Weder Beate noch Mareile ist die Hauptfigur dieser Erzählung, sondern Günther von Tarniff, ein junger baltischer Graf, der sich auf sein Landgut in Lettland zurückgezogen hat und dort ein ruhiges Leben mit seiner Frau Beate und seinen Kindern leben will. Abendgesellschaften, Schlittenfahrten, Jagden… damit vertreibt man sich in diesen Kreisen die Zeit. Die ältere Generation beobachtet die jüngere und misst sie an engstirnigen Maßstäben. Das ganze hat etwas vom Leben in einem winzigen Bergdorf, jeder kennt jeden, jeder überwacht jeden, niemand ist frei und glücklich.
Das spürt auch Günther, dessen Frau bieder und unzugänglich ist, sodass er sexuelle Entspannung bei der Bauerntochter Eve sucht und zunächst auch findet. Beate merkt nichts, bis sie eine ungewollt schwanger gewordene Dienstbotin ungnädig entlässt und diese ihr brieflich reinen Wein über ihren Gatten einschenkt.
Eine spannendere Frau
Dieser hat allerdings Eve schon hinter sich gelassen und sich einer spannenderen Frau genähert: der Verwalterstochter Mareile, die eine gefeierte Sängerin ist. Warum sie nun aber monatelang Zeit hat, sich in ihrem baltischen Heimatdorf aufzuhalten, habe ich entweder überlesen oder erfährt man nicht. Genug: Sie ist da, und alle Männer haben nur noch Augen für sie. Das geschieht schon zu Beginn der Erzählung, doch zu diesem Zeitpunkt lässt sie Günther noch nicht an sich heran, sondern heiratet den Kunstmaler Hans Berkow.
Dieser erweist sich aber als zu banale Gestalt, sie verlässt ihn und kehrt nach Lantin zurück in ihr Elternhaus.
Nun schlägt Günthers Stunde: Er reitet mit Mareile aus, sie kommen sich näher, und da es weit und breit keine bessere Partie gibt, muss es kommen, wie es kommt. In einem abgelegenen Gartenpavillon schlagen sie ihr Liebesnest auf – unbemerkt beobachtet von der zähneknirschend resignierenden Eve.
Unvorsichtig
Beate merkt lange nichts. Doch die Liebenden werden unvorsichtig, und eines Tages sieht Beate vom Fenster aus zuerst Mareile in den Wald verschwinden und dann Günther – und zieht ihre Schlüsse. Und fasst ihren Beschluss: Mareile muss weg. Sie stellt Günther vor die Wahl: entweder Mareile geht oder sie.
Günther, der zum radikalen Bruch mit seiner engelgleichen Gattin nicht bereit ist, trennt sich also von Mareile, die nach Berlin geht.
Einige Wochen später hält Günther es jedoch nicht mehr aus und fährt ihr nach. In Berlin wird die Liaison stürmisch erneuert. Bis es bei einer Abendgesellschaft zum Eklat kommt: Ein Adeliger verurteilt Günthers Verhalten in ziemlich eindeutigen Worten, weshalb dieser ihn zum Duell fordert.
Duell
Sekundanten. Morgenstunde. Wald. Man misst die Entfernung, die Duellanten treten einander gegenüber, ein Schuss: Günther ist getroffen, wenn auch nicht tödlich.
Nach langwieriger Genesung kehrt er als gebrochener Mann nach Hause zurück und wird von Beate mit Genugtuung empfangen. Eine sterbende Tante hatte ihr gesagt: „Sie kommen zurück“, man müsse nur lange genug warten können. Nun ist Günther wiedergekommen.
Letzte Szene: Mareile ist ebenfalls heimgekehrt, schreibt Günther einen Brief und lädt ihn zu einem Rendezvous im Gartenpavillon ein. Er gibt ihr eine abschlägige Antwort. An seiner Stelle taucht dort Eve auf, und die beiden Frauen reden übers Verlassenwerden. Eve habe sich in einem Waldtümpel ertränken wollen, es aber nicht geschafft. Und Mareile weiß: Auch sie könnte sich nicht umbringen. Schon gar nicht wegen eine Mannes vom Schloss dort oben. Als letzte Geste ballt sie die Faust in Richtung Schloss.
Ein Leben der Mittelmäßigkeit
Die Erzählung stellt dar, wie sich aus einem Leben der Mittelmäßigkeit einmal eine halbwegs starke Leidenschaft emporringt und schließlich wieder in die Mediokrität zurücksinkt. Günther von Tarniff – schon der Name signalisiert Schwäche und Durchschnittlichkeit. Ein Graf, nicht mehr ganz jung, auch noch nicht alt, der im Grunde nichts zu tun hat, weil er sich nicht ernsthaft um sein Landgut kümmern will – eigentlich eine schreckliche Metapher auf den „normalen Mann“, dessen Leben so dahindümpelt und höchstens einmal von einer Affäre aufgewühlt wird, aus der sich aber nichts Außergewöhnliches entwickelt, sondern die irgendwann in sich zusammenfällt.
Eduard von Keyserling: Beate und Mareile. Eine Schlossgeschichte. Nachwort von Uwe Timm. Zürich, Manesse, 2013. Manesse Bibliothek der Weltliteratur. 218 Seiten.
Bild: Wolfgang Krisai: Altes Schloss Laxenburg. 2015. Tuschestift, Buntstift.