Dzogchen und Meditation

AH_spaceWas ist Dzogchen?
von Lama Vajranatha (John M. Reynolds)

Der Dharma, die Lehren des Buddha betreffend der Natur der Wirklichkeit und der eigenen wahren Natur, wurde nach seiner Zeit niedergeschrieben und finden sich nun in drei Arten von Schriften:
1) Die Sutras repräsentieren die öffentlichen Gespräche des Buddha zu Themen der Ethik, Psychologie und Philosophie. Hinsichtlich der tatsächlichen Praxis wird das durch das dreifache Training in Sittlichkeit, Psychologie und Meditation und durch Philosophie verkörpert.
2) Die Tantras sind restriktiver und stellen die nichtöffentlichen Lehren dar, die fortgeschrittenen Praktizierenden gegeben wurden, insbesondere beziehen sie sich auf die Methoden der Energietransformation und wie sich Energie als Bewusstsein manifestiert. Hier liegt der Schwerpunkt auf der tantrischen Sadhana oder dem Vorgang der Transformation.
3) Die Upadeshas sind der vertrauliche Rat zur Meditationspraxis, die ein Meister einem Schüler gibt. Ihre Hauptangelegenheit ist der Geist, sozusagen die Natur des Geistes. In Tibet werden die Upadeshas im Großen und Ganzen durch Dzogchen und Mahamudra repräsentiert und in China und Japan durch Zen. Alle drei Systeme der Meditation stellen stufenlose Methoden für die Realisation der plötzlichen Erleuchtung dar.

In Tibet bedeutet Dzogchen die „Große Vollkommenheit“. Das wird deshalb so bezeichnet, weil es die tantrischen Transformationpraktiken des Erzeugungsprozesses (Kyerim) und des Vollendungsprozesses (Dzogrim) transzendiert. Im Dzogchen ist alles vollkommen und vollständig so wie es ist; nichts muss in etwas anderes wie im Falle des Tantra verwandelt werden. Es wird Große Vollkommenheit genannt, weil nichts fehlt (dzogpa, Vollkommenheit) und es ganz ist, mit nichts Höherem oder jenseits davon (chenpo, groß).
Grundsätzlich bezeichnet Dzogchen den Zustand der Versenkung jenseits des Geistes, sozusagen einfach in diesem Zustand sein und sich selbst darin entdecken. Wohingegen bei der Meditation der Verstand noch immer arbeitet und geistige Prozesse noch immer weiterbestehen, einschließlich des Ego, aber bei der Kontemplation befinden wir uns selbst in einem Zustand jenseits des Verstandes, wo die geistigen Vorgänge nicht mehr länger arbeiten hinsichtlich der Konditionierung des Gewahrseins. Nichtsdestotrotz ist das nicht unbewusst, weil es ein Zustand ist, wo wir völlig präsent und gewahr sind. Diese Kontemplation ist wie die Voraussetzung eines Spiegels, der die Fähigkeit, zu reflektieren hat, was immer sich davor befindet, egal ob schön oder hässlich. Aber was immer auch vom Spiegel reflektiert wird, so verändert oder modifiziert es die Natur des Spiegels nicht. Jedoch muss man ganz klar zwischen den Spiegelungen und dem Spiegel unterscheiden. Auf dieselbe Weise hat die Natur des Geistes die Fähigkeit, sich dessen gewahr zu sein, was immer erscheinen mag, dennoch verändern oder modifizieren diese Phänomene und Gedanken, ob gut oder schlecht, die im Bewusstsein erscheinen, in keiner Weise die Natur des Geistes. Daher müssen wir beim Dzogchen ganz klar zwischen dem Verstand oder den Gedankenvorgängen und der Natur des Geistes unterscheiden. Sich selbst in der Natur des Geistes zu finden und seine Fähigkeit des angeborenen Gewahrseins (Rigpa) ist etwas, was im Kontext des Dzogchen mit Kontemplation gemeint ist.
Der Praktizierende kann diesen Zustand der Kontemplation durch die Praktiken des Zen, Dzogchen und Mahamudra erreichen. Allerdings besteht Zen im Kontext des Sutra-Sytems hinsichtlich seiner Erklärungen und Quelltexte, wohingegen Dzogchen und Mahamudra aus dem Kontext des Tantra-Systems und seiner Vorgänge der Transformation herkommen. Sowohl Dzogchen, das sich auf das alte Tantra-System der Nyingmapas und Mahamudra, das sich auf das neue Tantra-System, speziell der Kagyupas, bezieht, repräsentiert den Höhepunkt des tantrischen Vorganges der Verwandlung. Jedoch können beide für sich praktiziert werden, ohne dass man zuerst den Vorgang der tantrischen Transformation durchläuft.

© deutsche Übersetzung: Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2014)


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