Der schmale Band besteht zu zwei Dritteln aus kurzen Erzählungen, die gut zur Einschätzung Eduard Graf von Keyserlings als einen der wenigen impressionistischen Autoren der deutschen Literatur passen; das letzte Drittel füllen Betrachtungen in essayistischer Form. Im Nachwort des Herausgebers Klaus Gräbner erfährt man, dass es sich durchwegs um Wiederentdeckungen handelt, die in den Wochenend- und Feiertagsbeilagen großer Zeitungen, nämlich der Neuen Freien Presse und des Berliner Blattes „Der Tag" aus den Jahren 1905 bis 1916, erschienen sind.
Der vollkommene Diener
In den Geschichten erweist sich Keyserling als subtiler Humorist, der menschliche Schwächen mit leiser Ironie darstellt, während die Essays sich um ungewöhnliche Blickwinkel auf Phänomene wie die Liebe, den Hass, das Kranksein, aber auch den Komfort bemühen. Zum Komfort der damaligen Zeit gehörte ganz selbstverständlich die Dienerschaft, und der Autor raisonniert darüber nach, was einen Diener vollkommen mache: sein Bestreben, sich in seinen Herrn einzufühlen, sodass er ihm gewissermaßen die Wünsche von den Augen ablesen könne und diese auch sofort auf eine Weise erfülle, wie sie dem Herrn angenehm ist; dabei müsse der Diener bei aller Präsenz absolut unauffällig im Hintergrund agieren. Aus heutiger Sicht mutet es seltsam an, wie ein Berufsstand, der verschwunden ist, vor hundert Jahren noch als das Selbstverständlichste der Welt betrachtet wird.
Aber zu den Geschichten:
„Die sentimentale Forderung"
Da ist zum Beispiel „Die sentimentale Forderung" (S. 25 - 32): Magdalene stellt ihren Gatten Botho zur Rede, weil er ein Verhältnis mit der Schauspielerin Ada hat. Sie will abreisen, ohne Botho, zu ihrer Mutter. Botho wundert sich scheinbar, dann setzt er seiner Frau auseinander, dass das bei Männern eben so sei: Man sei einerseits fest verheiratet und liebe seine Frau, brauche und habe daneben aber auch noch manches Verhältnis laufen, das sei eine „sentimentale Forderung" des männlichen Gemüts, habe aber für die Ehe überhaupt nichts zu bedeuten. Das überzeugt Magdalene nicht, sie besteht auf der Trennung.
Botho ist ratlos, dann fällt ihm als Rettung nur Ada ein, an die er sich wendet und die die Sache in die Hand nimmt: Sie lässt sich bei Magdalene melden und erhebt kurzerhand die Forderung, diese solle ihr Botho abtreten. Das kommt für Magdalene aber nicht in Frage, obwohl sie sich eben noch von Botho trennen wollte. Magdalene macht Ada klar, dass Bothos Liebe zu ihr nur „eine sentimentale Forderung" sei, aber keine ernstzunehmende Sache. Ada gibt sich enttäuscht und fährt ab. Draußen trifft sie Botho, der neugierig fragt, wie das Gespräch verlaufen sei. „‚Gehen Sie nur nach Hause. Man hat wieder ganz von Ihnen Besitz ergriffen. [...] Nur eins, Kleiner, glaube ich, Sie werden es aufgeben müssen, sentimentale Forderungen zu stellen.'", sagt Ada dem verdatterten Botho und lässt ihn stehen.
„Geschlossene Weihnachtstüren"
Die nächste Geschichte, „Geschlossene Weihnachtstüren" (S. 33 - 44), widmet sich auf ganz andere Weise dem Thema der halbherzigen Beziehungen: Der Dandy Helmar von Alderkaß unterhält erotisch angehauchte Beziehungen zu verschiedenen Damen. Einer von ihnen, Helene, will er nun zu Weihnachten ein kleines Geschenk vorbeibringen und mit ihr mit unverbindlicher Plauderei und gemütlichem Flirten den Weihnachtsabend verbringen, an dem ihm sonst mangels Familie etwas einsam zumute wäre. Doch als Alderkaß bei ihr vorspricht, eröffnet sie ihm, dass ihr Mann auf ihn eifersüchtig sei und sie ihn ihrer Ehe aufopfere, was sie auch für Alderkaß, der ihr vom hohen Wert des Opfers gesprochen habe, tue. Alderkaß muss gehen und verflucht sich für seine pathetischen Sprüche. Immerhin, da wäre eine andere, Verena, bei der er nun auftaucht, doch auch hier wird er überraschend abserviert, denn Verena hat sich für einen jungen Mann entschieden, der eine weniger unverbindliche Beziehung mit ihr anstrebt. Schließlich sucht Alderkaß Zuflucht bei einem einfachen Schankmädchen, das sich seiner sentimentalen Feiertagslaune sicher nicht verweigern wird. Wie viele trübe Tage hat er nicht schon in der Gaststube verbracht, mit „Nachdenken", wie er Marie erzählt hat. Nun würde er gerne nicht nur nachdenken und bittet Marie zu sich an den Tisch. Doch diese stellt ihm Oskar vor, ihren neuen Verlobten, mit dem sie nun in dessen Familie den Weihnachtsabend verbringen werde.
Auch in den übrigen Geschichten geht es um fragile Beziehungen, um sich anbahnende Seitensprünge, die dann doch nicht geschehen, weil sich im letzten Augenblick etwas ereignet, das die Ehe wieder einrenkt.
"Verwundet"
Aus dem Rahmen fällt die Geschichte „Verwundet" (S. 89 - 98), am 25. Dezember 1915 in der Neuen Freien Presse erschienen: Sie beschreibt eine Nacht eines angeschossenen deutschen Soldaten an der französischen Front. Mit letzter Kraft hat er sich aus der Feuerlinie unter einen Busch in Sicherheit gebracht. Dort liegt ein toter Franzose. Im Schutz der Dunkelheit schleicht dessen Verlobte heran, merkt, dass er tot ist, aber da noch ein lebender Deutscher liegt, der mit ihr ein Gespräch beginnt und sich gar nicht als ein unmenschlicher Franzosenfresser, sondern ein trauriger, schwacher, genauso „unschuldig" in die Kriegsmaschinerie geratener Mensch erweist wie ihr toter Geliebter. Der Deutsche wird ohnmächtig. Am nächsten Morgen finden ihn seine Kameraden noch lebend, zugedeckt mit dem schwarzen Tuch der Französin...
Ich vermute, während des Zweiten Weltkriegs hätte eine Geschichte wie diese in keiner Tageszeitung erscheinen können, aber mitten im ersten Weltkrieg konnte eine solche Geschichte im wichtigsten Presseorgan der Monarchie veröffentlicht werden.
Keyserling und Wedekind - eine Anekdote
Das Nachwort wartet mit bisher unbekannten Informationen zum Autor auf. Keyserling müsse bereits 1906 und nicht wie allgemein angenommen 1908 erblindet sein (im Klappentext steht trotzdem 1908). Außerdem erzählt der Herausgeber einige nette Anekdoten über Keyserling, dessen Hässlichkeit legendär war (und von der man sich in Lovis Corinths berühmtem Portrait überzeugen kann), u. a. folgende:
„Einst stellte ihn Frank Wedekind vor die Alternative ‚Ich oder Halbe. - Wer Halbes Freund [ist], gilt mir als Feind' und zerriß ihn in der Luft. Keyserling lauschte diesem Redestrom ergeben und schwieg sich selber völlig aus, bis die Droschke dann vor seinem Hause hielt. ‚Hast du geschlafen?', fragte Wedekind. - ‚Nein, lieber Frank, wie stellst du dir das vor?' - ‚Wie ist es also, Keyserling? Entscheide dich, ich oder er?' Keyserling, der inzwischen mühselig ausgestiegen war, reichte dem stürmischen Frager ruhig die Hand: ‚Ich schätze es im Grund mehr, wenn man mich nich vor solche Alternativen stellt. Und Halbe hat es nich jetan. Sagen wir also: er! Und nun, mein lieber Frank: auf ewig lebe wohl.' Mit leisem Lächeln wendete er sich ab - er wußte ja, daß eine Ewigkeit in Schwabing ihre Grenzen hat. Wedekind rief wütend nach: ‚Ist mir sehr recht! Es ist immer eine Überwindung, mit Leuten zu verkehren, die so häßlich sind!' Keyserling erwiderte in ruhigem Ton: ‚Ich habe mir dich natürlich nach der - Schönheit ausjesucht.'" (S. 171f)
Eduard von Keyserling: Feiertagsgeschichten. Erzählungen und Betrachtungen. Hg. u. m. e. Nachw. vers. v. Klaus Gräbner. Steidl-Verlag, Göttingen 2008. 173 Seiten. Bild: Wolfgang Krisai: Christbaum. Buntstift, 2014.