Ein Abend unter Piraten, Teil 2: Let's talk specifics

Von Stefan Sasse

Ein Abend unter Piraten, Teil 2: Let's talk specifics

Sören-Frederic Fischer

Nachdem quasi der offizielle Teil des Stammtischabends bei den Piraten Stuttgart abgeschlossen war, hatte ich die Gelegenheit ein längeres Gespräch mit Sören, dem stellvertretenden Kreisverbandsvorsitzenden und Landtagskandidat 2011 zu führen. Unser Gespräch hangelte sich an einigen Themenblöcken entlang. Ich will im Folgenden meine Fragen an Sören und seine Antworten beschreiben und jeweils eine Analyse nachschieben. Die Antworten auf die Themen stellen dabei keine offizielle Stellungnahme der Piratenpartei dar, sondern sind als Privatmeinungen eines Piratenfunktionärs zu sehen - die sich, der Natur der Sache entsprechend, mit der Partei weitgehend decken, wo Beschlüsse von deren Basis bereits gefasst wurden. Genug der Vorrede; in medias res. 
Der erste Themenkomplex beschäftigte sich mit Sicherheitspolitik, besonders im Hinblick auf die Erhebung und Vernetzung von Daten. Was ich von Sören besonders gerne wissen wollte waren zwei Dinge: einerseits, wollen die Piraten tendenziell die Datenerhebung und -vernetzung generell unterbinden oder legen sie den Fokus eher auf stärkere Regulierung und Transparenz, und andererseits, wie entgegnen sie den greifbaren Erfolgen von flächendeckender Videoüberwachung etwa in den U-Bahn-Schläger-Fällen, wie sie ihnen sicherlich von Law&Order-Politikern entgegengehalten würden. Den Anspruch der Piraten, eine pragmatische und vernünftig vorgehende Partei zu sein, konnte man bei diesem Komplex besonders schön beobachten. Sören ging es bei diesem Thema besonders um das Hinzufügen von Kontrollrechten über Daten (Auskunftsrechte bestehen ja bereits). Im Klartext: der Bürger muss die Möglichkeit haben, die Löschung von über ihn gespeicherten Daten zu beantragen, es muss Fristenlösungen geben, so dass Daten nicht ewig gespeichert bleiben. In der Frage der flächendeckenden Videoüberwachung und der Vorratsdatenspeicherung war er unnachgiebiger: Letztere sei "indiskutabel" und dazu noch wenig hilfreich, stattdessen brauche es mehr "gute, alte Polizeiarbeit". Zudem sei die Videoüberwachung völlig ungeeignet, um den angeblichen Ziel der Terrorbekämpfung beizukommen. Stattdessen wecken die Daten Begehrlichkeiten, wie man an den Mautbrücken beispielhaft sehen kann. Als problematisch empfand ich vor allem den Komplex der Verhältnismäßigkeit. Dieses Wort fiel generell oft während der Diskussion, aber besonders bei diesem Themenkomplex. Flächendeckende Videoüberwachung, um Körperverletzungen und Vandalismus zu verfolgen, hält Sören - und wohl auch die Piratenpartei - für unverhältnismäßig. Er stellt hier das individuelle Interesse, nicht gefilmt zu werden, klar über das gesamtgesellschaftliche Interesse an Strafverfolgung und Tataufklärung und die mögliche Straflosigkeit solcher Verbrechen. Wegen deren geringen Zahl sei das auch verhältnismäßig. Ich halte das definitiv für eine offene Flanke. Sollten die Piraten jemals so erfolgreich sein, dass die im "normalen" Parteienwettbewerb stehen, werden diese Positionen sicherlich weidlich ausgeschlachtet werden, denn diese Argumentation ist verhältnismäßig abstrakt und kann leicht als Kälte und Indifferenz, schlimmstenfalls sogar als Verbrechensfreundlichkeit ausgelegt werden - und wird das von Law&Order-Politikern sicherlich auch. Zudem ist es erfahrungsgemäß schwierig, auf Grundlage von "Verhältnismäßigkeit" Gesetze zu machen, bleibt dieser Terminus doch naturgemäß schwammig. 
Nachdem wir diesen Komplex abgehandelt hatten, kam ich zu meinem Kernanliegen. Was mich an der Piratenpartei besonders interessiert ist ihr Anspruch, eine liberale Partei zu sein. Was ist da dran? Was ist für Piraten liberal? Interessant genug, kaum war das Thema angesprochen versicherte mir Sören gleich mit abwehrender Handbewegung, dass man sich keinesfalls als "wirtschaftsliberal" verstünde und mit der FDP nichts zu tun haben wolle. Eine solche Liberalität ist also nicht zu erwarten. Wir haben den "Liberal"-Komplex dann in drei Blöcke aufgespalten: Bürgerrechte, Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik. Beginnen wir mit den Bürgerrechten. Hier sind die Positionen der Piraten sicher am bekanntesten und schärfsten profiliert. Dem Recht auf informelle Selbstbestimmung soll deutlich mehr Raum gegeben werden, besonders bei der Kontrolle von Daten (wir hatten das bereits oben), die Menschenrechte sollen besser durchgesetzt werden und die Versammlungsfreiheit verbessert werden. Besonders letzterer Punkt ist interessant; Sören verwies darauf, dass vor 1968 das Verfassungsrecht wesentlich liberaler war. Die Piraten wollen dorthin zurück und opponieren besonders gegen den bayrischen Entwurf, der die Versammlungsfreiheit selbst innerhalb von Gebäuden erheblich einschränken soll. Zuletzt spricht sich die Piratenpartei für eine Beschränkung von Polizeirechten aus, besonders was die Instrumente der Schleierfahndung und der "verdachtsunabhängigen Personenkontrolle" angeht. Besonders diese Beschränkungen allerdings sind sehr diskutabel. Tatsächlich ist das von der Polizei betriebene Profiling schließlich unbestritten effizienter als völlig ins Blaue hinein zu fahnden. Auf diesen Effizienzgewinn haben die Piraten allerdings keine echte Erwiderung und auch nicht wirklich eine Art qualifizierten Ersatz. Ihre Positionen sind hier in ständiger Gefahr, als unverantwortlich, leichtsinnig und naiv gebrandmarkt zu werden. Eine klare Argumentationslinie, mit der man auch den Übertreibungen eines Wahlkampfs entgegentreten könnte vermisse ich hier noch, ebenso wie eine konkrete Ausdifferenzierung, was nun eigentlich genau unverhältnismäßig und ungerecht ist und was nicht. Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, ohne Zweifel, aber sie muss beantwortet werden. 

Ein Abend unter Piraten, Teil 2: Let's talk specifics

Im Gespräch mit dem Oeffinger Freidenker

Der zweite liberale Komplex befasst sich mit der Sozialpolitik. Die gängige Praxis von Hartz-IV ist für die Piraten indiskutabel, weil die massiven Datenerhebungen und die damit stets verbundene Gängelung die datenrelevanten Grundrechte, wie sie oben bereits angesprochen wurden, massiv verletzt. An der eigentlichen Höhe der Sozialleistungen haben die Piraten weniger auszusetzen; die Kritik richtet sich praktisch exklusiv gegen die dem System inhärente Gängelung und Entmündigung. Unser Gespräch kam dann schnell auf die Frage einer umfassenden Grundsicherung. In der Piratenpartei wird das Konzept des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) derzeit ja heiß diskutiert. Prominent vertreten wird es vom Berliner Landesverband; Sören versicherte mir aber, dass es in der Partei deutlich umstrittener ist, als es durch die Medienpräsenz der Berliner den Anschein hat. Besonders der baden-württembergische Landesverband ist sehr skeptisch und bevorzugt eher ein Modell der negativen Einkommenssteuer. Das Ziel allerdings ist für alle gleich: genug Geld für ein selbstbestimmtes Leben als Grundsicherung auszugeben und die Arbeit dem Erwerb von "Luxusgütern", also allem, was über die Grundbedürfnisse hinausgeht, vorzubehalten. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass jeder Mensch einen eigenen Wert habe und Arbeitslosigkeit durch die Produktivitätsgewinne der Wirtschaft unvermeidbar sei. Anstatt die Menschen dazu zu zwingen, sinnlose Tätigkeiten durchzuführen, sollte man ihnen ein selbstbestimmtes Leben durch eine Grundsicherung ermöglichen. Da alles, was über ein gewisses Niveau hinausgeht - genug zu Essen, eine Bleibe, Fortbewegungsmöglichkeiten - allein durch Konkurenz mit dem jeweiligen Nachbarn motiviert sei (die Piratenversion von "keeping up with the Joneses"), könne dieses Mehr an Konsum durch zusätzliche Arbeit freiwillig erwirtschaftet werden, und da die meisten Menschen diesen Konsum auch wünschen, gebe es auch weiterhin keine Probleme mit den Arbeitskräften. Ich teile diese Überzeugungen bezüglich der Menschennatur nicht vollständig, aber sie sind sicherlich ehrenwert. Neben der Grundsicherung fordern die Piraten einen kostenlosen Öffentlichen Nahverkehr sowie kostenlose kulturelle Teilhabe. Finanziert werden soll das durch eine Art Flatrate in Steuerform. Eine starke Begründung ist, interessanterweise, die Unteilbarkeit dieser Güter, die sich einer Privatisierung entziehen und ihren volkswirtschaftlichen Nutzen umso mehr entfalten, je mehr Menschen sie nutzen. Dieses ökonomische Argument ist großartig, denn es nimmt Kritikern einer "Kostenloskultur" wenigstens ein bisschen den Wind aus den Segeln. Über das der CDU zugeschriebene Argument, dass alles einer wenigstens geringen Bezahlung bedürfe, weil es ansonsten keinen echten Wert besitze, "setzen wir uns einfach drüber weg". Eine solche Argumentation akzeptieren die Piraten nicht. Mir macht sie das nur sympathisch. 
Der dritte liberale Themenkomplex befasste sich dann mit der Wirtschaftspolitik. Hier ging es vor allem um Patente, die ein Herzensanliegen Sörens waren, der sich besonders emotional gegen Softwarepatente oder Patente von Lebewesen aussprach. Er fasste die Position der Partei dahingehend zusammen, als dass Patente ausschließlich der Innovationsförderung dienen sollten. Wo sie diese Bedingung nicht erfüllten - etwa bei Microsofts Patent auf den Ladebalken oder Monsantos Saatgutpatenten - sollten diese Patente aberkannt werden. Auch flexiblere Fristen werden gefordert; so seien 20jährige Laufzeiten bei Medizin oder Maschinentechnik vertretbar, in anderen Bereichen dagegen nicht. Wie genau diese Innovationsförderung allerdings durchgesetzt werden soll empfand ich als weniger klar. Letzten Endes kann so etwas nur darauf hinauslaufen, dass es ein übergeordnetes Kontrollgremium gibt, das solche Kriterien prüft. Auf die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise angesprochen konnte mir Sören zwar versichern, dass es in der Partei einige "sehr kompetente Leute" gebe, aber letzten Endes existiert noch keine Position. Die Partei positioniert sich zwar entschieden Europa-freundlich und ist absolut für den Erhalt von Euro und Union, darüber hinaus ist aber noch nicht allzu viel Substanzielles zu finden. Das ist nicht zwingend ein gewaltiger Nachteil; die anderen Parteien haben letztlich auch keine besonders klare Position und folgen nur den stündlich wechselnden Vorgaben ihrer Parteiführung. 
Das brachte uns dann auch zum letzten Punkt: Basisdemokratie und Transparenz in der Piratenpartei. Zentrale Glaubensartikel - und machen wir uns nichts vor, es ist letztlich ein Glaube - der Partei sind die Überlegenheit der Schwarmintelligenz und der Reputationsnetzwerke. Beim Beispiel der Euro-Experten bleibend stellt sich die Lage nach dieser Ideologie folgendermaßen dar: durch die interne Kontrolle des "Viele-Augen-Prinzips", wo die Basis ihre Meinung zu bestimmten Positionen und ihren Vertretern kundtut, kristallisiert sich eine Art Mehrheitsmeinung für den besten Weg heraus. Die Basis diskutiert solche Probleme also intern aus und findet so zum jeweils besten und vernünftigen Beschluss. Gleichzeitig wird die Partei sehr resistent gegen Beeinflussung von außen. Ich halte das für extrem blauäugig. Eine Reihe von Problemen taucht in dieser Vorstellung schlicht nicht auf, und auf Nachfragen zeigte sich für mich, dass die Piraten das auch nicht wirklich auf der Platte haben. Schauen wir es uns konkreter an. 
Was ist beispielsweise, wenn die Piraten tatsächlich einmal eine Koalition eingehen und in einer Krise schnelle Entscheidungen gefragt sind? Wenn es wirklich unabdingbar ist, über das Wochenende eine Entscheidung zu fällen? Eine Basisbefragung ist dann zwar möglich, kann aber informiert kaum stattfinden. Der Diskussionsprozess braucht seine Zeit, und die könnte schlicht nicht gegeben sein. Genau diese Möglichkeit aber stritt Sören ab; er hält es für eine Lüge, dass die Regierung die Entscheidung so schnell treffen müsse und betrachtet es eher als eine Art Taktik, um Maßnahmen durchzuprügeln. Die Piraten würden sich die Zeit in dieser Vorstellung im Ernstfall einfach nehmen. Ich halte das kaum für gangbar. Ein zweites Problem betrifft die Beeinflussung der Partei bei Themen, die Spezialwissen erfordern - Stichwort Eurorettung. Die Schwarmintelligenz, die im Reputationsnetzwerk die besten Experten promoted und auf diese Art und Weise zur besten Lösung kommt ist natürlich der Idealfall, aber eine Beeinflussung der Partei ist hier sogar fast noch einfacher möglich als bei anderen Parteien: wenn ohnehin niemand die Thematik wirklich versteht und alle Entscheidungen über diese Netzwerke laufen, so müsste es für einen versierten Lobbyisten ein leichtes sein, seine Spezialmeinung so zu fördern, dass er den Stein ins Rollen bringt. So oder so macht die Informationslücke zwischen den Experten und dem Rest der Basis es extrem schwierig, eine echte Diskussion und Reflexion zu ermöglichen. In der Praxis werden vermutlich einige wenige diese Diskussion dominieren, so dass eine Beeinflussung hier nicht nur im Bereich des Möglichen, sondern auch sehr wahrscheinlich ist. Und drittens wird bei einer zunehmenden Professionalisierung der Partei, die bei weiteren Wahlerfolgen unumgänglich ist, die Informationslücke zwischen Funktionären und Amtsträgern auf der einen und der Basis auf der anderen Seite deutlich wachsen. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Basisentscheide und -diskussionen in vielen Fällen einem Parteitag der Grünen ähneln werden: die Basis hat dann die Möglichkeit, den Vorstandsbeschluss entweder anzunehmen oder ihn, quasi rituell, abzulehnen um die eigene Unabhängigkeit zu demonstrieren. Das gehört bei den Grünen zum Prozedere der Parteitage wie bei der SPD früher das Absingen der Internationale. 
Auch die tatsächlichen politischen Gestaltungsaussichten als Regierung sind problematisch. Da alle Entscheidungen der Parteiführung an Mitgliederentscheide gebunden sind, ist ein formeller Koalitionsvertrag praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Konsequent bevorzugen die Piraten das Modell einer Allparteienregierung mit wechselnden Mehrheiten. Zwar ist das grundlegend sympathisch, aber völlig unrealistisch (was ihnen auch klar ist). Koalitionsmöglichkeiten sieht man sonst mit den Grünen, sonst sieht es eher mau aus. Besonders die SPD genießt wegen ihrer wiederholten Bekenntnisse zu Law&Order keinerlei Sympathien, die FDP als korrupte Partei ohnehin nicht, von der CDU brauchen wir gar nicht erst zu reden. Gegenüber der LINKEn scheint vorrangig Indifferenz zu herrschen. So oder so werden die Piraten, wenn sie 2013 tatsächlich in den Bundestag kommen, wohl Oppositionspartei auch aus eigenem Antrieb bleiben. 
Was ist das Fazit? Die Piraten haben in meinen Augen ein großes Potenzial. Sie könnten tatsächlich die FDP als liberale Partei Deutschlands beerben. Meiner Meinung nach bedarf es dazu einer stärkeren Ausgestaltung des liberalen Profils. Die Piraten müssen erst sich und dann den Wählern klar machen, in welche Richtung sich die Gesellschaft ihrer Meinung nach entwickeln soll. Welche Zukunftsperspektive haben die Piraten? Was sind ihre Antworten auf die aktuelle Krise, können sie andere Möglichkeiten bieten? Meiner Meinung nach haben sie besonders beim Aufbrechen des festgefahrenen Gegensatzes von Staat und Markt, wie er in der Diskussion Schirrmacher-Habermas-Steingart bereits Thema war, große Entwicklungsmöglichkeiten. Sie könnten sich hier als Vertreter eines anderen, dritten Weges profilieren und damit gleichzeitig von der Politikerverdrossenheit und dem verbreiteten Unmut gegenüber dem Großen Geld profitieren. Voraussetzung dafür ist eine Kommunikation dieser Bereiche, und das heißt auch, den bisherigen Kern der Piraten deutlich zu erweitern. Mit den MINTs (Medien, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) allein wird das nicht gelingen. Wenn die Piraten in Richtung dieses Potenzials gehen wollen, müssen sie die Ecke der reinen Bürgerrechts- und Technikpartei verlassen, sowohl programmatisch als auch personell. Diese Entwicklung hat bereits begonnen; wie sie weiter gehen wird, bleibt spannend zu beobachten. Ich wünsche den Piraten in jedem Falle alles Gute.

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