Der Bahnhof in Lemberg hat mich dann schon beeindruckt. Ähnlich wie der Keleti Paylautvár in Ungarn. Hier würde also alles zusammentreffen. Das alte Habsburgerreich und die ganzen Klischees vom Osten. Wobei der Osten genau deshalb so faszinierend ist, weil Realität und Klischee oft näher beieinanderliegen, als man erwarten würde.
So hatte die junge Frau in der Wechselstube doch einen extrem knappen Rock an… Ich denke nicht, dass ich der einzige war, der sein Geld genau deswegen hier gewechselt hat.
Tauschen musste ich ohnehin etwas. Ich wollte nicht als der Besserwessi herumlaufen, der überall fragt, ob man auch Euros nimmt. So verwandelte die Ukrainerin mit dem wirklich äußerste kurzen Rock meine Euronen im Verhältnis 1:10,20 in ukrainische „Griwen“. Man kann im Notfall auch Rubel dazu sagen, aber das hört man nicht so gern.
Natürlich hatte ich Übergepäck. Wenn ich nicht aufpasse, wie ein Jagdhund, habe ich immer Übergepäck – und (er-)trug es natürlich selbst. Was stand auf meiner Wegbeschreibung noch gleich… Die Чернівецька вул. 500m entlang, dann scharf links auf die Городоцька вул. wechseln um 1,9km zu gehen… Ja, ich kann kyrillisch lesen, das heißt aber noch lange nicht, dass ich das gerne um kurz nach zwölf mache, wenn meine Bleibe recht weit weg liegt. Ein Taxi wäre fein – nur… dachten das offensichtlich viele Gäste und eines nach dem Anderen wurde okkupiert, bevor ich überhaupt erkennen konnte, dass es auch an mich gehen hätte können.
Doch auf der anderen Seite der Straße stand noch ein Gefährt – mit Fahrer. Offensichtlich wartete er auf jemanden, doch das sollte mich nicht stören. Auf Polnisch trug ich ihm meine Wunschadresse vor, wir verhandelten kurz über den Preis und es ging los. Merkwürdig. Wieso hat den keiner genommen? Wenn er auf jemanden gewartet hat – wieso nahm er dann mich mit? Als er zum Fahren ansetzte befürchtete ich womöglich in eine Art Hinterhalt gekommen zu sein – in Brasilien soll so etwas ja hin und wieder geschehen.
Eine Notlösung für den Fall der Fälle musste her. Sicherheitsgurt gab es keinen, das heißt, dass ich im Ernstfall flüchten konnte. Er kann doch nicht grundlos dagestanden sein, ohne, dass jemand eingestiegen wäre. Sein alter Fiat Lada donnerte durch die nassen, gepflasterten Straßen. War das der Weg zu meinem Hostel? Auf der Karte sah das ganz anders aus. Der Taxameter zeigte etwa zwei Euro an, als wir bereits fünf Minuten fuhren. Was ich an diesen alten Ost-Autos liebe ist, dass die Sitze so bequem waren. Selbst eine Wohnzimmercouch hätte da nur schwer mithalten können. Die Ukrainer kidnappen also mit Stil.
Zwei weitere Minuten später erreichte er die angegebene Adresse. Statt den erwarteten 40 Griwen musste ich nur etwa 34 berappen und der Fahrer half mir noch mit dem Gepäck.
Zuvor habe ich erwähnt, dass im Osten Klischee und Realität oft nahe beieinander liegen. Viel öfter jedoch ist genau das Gegenteil der Fall. In Polen wurde mir beispielsweise bis auf mein Fahrrad gar nichts gestohlen. Dies sollte sich in der Ukraine -bis auf das Fahrrad- wiederholen.
Das „Mister Hostel“ sah dann allerdings genauso aus, wie man sich ein ukrainisches Hostel vorstellt.
Der nächste Tag zeigte sich dann von seiner polnischen Seite. Zwar regnete es nicht, aber der Himmel war grau in grau gehüllt. Beim Tourismusbüro ließ ich mir ein paar Informationen zur Stadt in die Hand drücken und erfuhr, dass das ein typisches „Lembergwetter“ sei. Mit einer Besserung könne ich nicht wirklich rechnen.
Wie ist das Wetter heute? LEMBERGIG!
Doch vom Wetter wollte ich mir meinen Trip nicht vermiesen lassen und ging nach kurzem flanieren im Zentrum in ein Lokal, das sich mit einer eigenartigen Strategie zu einem der beliebtesten Lokale gemacht hatte.
Seinerzeit war's noch schön, als man bei -30°C im Wald gesessen ist und Krieg geführt hatte...
Von außen sah man ihm nicht viel an, man sah ihm eigentlich überhaupt nichts an, was irgendwie auf ein Restaurant schließen ließe – ausgenommen ein hängendes Schild, aber das hätte genausogut der Bar daneben gehören können. „Криївка“ (Kryjivka) war dort zu lesen – was man mit „Partisanenunterschlupf“ übersetzen kann. Der Weg führe durch einen dunklen Gang zu einer Holztüre. Diese war (sofern nicht zu viele Leute heraus oder hereinströmten) verschlossen. Ein Anklopfen reichte gerade einmal dafür, dass ein bärtiger Partisan eine Holzklappe öffnete, um nach dem Passwort zu fragen. „Slawa Ukraini“ lautete es – „Heil der Ukraine“ wäre das deutsche Äquivalent. Erst danach durfte man eintreten und sah, dass der Herr mit einem Gewehr bewaffnet war.
Bei den Partisanen lass ich mir das traditionelle, osteuropäische Malzbier "Kwas" schmecken. Dazu gibt es grüne Borschtsch
Die Prüfung sollte jedoch damit nicht zuende sein. Als Begrüßungsgeschenk gab es ukrainischen Honigwodka, der denselben Namen trug, wie eine spaßhafte Bezeichnung für Russen. Das war auch der Clou dabei: Dieses Getränk war so… naja, stark… oder was auch immer, dass ein Russe sofort sterben würde, wenn er es tränke. Trotz ein paar mal Husten habe ich es mehr oder weniger überlebt und durfte in den Keller gehen – wo mich nicht nur recht viele andere Touristen, sondern auch eine urige Stube mit allen möglichen Partisanen-Devotionalien und einige andere Kämpfe erwarteten, die hin und wieder Pistolenschüsse abgaben.
Auch, wenn manchen das weniger recht ist - dieser Herr hier ist bewaffnet
An Wochenenden würde man hier sogar Russen erhängen, eröffnete man mir. Während in Westeuropa wahrscheinlich fast unbekannt ist, dass es doch sehr gravierende Unterschiede zwischen Ukrainern und Russen gibt, sehen einige Ukrainer „den Russen“ nach wie vor als ihren Feind an.
Ein Russe, der den Honigwodka nicht überlebt hatte vor dem Lokal
Georgien: Der Feind unseres Feindes ist unser Freund
In Polen – darüber schreibe ich noch im Warschau-Artikel – gibt es eher die versteckte Angst und die versteckte Verteidigung gegen Russland (Kaczyński wurde beispielsweise von dem Feind im Osten ermordet). In der Ukraine ist man offener. Hier hängt man welche am Samstag. Auch in der Touristeninformation konnte man beispielsweise ein Georgien-T-Shirt erstehen. (Für alle, die keine Periodika lesen, oder sich nicht mehr erinnern können: Der Fünftagekrieg zwischen Russland und Georgien 2008 stellte nur die Spitze des Eisbergs in einem lange (Saaka-)schwielenden Konflikt zwischen den beiden Staaten dar. Auf der einen Seite das souveräne Georgien und auf der anderen Seite das souveränere Russland, wo Georgien manchmal als „unser Land“ gesehen wird).
Wie Polen liegt auch die Ukraine auf einem Spannungsfeld zwischen Ost und West. Wobei auch Polen eine interessante Stellung darin einnimmt. Das ehemalige polnisch-litauische Jagellonenreich erstreckte sich früher nicht nur über fast ganz Polen, ganz Litauen und Teile Weißrusslands, sondern auch durch einen Teil der Ukraine. Dies gefiel zwar den katholischen Polen und Litauern, aber die orthodoxen Ukrainer konnten damit wenig anfangen. Noch weniger die ebenfalls orthodoxen Kosaken – einige Stämme führten immer wieder Kriege gegen den polnischen Adel, dem sie sich nicht unterwerfen wollten. Einer dieser Kosakenführer war Bogdan Chmelnizki, der sich mit einem Kleinkrieg nicht zufrieden gab und mit seiner Horde über das politisch ohnehin schon etwas geschwächte Königreich herfiel. Russland erkannte seine Chance und gab ihm Unterstützung. Während die Kosaken also plündernd und brandschatzend über Polen herfielen, hatten sie es auch auf Andere als den katholischen Polenadel abgesehen. Die Juden. Zuvor aus Spanien vertrieben konnten sie sich durch finanzielles Geschick in Polen hocharbeiten und wurden vielfach im Staate eingesetzt – auch als Steuereintreiber. Und solche symbolisierten für die Kosaken die verhasste Herrscherschicht mehr als alles andere. Die „Bilanz“ lautete am Ende des Aufstandes – nicht nur einen blutigen Sieg für Chmelnizki, sondern auch zwischen 20.000 und 200.000 ermordete Juden.
Für die damals noch nicht existente Ukraine bedeutete dies jedoch einen ersten Erfolg für die ersehnte Unabhängigkeit. Für Chmelnizki bedeutete es eine Widmung auf dem 5-Griwen-Schein.
Bogdan Chmelnizki - Als Kriegsfürst gehasst, verehrt und gefürchtet
Ein Denkmal zur Geschichte der Ukraiene. Unten zu sehen: Die Hungersnot
Nach dem Ersten Weltkrieg, als das Gespenst des Kommunismus Osteuropa heimsuchte, sucht die (russisch geführte) Sowjetunion, die ukrainische Bevölkerung zu vermindern. Jedoch nicht mit Waffen, sondern mit Hunger. Bis heute ist es zwar noch nicht vollständig geklärt, jedoch wird vermutet, dass die große Hungersnot (Holodomor) 1932/33 bewusst herbeigeführt wurde. Ihr fielen etwa 3,5 Millionen Ukrainer zum Opfer. Dies und auch das Verhalten Russlands während des Zweiten Weltkriegs sind bis heute unvergessen.
Ukrainisch hat sowohl sehr starke Ähnlichkeiten mit dem Polnischen, als auch mit dem Russischen und so ist es nicht sehr verwunderlich, dass sowohl Polen, als auch Russland in der Ukraine eine Art Bruder sieht. Wobei das im Falle Russlands nicht wirklich einen Vorteil darstellt…
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