Auf zu neuen Ufern
Nun ist es offiziell. Ich packe meine sieben Sachen und verlasse Deutschland. Im Grunde schwelte der Gedanke schon seit geraumer Zeit in mir, aber konkrete Pläne gab es nicht. Und auch jetzt habe ich nicht wirklich einen Plan, mache mir keine Strichlisten (und wenn, dann nur äußerst halbherzig), erstelle Inventarlisten oder studiere Auswandererbroschüren. Tatsächlich gibt es in Deutschland Beratungsstellen für Auswanderungsfreudige, an die man sich gegen einen Unkostenbeitrag wenden kann. Sie sind kirchlicher Natur und nennen sich zum Beispiel “Evangelische Auslandsberatung e.V.” Ich überlege noch, ob und wann ich diese in Anspruch nehme, denn ich will mir erst ein paar Fragen zurechtlegen und dafür ist es vielleicht noch zu früh. Es ist alles halb so wild, wie ich finde, eigentlich wie Urlaub, nur ohne Wiederkehr. Als Freiberuflerin kann ich von jedem Ort der Welt aus arbeiten, sofern Internet vorhanden. Mein Laptop ist mein mobiles Büro sozusagen. Beruflich ist es mir völlig schnuppe. Na ja privat gibt es einige Tränchen zu vergießen. Familie und Freunde zurückzulassen fällt natürlich nicht leicht, aber ich hoffe auf einen regen Besucherstrom aus der Heimat und werde auch selbst so oft es geht in den Flieger steigen. Berlin-Manchester, dank easyjet eine ausgesprochen günstige und schnelle Verbindung. Da sind Tickets schon für 18,99 Euro zu haben. Da gibts nichts zu mäkeln, wie ich finde. Und es ist doch so: Oft lebt man in derselben Stadt und sieht sich Wochen, manchmal sogar Monate nicht, also wird sich vermutlich nicht allzu viel ändern. Und ich freue mich ungemein auf die Erfahrungen, die in der Fremde auf mich lauern. Eine unsichtbare Hand in meinem Rücken stärkt mich, das Abenteuer einzugehen.
Von manchen habe ich gehört, dass es ein mutiger Schritt sei, aber so mutig fühle ich mich gar nicht. Ich fahre einfach gut damit, nicht allzu viel darüber nachzudenken, Risiken abzuwägen, Eventualitäten zu überdenken. Ich mach es einfach und Schluss aus. Alles andere wird sich zeigen. Mein Engländer hat uns ein hübsches kleines Haus gekauft, das ich noch nie zuvor betreten habe, in einem kleinen Örtchen namens Slaithwaite, das man auf gute alte Wikingerart Slawit ausspricht und das ich überhaupt nicht kenne. Noch nicht. Und doch bin ich mir sicher, dass es die beste Idee sein könnte, die mir jemals eingefallen ist. Ich ziehe also einfach mal nach Nordengland, mystisches Land im Nebel, und lasse mich überraschen, welche Geschichten es für mich bereithält, die ich erzählen kann.
Alles muss raus
Seit Wochen versuche ich jetzt meine Wohnung leerzubekommen, den ganzen Ballast loszuwerden, der sich da trotz bereits erfolgter Ausmistung in Kisten, Schränken und Aufbewahrungsboxen hartnäckig vermehrt und einfach nicht weniger werden will. “Fang mit dem ganzen Müll an”, rät mir mein englischer Pragmatiker. Ich gehe dabei ganz nüchtern vor und stopfe alles Überflüssige in graublaue Mülltüten. Klamotten, die an längst vergangene XS-Zeiten erinnern, unnütze Dekoartikel, billiger Schrott. Einen Teil fotografiere ich und lasse Familie und Freunde entscheiden: Haben oder nicht haben? Dann wird es ernst, denn mein wertvollster Besitz muss weichen, meine stolz gefüllte Bibliothek. Ich bringe es nicht übers Herz, alles rigoros in die blauen Container zu werfen, also schaue ich mich mal bei rebuy-Plattformen um. Ich habe zwar wenig Hoffnung, dass meine Schmöker noch reißenden Absatz finden, aber ein paar unhandliche Pakete kann ich dann doch zur Post bringen und die Kasse klingelt zumindest leise.
Als mein Bücherregal vor Leere gähnt, mache ich mich an den Rausverkauf meiner Möbel.
Ich setze viel Hoffnung in Ebay Kleinanzeigen, doch ich bin viel zu ungeduldig und gehe mit den Preisen rauf und wieder runter. Wage Panik steigt in mir auf. Was, wenn ich das ganze Zeug nicht loswerde und am Ende den teuren Sperrmüll bestellen muss? Ich könnte schon ein wenig Taschengeld für die Anreise und die erste Zeit gebrauchen. Dann reiße ich mich zusammen und warte erst mal ab. Schließlich kaufe ich ja auch nicht das erstbeste Zeug und halte vielleicht auch noch mal Rücksprache mit Freunden und Familie. Und siehe da, nach ein paar Tagen blinken die ersten Anfragen in meinem Postfach auf. Jemand interessiert sich für mein gerade erst erworbenes Polsterdoppelbett in weißem Lederimitat inklusive Matratzen und Lattenrost. Eigentlich wollte ich das bequeme Ungetüm mit dem für mich sehr symbolischen Namen “Liverpool” gern nach England verschiffen lassen, hätte dafür aber schlappe 890 Euro investieren müssen. Ein Preis, den ich nicht wirklich für passabel halte. Ich erwidere also die erste Anfrage und setze viel in die Besichtigung.
Ich lasse einen biederen Typen frohgemut in mein Allerheiligstes. Der drückt ein paar Mal auf der Kernmatratze herum, begutachtet das Bett von allen Seiten und fragt schließlich ernst, aber etwas unsicher: “Darf ich mich da mal reinlegen?”
“Klar”, antworte ich schlicht und fühle mich plötzlich seltsam in meinen vier Wänden. Der Mittvierziger vom Typ verklemmter Reihenhausbesitzer setzt sich stocksteif auf die Kante, streift ordnungsgemäß seine Schuhe ab und lässt sich rücklings auf mein gemütliches Schlafmöbel plumpsen. Ich stehe im Türrahmen und finde die Situation jetzt doch etwas absurd. Der Typ findet scheinbar Gefallen und dreht sich von links nach rechts, während er zufrieden vor sich hinmurmelt. Ich hege Hoffnung, doch der Abgang ist kurz und schmerzlos. “Ich überlege es mir”, lügt der Biedermann mir eiskalt ins Gesicht und verschwindet für immer aus meinen Gemächern. So schnell wälzt der sich nicht mehr für lau in fremden Betten, denke ich bei mir und hoffe auf neue, ernsthafte Anfragen.
Die flattern ins Haus, als ich das Bett bis auf die Hälfte des Originalpreises runtergedrückt habe. Besser als wegschmeißen, dämmert es mir schweren Herzens. Dennis ist sich sicher: “Das Bett kaufe ich. Komme Samstag gegen 15 Uhr. Okay?”
Ich schöpfe wieder Hoffnung und sage zu. Und der dynamische Jungspund erscheint tatsächlich mit einer Ladung Kumpels, die allesamt hünengleich durch meine Wohnung stampfen und ohne Probeliegen frank und frei mit dem Abbau beginnen. Als ich schweres Keuchen und Werkzeuggeschrammel vernehme und alles unerwartet lange dauert, erinnere ich mich schwach an die schief hineingepresste Schraube, die das Kopfteil notdürftig mit den Bettkästen verbindet. Und genau hier liegt der Hund begraben. Von der Küche aus, in der ich gerade ölige Gemüsechips für meinen Abschied bei lieben Freunden zubereite, höre ich erleichtertes Schnaufen. Dann erscheint Dennis in der Tür und fragt mich schmunzelnd nach der Montagehistorie. “Die Schraube habt ihr ja ganz schön reingewürgt”, spöttelt er. Ich gebe mir keine Blöße und hoffe, dass er mich nicht auch noch runterhandelt. Doch er zückt unbekümmert die Scheinchen und bezahlt wie verabredet. Dann ist die Bude wieder menschenleer.
Mit Wehmut blicke ich auf die kahle Stelle im Schlafzimmer und denke an all die gemütlichen Stunden im Kerzenschein bei Wein, Snacks und dem sonntäglichen Tatort auf dem Laptop. Doch es muss ja vorangehen. In Windeseile verlassen weitere Möbelstücke ihren Heimatort. Die Kommode geht an einen unbequemen Hipster, der an allem herumnörgelt, was ihm gerade in den Sinn kommt. Hier eine Delle zu viel im Holz, dort ein paar unschöne Löchlein. Zu kaschieren versucht er sein unmögliches Gehabe mit vorgegaukeltem Socialising. Ach, nach Yorkshire gehe es. Er habe ja mal eine Weile in Newcastle gelebt und bla bla. Ich fühle eine Grippe im Anmarsch, will zurück aufs Sofa, nehme seine Almosen entgegen und bin froh, dass ich das wuchtige Ding auch los bin.
Langsam fängt es an, richtig Spaß zu machen, es stellt sich ein sonderbares Gefühl der Befreiung ein, als könnte man an die abgenutzten Dinge symbolisch sein ganzes bisheriges Leben hängen und in einem Schwung über den Haufen werfen.Gar nicht übel, wie mir schwant.
Der Schuhschrank im Landhausstil geht an ein schwules Pärchen, das so goldig und liebenswert ist, dass ich es gern noch zum Kaffeeplausch dabehalten hätte.
Am meisten aber staune ich über den Werdegang meines Kleiderschranks. Da bekomme ich einen Anruf aus Polen von einem mäßig deutsch sprechenden Marcin oder so ähnlich. Der kündigt sich gleich für denselben Abend an. Er nehme den Schrank und komme mit seiner Tochter gegen 19 Uhr vorbei, nachdem er das halbe Berliner Umland von Gebrauchtmöbeln befreit hat. Als ich die Tür öffne, lächelt mir ein freundlicher Herr mittleren Alters entgegen. Hinter ihm marschiert seine Tochter Lara-Croft-mäßig und nicht älter als 20 mit einem Akkubohrer bewaffnet in die Wohnung. Während der Vater kurz auf Toilette verschwindet, baut die Kleine ruck zuck innerhalb von wenigen Minuten den kompletten Dreitürer auseinander, als hätte sie nie im Leben etwas anderes getan. Ich bin ziemlich geplättet angesichts so viel slawischer Frauenpower. In nur 15 Minuten ist der Schrank zerlegt, ins Auto verfrachtet und ohne Murren bezahlt. Das nenne ich polnische Zweckmäßigkeit.
Doch es läuft nicht immer so glatt. Ein Pärchen will unbedingt eines meiner Bücherregale ergattern, stellt dann jedoch vor Ort fest, dass die Tiefe nicht stimmt. “Da kann man ja zwei Bücherreihen reinstellen”, mümmelt sie und ich frage mich ernsthaft, wozu die Kanaille dann überhaupt eines braucht, wenn sie das ernsthaft stört. Die Maße standen natürlich drin, aber gut, erstmal antanzen und so tun als ob. Er, dickbäuchiger Holländer in graumeliertem Wollpulli mit unproportionaler Statur versucht noch auf sie einzureden. “Ich würde das ja bezahlen.” Mein Gott, muss er sich ihre Zuneigung auch noch erkaufen? Ich schäme mich etwas. Ich bin froh, als die beiden Griesgrame endlich meine Wohnung verlassen.
Die nächsten Kandidaten sind supersympathisch. Da weiß ich mein Regal in besten Händen. Gern packe ich mit an und trage die Kleinteile mit nach unten. Das zweite Regal überlasse ich der Konfusion in Person. Er Rechthaber hoch drei weiß genau, wie das Regal demontiert werden muss und verrenkt sich dabei fast das Genick. Ich gebe ihm vorsichtig einen lieb gemeinten Rat, doch er bleibt stur bei seinem denkwürdigen Abbauplan. Sie bleibt gelassen und lässt ihn wurschteln, übernimmt den geschäftlichen Part. Mit etlichen Dellen und Schrammen landet das Regal schließlich vor der Eingangstür, doch in der Eile vergessen beide die Hälfte. Ein paar Bretter bleiben stehen. Nachdem niemand kommt, um sie abzuholen, frage ich nach, doch die beiden melden sich nicht. Nach einer Woche dann die Nachricht: “Wir haben tatsächlich Regalbretter vergessen.” Ach nee!
Und so ließe sich die Liste fortführen. Alles in allem gehen die Verkäufe ziemlich unkompliziert vonstatten. Nicht zu reden von den Sachen, die ich schließlich verschenken will. Kaum sind diese im Netz ausgepriesen klingelt mein Telefon ununterbrochen. Innerhalb von Milisekunden bin ich komplett überfordert, habe 20 Nummern auf dem Display und keinen Plan mehr, wer was will und wann kommt. Wie ausgehungerte Aasgeier stürzen sich Immigranten, Studenten, Harzer und sämtliche niedrig budgetierte Leute auf mein Wohnungsinventar. Das verursacht mir recht bald soziale Übelkeit.
Das Erste, das weggeht, ist mein alter Bürostuhl, von den Katzen so sehr zerkratzt, dass ich ihn niemandem für Geld anbieten will. Da meldet sich prompt ein Interessent aus Spandau, das wohlgemerkt am anderen Ende Berlins liegt. Er würde gleich morgen früh kommen und das gute Stück einsacken. Dann fragt er mir noch tausend Löcher in den Bauch. Ob die Sitzfläche noch in Ordnung wäre und was damit nicht stimmen würde und, und, und. Das ist schon erstaunlich. Offensichtlich sind die Dinge, die verschenkt werden, nicht mehr ganz neu oder weisen Gebrauchsspuren auf, sonst könnte man sie ja auch verkaufen, aber die Leute bestehen dennoch auf einwandfreie Ware. Hä?! Wie auch immer, der Typ kommt jedenfalls, doch als ich die Tür öffne, grinse ich in mich hinein. Der Typ ist nicht nur riesig, nein, auch ziemlich massig und damit meine ich keine Muskeln. Schnaufend stürmt er in meine Wohnung und rennt erstmal Richtung Schlafzimmer. “Äh, hier entlang bitte”, komplementiere ich ihn höflich ins benachbarte Wohnzimmer hinüber. Als er den Stuhl von allen Seiten inspiziert und beschnuppert hat, ihn von A nach B gerollt und nach vorn und hinten gewippt hat, stellt er die alles entscheidende Frage “Darf ich mich da mal raufsetzen?”
“Sicher”, biete ich ihm an und bin mir nicht wirklich schlüssig, ob sein Selbstbild mit seinem Fremdbild übereinstimmt. Ich bereite mich darauf vor, das Schwergewicht aus dem unter ihm zusammenbrechenden Stuhl zu befreien und beuge mich instinktiv etwas nach vorn. Der gute Mann wagt alles und lässt sich blindlings zwischen die Armlehnen sacken. Jetzt sieht es aus, als würde er unglücklich festklemmen. Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst und hoffe, dass sowohl Stuhl als auch Okkupant heil bleiben. Dann wippt er abermals vor- und zurück. Der Stuhl knarrt beängstigend. Ich lächle freundlich mit zusammengebissenen Zähnen. “Den nehme ich mit”, säuselt er und springt mit einem Satz auf, schnappt den Stuhl, bedankt sich trocken und schnauft aus der Tür. Puh, gerade noch gut gegangen!
Ein anderer Beschenkter beweist sogar Galgenhumor. Nachdem Besagter sich meine zwei Küchenstühle für lau unter den Arm geklemmt hat, zwinkert er mir zu: “Na ja, da hättest du bestimmt noch was für bekommen.” Und macht sich schnurstracks vom Acker. Sehr spaßig.
Und so habe ich dank ebay-Kleinanzeigen nicht nur ein wenig Taschengeld eingeheimst und mir das ganze Rumgeschleppe gespart, sondern auch wieder Interessantes über meine Mitmenschen erfahren können.