Ehrenmörder sind schwache Menschen

Ehrenmörder sind schwache Menschen
von Thomas Baader

Es ist ein natürlicher Instinkt aller Eltern, das Leben ihres Kindes um jeden Preis zu schützen. Eltern, deren Kind an Krebs erkrankt, wünschen sich, sie könnten diese Krankheit anstelle ihres Kindes auf sich nehmen (und meinen das auch ernst); Eltern auf einem untergehenden Schiff würden lieber ihre Kinder in die letzten verbliebenen Plätze im letzten Rettungsboot setzen als sich selbst zu retten; Eltern würden mit ihrem eigenen Körper Geschosse abschirmen, die das Kind treffen könnten. Das mögen theatralisch gewählte Beispiele sein, die im Alltagsleben eher selten auftreten, aber sie beschreiben dennoch die Einstellung der meisten Eltern recht gut.

Eltern überall auf der Welt, in allen Völkern, Religionen und Kulturen, würden diese Dinge für ihre Kinder tun. Es ist, wie bereits gesagt, ein natürlicher Instinkt. Wie widernatürlich muss aber dann eine Gesellschaftsordnung, muss ein Wertesystem sein, wenn es es schafft, diese elterliche Einstellung in ihr Gegenteil zu verkehren, wenn es Eltern hervorbringt, die ihre oberste Pflicht nicht mehr im Schutz ihrer Kinder, sondern im Gegenteil in der Tötung ihrer Kinder bei angeblichem "Fehlverhalten" sehen?

Diese Eltern gehören zu den charackterschwächsten, zu den willenschwächsten Menschen unserer Zeit. Denn wichtiger als ein Menschenleben - nein, nicht irgendein Menschenleben, sondern dass ihres Kindes - ist ihnen der Ruf ihrer Familie. "Die Leute auf der Straße haben mich nicht mehr angesehen"; "Alle haben über uns gelästert"; "Sie haben mir gesagt, ich muss die Sache in Ordnung bringen" - so erklären verurteilte Ehrenmörder oft ihr Verhalten. Haben diese Menschen denn keinen eigenen Willen? Keine Würde? Keine innere Stärke, die ihnen sagt "Zur Hölle mit euch Heuchlern - das ist mein Kind, verdammt"? Wie schwach muss ein Mensch sein, damit er sein eigenes Kind umbringt - nur wegen des Geredes anderer Leute?

Der Ehrenmörder ist also alles andere als ein starker Mensch, sondern ein Mensch, der sich in einem Netz aus sozialen und psychischen Abhängigkeiten befindet. Die Gemeinschaft ist alles, der einzelne nichts. Deshalb kann die Gemeinschaft auch mit aller Brutalität gegen den einzelnen vorgehen, und sei es auch ein Familienmitglied. Das macht die dem Ehrenmord zugrundeliegende Mentalität hochgradig faschistoid. Adolf Eichmann hatte man bei seinem Prozess in Israel mit seiner früheren Aussage konfrontiert, er würde seinen eigenen Vater töten, wenn man ihm sagte, dass dieser ein Verräter sei. Vor Gericht bekannte sich Eichmann zu dieser Aussage. Es ist dasselbe Prinzip.

Aber nicht nur der Ehrenmörder, sondern auch sein Sympathisant ist ein Mensch solcher Prägung. Alle, die sich jetzt gerade lautstark auf die Seite der Täter schlagen und das Opfer verunglimpfen, wären im Ernstfall zu feige, sich schützend vor ihre eigenen Kinder zu stellen. Der Mut der anderen, die im Gegensatz zu ihnen dazu bereit sind, ärgert sie, weil durch sie die eigene moralische Minderwertigkeit offensichtlich wird. Im Falle radikaler Jesiden wird die Gemeinschaft durch die jahrhundertelange Verfolgungserfahrung religiös überhöht und im gleichen Maße die westliche Gesellschaft als sündhaft abgewertet. "Okay ich versteh das die was gegen Deutschen Freund hatten", "Und wie kann man seine Familie für ein deutschen aufgeben?", "Und ich kann verstehen wie die Eltern gelitten haben, die eigene Tochter will lieber mit einem Deutschen leben" - das sind Dinge, die Jesiden in einem einschlägig bekannten Forum schreiben. Die Welt der deutschen Aufnahmegesellschaft wird verzerrend dargestellt als eine Welt der Scheidungen, Prostitution, Kinderschändung und Drogen. Bei diesem Gegensatz handelt es sich jedoch um eine Illusion: Man bedenke etwa, dass die angeblich heile Welt der Jesiden bei den erfassten Zwangsheiraten überrepräsentiert ist (um einen Faktor, der höher als 100 liegen dürfte). Bei nahezu allen sittenstrengen Gesellschaften sind die Sünden und Verbrechen lediglich versteckt und keineswegs, wie von den Betroffenen angenommen, nicht vorhanden. Nahöstliche Länder sind Spitzenreiter bei Zugriffen auf Kinderporno-Websites, die übergroße Mehrheit der Frauen in Ägypten wurde Opfer sexueller Übergriffe, türkische und kurdische Frauen in Deutschland haben signifikant höhere Erfahrungen mit häuslicher Gewalt als Frauen anderer Bevölkerungsgruppen. Die gute heile jesidische oder islamische Welt, sie ist nur eine Illusion, der als Popanz die vermeintlich zügellose westliche Welt gegenüber gestellt wird. Bei den Jesiden hat sich in einigen Fällen das religiöse Verbot, eine Beziehung mit einem Andersgläubigen einzugehen, zu einer Art heimlichen Rassenschandeparagraphen weiterentwickelt: Das Fremde soll von der Familie ferngehalten werden, weil es angeblich die Gemeinschaft zerstört. Der linientreue Kultursoldat achtet im Dienste der Gemeinschaft darüber, dass sie rein bleibt. Diese Gemeinschaft lebt von der Existenz charakterschwacher Menschen, wie sie oben beschrieben wurden. Charakerstarke Menschen werden stets aus diesen Strukturen ausbrechen, und der zum Wandel und Umdenken unfähigen Gemeinschaft bleibt dann nur noch die Gewalt.

Durch diese Gewalt wird sie sich aber nicht erhalten können, sondern diese Gewalt wird, wenn sie nicht aufgegeben wird, letztlich der Weg in den Untergang sein. In einer modernen Gesellschaft können die Ehrenmörder und ihre Sympathisanten auf Dauer nicht bestehen.

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