Dzogchen oder Meditation

Von Rangdroldorje

Meditation“ (tib., sgom) ist ein willentlicher Akt, also eine Geistestätigkeit, bei der der gewöhnliche Geist aktiv etwas macht, d.h. man kultiviert, pflegt etwas, man gewöhnt sich an etwas, was vorher so noch nicht da war. Man bemüht sich also um etwas, muss sich anstrengen, damit ein Resultat erzielt wird. Dabei stellt man sich etwas vor oder man „denkt“ sich etwas. Im Tibetischen wird das auch als „bsam“ genannt. Der tibetischen Begriff „Samten“ (tib., bsam gtan) – Konzentration – kommt davon. Man konzentriert den Geist auf etwas, das als Stütze dient, damit der umherwandernde Geist gebunden wird und die Gedankenketten (diskursives Denken, begriffliches Denken) aufhört. Irgendwann gelangt man aufgrund der Praxis zu bestimmten Einsichten und Realisationen. Soweit so gut, aber nicht im Dzogchen.

Im Dzogchen zeigt der Lehrer dem Schüler die Natur des Geistes auf, d.h. er gibt die Ermächtigung in die manifestierende Fähigkeit des ursprünglichen Gewahrseins (tib., rig pa rtsal dbang). Ohne diesen Akt funktioniert nichts im Dzogchen. Nachdem der Schüler nun die Natur seines Geistes, die frei von diskursiven Gedanken ist, frei und offen wie der Raum ist, aber dennoch eine inhärente Klarheit und Lichtheit aufweist, ein allererstes Mal erkannt hat, beginnt er sich an diese Natur des Geistes mittels Erkennen zu gewöhnen, bis er schließlich völlige Vertrautheit damit erlangt hat. Doch diese Art von Praxis nennt man nicht mehr „Meditation“, sondern „Kontemplation“. Jegliche willkürliche Geistestätigkeit, also etwas imaginieren, etwas pflegen, kultivieren, sich etwas denken und vorstellen, macht diesen natürlichen Zustand zunichte. Wenn man jetzt allerdings der Meinung ist, einfach so zu sitzen und Gedanken vorüberziehen zulassen, wär schon die Realisation, dann verfehlt man das Ziel, weil wenn die Natur des Geistes nicht gekannt wird, weht einem nur der kühle Wind um die Nase. Nur allzu leicht versteigen sich die Leute dann in den subtilen Geistesregungen und übersehen, wie ihre Projektionen anwachsen und verwechseln diese dann mit reinen Erscheinungen. Wenn Leute darin hängen bleiben, sind sie meist für den Pfad verloren, da sie ihren geistigen Mist für Buddha-Manifestationen halten.

Natürlich tauchen auch später noch immer Gedanken auf, aber die werden in ihrer Essenz erkannt. Gedankenketten entstehen so nicht, da sie sich bereits bei ihrem Entstehen wieder auflösen, so wie eine Zeichnung auf dem Wasser. Nun gut, soweit mal der Ansatz über Trekchö, wo die uranfängliche Reinheit (tib., ka dag) realisiert wird. Thögal ist eine andere, meist nachfolgend gelehrte Methode, die mit der spontanen Präsenz (tib., lhub sgrub) der Klar-Lichtheit dieser Natur des Geistes arbeitet. Nun, das ist der Ansatz über die Upadesha-Klasse (tib., man ngag sde).

Dann gibt es noch zwei andere Ansätze, 1) die Geist-Kategorie (tib., sems sde), bei der es vier Stufen der Praxis gibt, die nacheinander praktiziert werden und ähnlich den vier Stufen der Mahamudra sind; und 2) die Raumkategorie (tib., longs sde), die auch vier Stufen aufweist, die allerdings alle auf einmal praktiziert werden.

Mittlerweile ist es so, dass überwiegend die Upadesha-Kategorie gelehrt wird. Die Semde und Longde werden gegenwärtig äußerst selten unterrichtet. Recht interessante Abhandlungen finden sich bei Chogyur Lingpa in seinem Dzogchen Desum – den drei Dzogchen-Kategorien – wo er alle behandelt. Auch bei den Bön finden sich ausgezeichnete Darlegungen zu diesem Thema. Da Buddhisten und Bönpos im Dzogchen keine essentiellen Unterschiede aufweisen, sind die Darlegungen von beiden sehr inspirierend.

Und noch etwas sei angemerkt, im Dzogchen ist es vor einer Einführung in die Natur des Geistes ratsam, die verschiedenen Praktiken des Khorde Rushen (tib., ‚khor ‚das ru shan) auszuführen, um über Körper, Rede und Geist eine Trennung von Samsara und Nirvana vorzunehmen. Das sind die grundlegenden Übungen für die Upadesha-Kategorie. Wesentlich für den gesamten Pfad ist jedoch das Guru-Yoga. Ohne diese ernsthafte Hingabe an Guru, wird der zündende Funke beim Aufzeigen der Natur des Geistes nichts bewirken, und die ganze Einführung verbleibt auf einem intellektuellen Niveau.