piratenpartei sollte nicht auf aus unserer Sicht richtige und wichtige Positionen verzichten, nur weil es bequemer wäre und uns besser verkauft. Da holen wir uns doch lieber eine blutige Nase. Anderenfalls hätten wir jetzt ein Zugangserschwerungsgesetz. Wir haben uns viele blutige Nasen geholt und mussten uns offen als Kinderfeinde oder schlimmeres beschimpfen lassen... Manchmal zahlt man eben einen harten Preis dafür, dass man zu einer richtigen Position steht.
Liberal:
Programmatisch geprochen sind wir Gegner planwirtschaftlicher Ansätze, wie sie etwa die LINKE in Form groß angelegter Verstaatlichungen indirekt wieder fordert, halten aber auch den Laissez-faire-Ansatz der FDP für falsch. Unternehmen müssen die Freiheit haben, gut zu sein, dürfen aber nicht die Freiheit haben, die Gesellschaft "aufzufressen", wie das z.B. im Finanz-Sektor der Fall ist. Wo die ausufernde Freiheit einer Gruppe einen derartigen Impakt auf den Rest bzw. alle hat, da braucht es klare und zielgerichtete Regularien, die in offenem demokratischen Diskurs festgelegt werden. Ich verwende gerne den Ampelvergleich: Eine gute Ampel hindert uns nicht daran irgendwo hin zu fahren, sondern hindert uns daran, im Straßenverkehr in einer vermeidbaren Situation ums Leben zu kommen. Das ist glaube ich eine ganz gute abstrakte Beschreibung unserer Denkweise. In der Hinsicht ist die FDP nicht liberal, sondern handelt im Interesse derer die das größere und robustere Gefährt haben.
Was nicht bezahlt wird hat keinen Wert:
Die OpenSource-Szene beweist, dass es da nur an der richtigen Einstellung hapert. Meine Beiträge zu freier Software sind unbezahlt, aber keineswegs wertlos. In der Gesellschaft sind da aus historischen Gründen leider mitunter ganz andere Sichtweisen verankert, was aber auch in Teilen ein Kapitalismusproblem zu sein scheint.
Europa:
Da haben wir vor allem massive strukturelle Probleme. Die europäische Idee ist ja nicht falsch, nur weil die bestehenden Institutionen blöd gesagt unfähig sind. ;-)

Ein großer Teil des Förderwesens zum Beispiel leigt komplett im Argen. Die EU steckt Unsummen in die Förderung von Projekten in der Wirtschaft, ohne das eine wirksame Kontrolle über Art und Umfang der Ergebnisse oder die genaue Verwendung der Mittel stattfindet.
Da gibt es:
- Geheime Arbeitsgruppen, die unter kaum irgendwelcher Kontrolle stehen. ACTA und INDECT werden in solchen Arbeitsgruppen behandelt.- Ausschüsse die größtenteils von Lobbyisten besetzt sind. Wir formulieren hier aktuell bei den Piraten Stuttgart die Forderung, dass Ausschüsse nur durch Parlamentarier besetzt werden dürfen.- Ein gigantischer Beamtenapparat mit vergleichsweise geringem Arbeitsoutput- Eine Kommission, die von den Regierungen mit Politikern besetzt wird, die nie von irgendjemandem jemals gewählt worden sein müssen. Wir haben hier im Arbeitstreffen die Forderung formuliert, dass die Bildung der Kommission demokratischer gestaltet werden muss, idealerweise indem das EU-Parlament die Kommissare aus seiner Mitte wählt.
Eine knappe Zusammenfassung der Ergebnisse von dem Arbeitstreffen befinden sich hier unter (Europa- und Außenpolitik):http://www.piratenpartei-stuttgart.de/home/ergebnisse-des-programmatischen-arbeitstreffens-vom-22-oktober/
Vorgaben der Parteiführung:
Die Parteiführung hat programmatisch nichts zu sagen. Das Programm kommt aus der Basis. Sebastian Nerz äußert sich nicht umsonst so vorsichtig: Wir achten da sehr genau drauf, dass sich keine Elfenbeintürme bilden. Das langsame Abdriften der Grünen hin zu solchen Top-To-Bottom-Strukturen, wie sie es selbst kaum wahrnehmen, ist für uns eine wichtige Lektion, dass man da von vornehrein nicht aus Bequemlichkeit programmatische Kompetenzen auf Amtsträger oder einzelne Gremien konzentrieren darf. Wir haben z.B. massive programmatische Überschneidungen mit den jungen Grünen, allerdings werden deren Bestrebungen das in der Mutterpartei einzubringen seit Jahren durch die Bundespartei und den Bundesvorstand ausgebremst und von der Programmatik der Partei ferngehalten. Der Parteirat der Grünen war z.B. einst besonders auch als Kontrollgremium für den Bundesvorstand gedacht, mittlerweile ist diese Funktion schon alleine aufgrund personeller Überschneidungen der Gremien beinahe zum Witz verkommen :-(
Basisdemokratie:
Ob das alles so funktioniert, wie wir uns das vorstellen, wissen wir nicht. Aber wir sind bereit, es an uns selbst zu "testen" und finden, dass es das Wert ist. Auf dem Weg in die Zukunft werden wir da zweifellos in vielen Punkten scheitern, aber in anderen hoffentlich (ich glaube das zumindest) Konzepte erarbeiten, die das politische System grundlegend erneuern können. Es liegt aber auch an uns selbst, wie gut unsere Leistung da ausfallen wird.
Die Parteiführung trifft keine programmatischen Entscheidungen, sondern ist im Prinzip nur ausführend tätig. Ich halte mich z.B. als Vorstandsmitglied aus der Programmarbeit so gut es geht raus. Ich habe meine Themenbereiche wo ich mich wie jedes andere Mitglied einbringe, aber ansonsten unterstütze ich v.a. organisatorisch und sorge für eine möglichst breite Einbindung der Mitglieder. Das hat in der Vergangenheit immer gut funktioniert, und ich sehe nicht warum das in Zukunft plötzlich nicht mehr funktionieren sollte. Das ist eine Bringschuld der Amtsträger. Natürlich ist es bequemer, wie die CDU über Leitanträge des Vorstands zu "regieren". Das Richtige ist eben nicht immer das Bequeme ;-) ... Hier ist es wichtig, dass die Basis auch weiterhin stark und mächtig innerhalb der Partei ist, und sich von Funktionären nichts gefallen lässt. Aktuell haben wir da in meinen Augen noch keine Tendenzen dass sich daran was ändert, aber da müssen wir auch einfach dran bleiben und jetzt auch bei den Neuen dieses Bewusstsein schärfen. Wir sind in der Hinsicht aber ähnlich anfällig wie die Grünen: Offene Anträge von hohen Funktionären sind dort zwar zum Scheitern verurteilt, gleichzeitig dominieren aber recht fest etablierte Arbeitsgruppen und eben die Delegiertenstrukturen die programmatische Arbeit auf eine ähnliche Art. Man muss nur dran denken wie erfolgreich die Bundespartei innovative Konzepte der Jungen Grünen seit Jahren verhindert, und die Grünen jetzt rummaulen dass wir mit solchen Ideen scheinbar erfolgreich sind. Ob wir gegen ein solches Festfahren der Strukturen etwas machen können wird sich freilich noch zeigen.
Die Arbeit mit uns in Parlamenten wird unbequem. Ein Koalitionsvertrag ist kein Problem, würde mit uns aber anders aussehen, schon alleine weil wir eigentlich illegale Praktiken (siehe Artikel 38 GG) wie den Fraktionszwang ablehnen. Das macht die politische Arbeit für die Politiker schwieriger, aber ist das nicht Teil unseres Anspruches? Abgeordnete dürfen nicht mehr länger die Getriebenen sein. Dass das kein einfacher Weg wird, zeigt der Umgang v.a. von CDU und SPD mit s.g. "Abweichlern". Und wenn ein Koalitionspartner uns Bedingungen aufzwingen will, die wir nicht mittagen können, dann muss er sich halt einen anderen Koalitionspartner suchen. Man muss ja nicht mit aller Macht an der Macht sein. Für ihren offenen Wählerbetrug nur um an Macht zu kommen wurden z.B. die Grünen in Hamburg abgestraft (siehe z.B. Kohlekraftwerk Moorburg), ich hoffe sie lernen endlich daraus.
Man schließt einen Koalitionsvertrag, den unterzeichnen die Koalitionspartner. Wenn man bei vereinbarten Punkten anders stimmt ist das im Prinzip Vertragsbruch. Oft geht es bei den Abweichlern aber um aktuelle politische Themen, die im Koalitionsvertrag so nie abgestimmt waren. Warum sollte dann ein Abgeordneter seine Meinung einer Fremdmeinung unterordnen und ggf. gegen sein Gewissen entscheiden müssen? ... Wir favorisieren da einen Weg der freien Mehrheiten. Das macht die politische Arbeit zweifellos schwieriger und wird es erfordern, dass die Fraktionsvorsitzenden nicht nur verkünden wie abgestimmt werden soll (so ist es leider meistens), sondern tatsächliche Überzeugungsarbeit leisten müssen.
Es gab vor einigen Wochen einen bezeichnenden Beitrag bei Panorama, der das wiederspiegelt was ich von meinen Besuchen in Gemeinderäten kenne: Die Abgeordneten haben nur selten eine Ahnung, worüber sie überhaupt abstimmen. Nicht aus thematischen Gründen, sondern weil sie sich schlicht nicht damit befassen, weil es diese gewohnte Ordnung gibt. Sie stimmen meist einfach so, wie die Fraktion das vorgibt. Geh in ein beliebiges Parlament und frag nach der Sitzung die Abgeordneten worüber genau abgestimmt wurde und warum sie so gestimmt haben. Und dann wundert man sich was für Ergebnisse rauskommen wenn man das Parlament als reines Absegnungsorgan für die Regierungen und Ausschüsse betrachtet...
Liquid Democracy: 
Da haben wir vor allem gute Ideen, müssen diese aber größtenteils selber erst in konkrete Arbeitsweisen schmieden. Da gibt es viel theoretische Vorarbeit, aber im Prinzip sind wir die ersten, die das auch tatsächlich im größeren anwenden wollen. Es wird sich schon bei unserer parteiinternen Anwendung von LD zeigen, was an den Ideen gut ist und was in die Hose geht. In der Frage stehen wir im Prinzip am Anfang: Es gibt duzende Ideen und Initiativen, Tools, etc., aber das muss sich alles mal bewähren. In dem Punkt sind böse gesagt evolutionäre Prozesse bei uns im gange, das funktioniert durch die nicht vorhandenen Hierarchien ganz gut. Das Piratenpad hat sich z.B. auf die Art verbreitet. Das wurde zuerst von einer kleinen Gruppe genutzt und getragen, und hat aufgrund seiner Eigenschaften irgendwann alle ähnlichen Tools verdrängt. Mit LD wird es wahrscheinlich ähnlich laufen. Die Einführung per Parteitagsbeschluss und getragen durch einen Teil des Bundesvorstand bei Liquid Feedback war der beste Beweis dafür, dass derartige Prozesse bei uns eben nicht so gelenkt funktionieren wie bei den anderen Parteien. Am Ende kam beim letzten Parteitag mit dem "Liquidizer" etwa ein LD-Werkzeug zur Vorbereitung zum Einatz, dass zuvor auf eher evolutionärem Weg seine Verbreitung in der Partei gefunden hat.

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